Die Lilienthalstadt Anklam

Wo die Menschheit fliegen lernte

Otto-Lilienthal-Museums in Anklam
Nachbau eines historischen Fluggerätes im Otto-Lilienthal-Museum in Anklam. © picture alliance/dpa/Foto: Stefan Sauer
Von Thilo Schmidt · 04.03.2018
Ohne Anklam wäre Otto Lilienthal wohl kaum geflogen und wäre er nicht dort geboren, hätte die Stadt sicherlich auch keinen eigenen Flughafen heute. Zu Ehren des Flugpioniers hat Anklam auch ein "Otto-Lilienthal-Museum".
Ein kleines einmotoriges Flugzeug landet auf dem kleinen Anklamer Flugplatz. Der natürlich den Namen "Otto Lilienthal" im Zusatz trägt. Anklam und das Fliegen gehören zusammen, unzertrennlich zusammen.
"Hallo Albert!"
"Hallo Manne"
"So viel Ehre! Empfang vom Senior-Kapitän dieses Flugplatzes! …"
Aus der kleinen Propellermaschine, die sich langsam dem Vorfeld unterhalb des kleinen Towers genähert hat, steigt ein Fluglehrer aus Neubrandenburg mit seinem Schüler. Albert Krutzki, ein Anklamer Urgestein von 80 Jahren, nähert sich, der Blick wehmütig.
"Tag, mein Lieber"
"Manne! Lange nich jesehn"
"Geht’s dir gut?"
"Mit geht’s bestens, ich könnte jetzt mir dir ne Runde fliegen!"
Krutzki war sein ganzes Berufsleben Pilot, bis er vor zwei Jahren das Steuer endgültig aus der Hand geben musste.
Die stummen Zeugen der großen Luftfahrtepoche Anklams sind ihres eigentlichen Belanges entwidmet. In der Flugzeugwerft, in der einst die Maschinen des Agrarflugs gewartet und repariert wurden, parken jetzt Wohnwagen, Lastwagen und – immerhin – einige Privatflugzeuge.
Krutzki: "Das ist zum Beispiel der Motorsegler vom Club. Das andere sind alles Privatmaschinen. Und hier ist sozusagen unsere. Hiermit wird hier geschult, und Rundflüge gemacht, und hiermit werden Geschäftsreiseflüge gemacht …hiermit wird alles gemacht."
Autor: "Also man kann die quasi mieten? Wenn ich jetzt sag: Ich möchte schnell nach Berlin, dann krieg ich hier gegen Einwurf kleiner Münzen einen Chauffeur, der mich nach Berlin bringt?"
Krutzki: "Ja kleine Münzen, das müssen wir noch ein bisschen ausdehnen. Haha! Ja, ist möglich, kein Problem."
Auch Albert Krutzki kennt die Maschine. Hat nach seiner Zeit beim Agrarflug auf ihr junge Piloten ausgebildet, ist mit Fotografen die Küste abgeflogen, in Deutschlands Nachbarländer gereist.
Autor: "Bis wann sind Sie noch geflogen?"
Krutzki: "Mit 78 bin ich noch geflogen."
Autor: "Das war vor … zwei Jahren?"
Krutzki: "Vor zwei Jahren, ja."
Autor: "Werden Sie wehmütig, wenn sie die Maschine hier sehen?"
Krutzki: "Naja, das ist ja wohl … Reden wir nicht da drüber. Das war mein Leben …"
Es war eine glückliche Fügung, dass Krutzki nach der Wende und seiner Frühpensionierung 1993 überhaupt noch in Anklam abheben konnte. Von Anklam aus verteilten die kleinen Maschinen nach der Wende nicht mehr Dünger über den Feldern, sondern sie eröffneten Einheimischen und Touristen neue Perspektiven auf die nahegelegene Insel Usedom, das Stettiner Haff und die einmaligen Naturlandschaften, die Anklam umgeben.
Krutzki: "Das ging so … Na ja, zwei Jahre, drei Jahre, war da immer Bedarf. Also da kamen wir manchmal gar nicht aus dem Sattel. Weil wie gesagt: Weil nun die ehemaligen DDR-Bürger, die konnten ja auch endlich fliegen. Und der Tourismus, der hier zur See strömte, der hielt dann hier an – oder beziehungsweise bei der Rückfahrt, wenn noch ein par Knöpfe übriggeblieben waren, und denn haben sie ihren Urlaubsort aus der Luft noch mal betrachtet. Damit haben wir uns hier dann ne ganze Zeit beschäftigt. Und es war ganz einträglich. Die Maschine hat sich gerechnet. Aber das ging nachher auch immer zurück."
Albert Krutzki, ein Anklamer Urgestein, vor einer Propellermaschine.
Albert Krutzki, ein Anklamer Urgestein, vor einer Propellermaschine. © Deutschlandradio / Thilo Schmidt

