Die Not der Geschlagenen

Von Wolf-Dieter Peter · 20.07.2011
Umberto Giordano hat auf das glänzende Libretto Luigi Illicas beste italienische Theatermusik geschrieben. "André Chenier" ist ein im Opernbetrieb unterschätztes Werk, das nun ausgerechnet in der Bregenzer Opern-Air-Aufführung überzeugte.
"In dieser ganzen Misere – was tun die Eliten?" fragt der kritisch denkende und empfindende Dichter André Chénier die ihn umgebende Aristokratie. Doch die tanzt weiter, bis der durch das Lesen aufklärerischer Bücher revolutionär gesinnte Kammerdiener Gérard hungernde Bauern hereinführt: "Seine Hoheit – das Elend!" Die Revolution ist da. Einzig die junge Comtesse Madeleine versteht das, verliebt sich in Chénier und wird vom eifersüchtigen Gérard verfolgt. Doch in der Terrorphase der Französischen Revolution geraten alle in die Fänge der blutrünstigen Revolutionstribunale. Ihre Liebe enthusiastisch feiernd, besteigen Chénier und Madeleine das Schafott.

Umberto Giordano hat auf das glänzende Libretto Luigi Illicas beste italienische Theatermusik geschrieben. Er zitiert die Marseillaise und Revolutionsmusiken wie die Carmagnole oder "Ça ira", gestaltet aber sowohl poetisch-lyrische Versunkenheit um das Liebespaar wie abgründige Machtreflexionen des zum Revolutionsführer aufgestiegenen Gérard. Ein im Opernbetrieb unterschätztes Werk, das nun ausgerechnet in der Bregenzer Opern-Air-Aufführung überzeugte: Ulf Schirmer ist der einzige Dirigent, der sich mit Akustiker Wolfgang Fritz wochenlang zusammensetzt, um das ausgeklügelte Tonsystem mit seinen 500 Lautsprechern musikdramatisch optimal zu nutzen. Das war beeindruckend zu hören – und Bariton Scott Hendricks als Gérard, Tenor Héctor Sandoval als Chénier und Norma Fantini als Madeleine konnten von schönem Piano bis in wilde Ausbrüche glänzen.

Doch die Bregenzer Seebühne bietet ja immer auch spektakuläre Inszenierungen. Regisseur Keith Warner und Bühnenbildner David Fielding haben den ermordeten Marat aus Jacques-Louis Davids berühmten Bild statt in die Badewanne nun in den Bodensee gelegt. Zwei Körperflächen Marats werden erstmals für die Projektion des deutschen Textes genutzt. Auf Marats linker Schulter dienen ein offenes Buch mit Chéniers Gedichten, rechts ein historischer Spiegel und in seiner Hand ein großes Schriftstück als Spielflächen. Marats Körper ist von vielfältigen Treppen überzogen, die Massenauftritte erlauben, aber das Geschehen auch ein wenig zu sehr zergliedern.

Und wohl aus Sorge, dass das wenig bekannte Werk nicht verstanden wird, hat Regisseur Warner Textaussagen zusätzlich bebildert oder durch ergänzende Figuren ausspielen lassen, alle üppig, aber dramaturgisch hilfreich kostümiert (Constance Hoffmann) – bis hin zu einem Sensenmann, dessen Todesdrohung die Szenen durchzieht. Prompt werden Stuntmen spektakulär zu Tode gestürzt, gehängt oder ertränkt. Einiges wirkt überdeutlich oder verdoppelt.

Doch für den mitdenkenden Zuschauer gibt es da den Satz, dass "die Revolution ihre Kinder frisst" sowie Szenen, in denen die Alten ihre Enkel als letztes Aufgebot in den Krieg schicken und Blutrichter wüten… ja, es findet sich Brandaktuelles wie die Anklage, dass da ein Land seine Dichter mordet und die sehnsuchtsvolle Utopie, "die Not der Geschlagenen und Unterdrückten zu lindern". Plötzlich wurde Giordanos gut einhundert Jahre alte Oper auch zum mahnenden Beispiel, wohin allzu große soziale Ungleichheit führen kann.

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