Die Macht des Gerüchts

Moderation: Matthias Hanselmann |
Gerüchte können den Lauf der Geschichte verändern. Das wissen wir spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer, als am 9. November 1989 die Falschmeldung von der sofortigen Grenzöffnung die Runde machte. Doch nur bei einem entsprechenden "Nährboden" und einer Verbreitung durch Massenmedien, so der Journalist und Buchautor Sven Felix Kellerhoff, können Gerüchte Geschichte machen.
Auszüge aus dem Gespräch:

Matthias Hanselmann: "Gerüchte machen Geschichte. Folgenreiche Falschmeldungen im 20. Jahrhundert" ist der Titel eines Buches, das vor kurzem erschienen ist. Einer der Autoren des Werkes ist der Journalist Sven-Felix Kellerhoff.
Fangen wir mal mit einem Beispiel an: Diese berühmte Szene vom 9. November 1989, wo Herr Schabowski sozusagen in Aussicht stellte, dass die Mauer sofort geöffnet würde. Was war da los, wie konnte dieses Gerücht entstehen?

Kellerhoff: Das, was Schabowski sagt, ist natürlich nicht das Gerücht, sondern das ist der Ausgangspunkt, es ist eine sachlich falsche Mitteilung aus dem SK der SED, die er ja in einer verwirrten Situation veröffentlicht hat, in der Pressekonferenz der DDR-Regierung. Das ist aufgegriffen worden von Medien, in diesem Fall von der ARD-Tagesschau, die mitgeteilt hat, dass die Grenzen geöffnet würden um 20 Uhr. Da war an den Grenzenübergängen noch gar nichts los, von Öffnung keine Spur. Und dann hat diese Meldung - die Menschen in der DDR haben natürlich alle West-Fernsehen geguckt - die Runde gemacht und immer mehr Menschen sind zu den Grenzübergängen gekommen. Im Wege der stillen Post erweiterte sich das, was Schabowski ja wirklich gesagt hatte, Reiseregelungen und sofort gültig, dazu, die Mauer sei geöffnet. Und erst dieser Druck von Menschen, die von Osten an die Grenzübergänge herangegangen sind, hat die Maueröffnung erzielt. Der Unterschied ist also, aus der Falschmeldung von Schabowski wurde durch die selbständige Verbreitung bei den Menschen tatsächlich ein Gerücht, das dann zur Maueröffnung geführt hat.

Hanselmann: Aber ich denke, Sie nehmen auch an, die Sache wäre trotzdem passiert, auch wenn vielleicht ein paar Tage oder Wochen später. Es muss ja ein Nährboden da sein, dass sich ein Gerücht in den Massen so verbreitet, dass es wirklich Wirkung zeigt.

Kellerhoff: Ja Gerüchte brauchen immer einen Nährboden. Gerüchte funktionieren nur dann, wenn es eine unsichere Situation gibt. Es können allerdings sehr unterschiedliche Arten von unsicheren Situationen sein. Es kann eine Kriegssituation sein, es kann eine revolutionäre oder prä-revolutionäre Situation sein, so würde ich den November 1989 einstufen, es kann aber auch eine Situation sein, in der eine Bevölkerung, eine Gesellschaft sehr verunsichert ist. Das ist der Fall Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre in der Bundesrepublik. Wir erinnern uns, das ist die Zeit der großen Nachrüstungsdebatten, das ist die Nachfolge der 70er Jahre, auch noch ein bisschen die Nachfolge der 68er, man war unsicher, was soll werden, und in dieser Zeit kam dann mit der Nachrüstungsdebatte und den ökologischen Horrormeldungen etwas auf, was auch so eine Endzeitstimmung war. Das finden wir bei allen erfolgreichen Gerüchten. Sie funktionieren nur in Zeiten, in denen Gesellschaften unsicher sind.

Hanselmann: Wie wichtig ist dabei der Wahrheitsgehalt eines Gerüchts?

Kellerhoff: Wir definieren … Gerüchte grundsätzlich als eine sachlich falsche Information, die sich … unabhängig von ihrem Urheber weiterentwickelt. Das heißt, nach unserem Zugriff gibt es überhaupt keine Gerüchte, die wahr sind. Es gibt andere Definitionen, die mit diesem Phänomen anders umgehen und bei denen gibt dann sozusagen wahre Gerüchte, die sich im Nachhinein als wahr herausstellen, möglich sind. Bei unserem Zugriff ist das tatsächlich nicht möglich, sonst würden wir uns … begriffliche Schärfen zerstören.

Hanselmann: Also sie haben sich mehr auf den Begriff Falschmeldungen kapriziert. … Wenn jetzt zwei gegensätzliche oder widersprüchliche Gerüchte in die Welt gesetzt werden, möglicherweise beides Falschmeldungen, was passiert dann?

Kellerhoff: Das ist eine gute Frage, das hängt dann davon ab, wie das historische und politische Umfeld ist. Es kann so funktionieren, dass solche Gerüchte von Propaganda wiederum aufgegriffen werden, verstärkt werden und dass sich ein Gerücht durchsetzt. Dann erst kann es folgenreich werden. Wenn verschiedene Gerüchte, verschiedene Erzählungen kursieren, die einander ausschließen und auch eine große Anzahl von Menschen nicht daran glaubt, dann werden sie auch keine Folgen haben. Dann werden sie nicht in den Medien auftauchen … werden dann auch nicht greifbar. Es gibt Gerüchte, Erzählungen, die durchaus unterwegs sind, aber sozusagen nicht greifbar werden für eine geschichtsjournalistische, historische Untersuchung.

Hanselmann: Sie haben mir gerade das Stichwort gegeben, nämlich Medien. Die Medien spielen ja eine enorm wichtige Rolle, können durch Falschmeldungen und Übertreibungen große Reaktionen und Bewegungen auslösen. Das ist ja auch schon reichlich geschehen. Kann sich denn heute überhaupt noch ein Gerücht ohne Medien verbreiten?

Kellerhoff: Ich will das nicht ausschließen. Aber da Informationen heute wesentlich über den Weg der Medien transportiert werden, halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass eine Erzählung in irgendeinem Medium, sei es ein Radio, sei es ein blog, sei es eine schlecht redigierte Zeigung, …, sich verbreitet.

Das gesamte Gespräch mit Sven Felix Kellerhoff können Sie für begrenzte Zeit in unserem Audio-On-Demand-Angebot nachhören.
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