Weitgedehntes Weiterleiden

Von Wolf-Dieter Peter · 05.08.2010
Auf der Bregenzer Werkstattbühne blieb die Oper "Jacob’s Room" des Elektro-Pioniers Morton Subotnick unfertig. Die metaphorisch dunkle Charakterstudie wirkte nicht zukunftsweisend. Glücklicherweise hatten die Bregenzer Festspiele andere Höhepunkte zu bieten.
Ein junger Mann liegt in seinem Zimmer, Platon lesend, doch dann wie so oft Stimmen hörend. Sie erinnern ihn an schreckliche Kindheitserlebnisse. Da kamen nämlich Männer – und: "Sie brachten Finsternis". Für den kleinen Jacob aber war noch schlimmer. Vater und Großvater wurden auf Lkws weggebracht. Soldaten schossen. Die Mutter floh mit ihm, riet ihm, sich zu verstecken und still zu halten. Dann muss Jacob miterleben, wie die Mutter gefangen, gequält und in einem Moment der Stille durch einen Einzelschuss getötet wird. Ein Trauma.

Morton Subotnick lässt dazu vielgestaltige elektronische Synthesizerklänge im Surround-Sound schwirren. Aus dem schwarzen, leeren Raum der Bregenzer Werkstattbühne taucht dementsprechend auch keine reale Welt auf. Mirella Weingarten hat ins Zentrum eine quadratische, weiße 8-mal-8-Meter-Fläche gebaut: Zimmerboden, übergroßes Bett, vor allem aber irreale Ebene für die Bewusstseinsströme von Jacobs Trauma. Denn Jacobs heller Tenor wird von je einem Sopran und Mezzosopran sowie einer Bassstimme umgeben.

Sie alle sind in zunächst bronzenfarbene Kutten gekleidet – zeitlos undefiniert. Auch ihr Dasein ist nicht fixiert. Die Fläche kann nach allen Seiten kippen – ausbalanciertes Leben ist nicht möglich. Computeranimierte Lichtpixel flimmern über die Fläche. Mehrfach lösen sich projizierte Kostümkutten von den Personen und führen ein Eigenleben auf der Fläche. Zu all dem spielen aber auch mehrfach vier Celli und ein dem Cembalo angenähertes Keyboard unter Ari Meyers Leitung Minimal-Music-Phrasen zu …

Hier beginnen die Zweifel am Werk: All diese Klänge könnte Subotnick, der von elektronischer Musik fasziniert ist, auch am Computer erzeugen. Ein Gewinn durch die lebenden Musiker, gar neue Erkenntnisse über das Zusammenwirken von Mensch und Maschine stellen sich nicht ein. Die drei Stimmen um Jacob setzen vokal via Mikroport alle Verschleif- und Tonentstellungsmittel ein, ohne etwa über Laurie Andersons "Home of the Brave" der 80er Jahre hinauszuführen.

Für die Bühnenwirkung kommt hinzu, dass Subotnicks Texte zwar oftmals metaphorisch dunkel daherkommen, aber sich nie auf die Höhe von Paul Celans "Todesfuge" erheben. Wer anfangs an ein Holocaust-Trauma denkt, wird dann durch die Nennung von anderen Massenmordorten wie Nanking, Ankara, dem armenischen Der-es-Sor oder der argentinischen Plaza del Mayo an die Problematik der Relativierung des Holocausts erinnert. Musikdramatisch reizvoll wirken lediglich die Klang-Verstümmlung des Wortes "Mercy – Barmherzigkeit" und die Fortissimo-Klage aller vier Stimmen im Schlussteil.

Doch wenn Subotnick dann auch noch anfängt, die Worte des "Vaterunser" anklagend umzubiegen, dann stellt sich als Finaleindruck ein: Da überhebt sich einer in den 90 Minuten seines Opus deutlich. Im Kontext der in Bregenz zu entdeckenden Weinberg-Werke wirkt denn auch Subotnicks mehrfaches "nicht vergeben" nicht zukunftweisend.

Zentrales Verdienst der diesjährigen Bregenzer Festspiele bleibt also die Entdeckung des nach Holocaust-Flucht über Minsk und Taschkent in Moskau in der sogenannten inneren Emigration lebenden polnisch-jüdischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg (1919-1996). Das neben den Aufführungen laufende "Weinberg-Symposium" - eher nur "Salon-Gespräche" – zeigte: Die musikwissenschaftliche Erfassung, erst recht die Würdigung Weinbergs, stehen ganz am Anfang.

Doch dass da ein gewichtiger Komponist in der Bühnenwelt zu etablieren ist, machte die Sensation der ersten Festspielwoche, der junge russische Dirigent Teodor Currentzis mit seinem Ensemble MusicAeterna aus Nowosibirsk klar: große und tiefe Symphonik, farbige Ballettmusiken, alles in atemberaubenden musikalischen Gratwanderungen mit vulkanischen Gipfeln, schwermütigen Leidenstönen, abgründiger Verlorenheit in Currentzis’ elektrisierender Zeichengebung und hörbar mitgerissenem Musizieren des Ensembles – erste Jubelorkane.

Links zum Thema:
Homepage Bregenzer Festspiele 2010
Homepage des Komponisten Morton Subotnick
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