An Bord sind noch Düngerbehälter

Wir gehen über das Vorfeld zu einer auf dem Rasen abgestellten Propellermaschine, einer Antonov-AN2 aus russischer Produktion. Ein eleganter Doppeldecker von 18 Metern Spannweite und wuchtigem Bauch, größer als die kleinen Maschinen in der ehemaligen Werfthalle.
Krutzki: "Das ist ein ausgereiftes Modell, durchaus, die Antonov. Wird ja heute noch gebaut. Die hat einen 1000-PS-Sternmotor da drin. Und hat durch das Doppeltragwerk eine ganz prima Langsamflugeigenschaft. Also man kann schon mit der Fahrt ziemlich weit runtergehen. Also die ist aerodynamisch so konstruiert, die fällt so schnell nicht vom Himmel, sagen wir immer."
4.000 Flugstunden hat Albert Krutzki auf der AN2 absolviert, einer robusten Arbeitsmaschine, der größte einmotorige Doppeldecker der Welt.
Krutzki: "Und wir haben ja auch während der ganzen Agrarflugzeit nur einen Unfall damit gehabt, mit diesem Typ. Das war in den Bergen, die war nun voll beladen, und die Piloten haben sich schlicht und einfach verschätzt. Bezogen auf Beladung und Steigung. Auch sie hat Grenzen hier, mit ihren 1000 PS."
Es wäre zu teuer geworden, zum Laden des Düngers jedes Mal zu den Flugplätzen zurückzufliegen. Die erfahrenen Piloten des Agrarflugs landeten die Maschinen deshalb auf den Äckern und Wiesen vor Ort. Im Fünf-Minuten-Rhythmus.
Krutzki: "Wir haben die Felder und den Dünger – welche Sorte und wieviel an Menge – muss darauf, und dann haben wir das berechnet, wie breit – sie hat ja ne Begrenzung, in der Streu – hier war noch so ein Streufächer unten dran montiert, da drin war ein Behälter, zeig ich Ihnen aber noch innen. Und dann haben wir das berechnet, welche Arbeitsbreite für das entsprechende Feld infrage kommt, ja und denn haben wir das meistens so durchberechnet, dass wir meistens so ein oder zwei Durchflüge auf dem Feld gemacht haben und dann ist der Kanister leer. Der Düngerbehälter. Ne?"
Wir gehen an Bord. Diese AN-2 fliegt übrigens nicht mehr, sie ist stillgelegt. Auch sie ist ein stummer Zeuge der Vergangenheit. Der Laderaum, wo früher der Behälter für zwei Tonnen Düngemittel eingebaut war, ist karg. Am grünen Blech sind lediglich zwei kleine Längssitzreihen eingebaut, auf denen zuletzt Fallschirmspringer oder Rundfluggäste Platz genommen hatten. Aber dort hält Albert Krutzki sich nicht lange auf, sondern klettert gleich nach vorne ins Cockpit.
Krutzki: "So, auch hier sitzt der Commander links …"
Autor: "Das sind zweifelsohne Sie, ich nehme mal rechts Platz …"
Krutzki: "Dann gings los hier … So, und mit diesem Sicherungs- und Hebelwerk … Haben sie nun alle dran rumgespielt … normalerweise müssten die alle aus."
Der Fluglehrer aus Neubrandenburg, Albert Krutzki, vor einer Antonov.
Der Fluglehrer aus Neubrandenburg, Albert Krutzki, vor einer Antonov. © Deutschlandradio / Thilo Schmidt
Auch wenn sie längst ihrer Funktionen beraubt sind – dass die vielen Hebel, viele davon in russischer Sprache beschriftet, nicht in der richtigen Stellung sind, sondern von Schülergruppen unsachgemäß umgelegt wurden, korrigiert Krutzki intuitiv. Das ist wohl so, wenn man 56 Jahre geflogen ist, 14.000 Flugstunden absolviert hat.
Krutzki: "Das hält man auch nur durch und kann das alles nur packen, wenn das Herz mitfliegt, sag ich immer dazu. Nur hier drin zu sitzen um zu fliegen und Geld zu verdienen, das ist nicht. So lange nicht. Wenn der Medizinmann mir nicht den Hahn zugedreht hätte, ich würde mit 90 noch fliegen, ne?"
Nach der Wende heuerte die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung Krutzki als Außendienstmitarbeiter an. Als regionalen Sachverständigen, der zusammen mit den Rettungskräften als erster vor Ort ist. Er erzählt das beiläufig, und auf Nachfrage Details preiszugeben fällt ihm schwer.
Krutzki: "Da kriegt man nicht immer was Schönes zu sehen. Überhaupt, wenn man sich mit den Leuten dann nicht mehr unterhalten kann. Das ist dann ein bisschen … ja. Ein bisschen … Wir hatten da in Neubrandenburg mal einen schweren Unfall, und die kannte ich wirklich sehr gut. Und da hab ich mich denn auch freistellen lassen. Das hab ich nicht verkraftet. Ja, aber so, das kostet auch einen Haufen Überwindung. Gesehen hatte man die ja fast alle schon irgendwo mal hier auf dem Flugplatz, aber wenn sie dann so gecrashed in einem anderen Aggregatszustand vor einem liegen, dann ist das doch ein bisschen … ja, das geht doch ein bisschen an die Nieren. Ne?"

Otto Lilienthal ist die Lebensversicherung des Flughafens

Vom Tower aus geht der Blick über das Vorfeld zur 1.200 Meter langen Landebahn. Dass Anklam mit 13.000 Einwohnern einen eigenen Flugplatz unterhält, ist schwer denkbar ohne den ersten Menschenflug und Otto Lilienthal. Schließlich haben sich schon deutlich größere Städte mit dem Versuch, einen Flugplatz haben zu wollen, entweder blamiert oder verschuldet. Oder beides. Jedenfalls: Kaum ein Regionalflugplatz rentiert sich, sondern ist auf Zuschüsse angewiesen. Das ist auch in Anklam nicht anders, sagt Anja Lehrkamp, die junge Geschäftsführerin des Flugplatzes.
Lehrkamp: "Ja, das ist wirklich so, also wir sind wirklich aus der Tradition heraus glücklich darüber, dass wir existieren, auch die Anklamer. Wir hören viel auch: Jaa, Anklam ohne Flugplatz, Otto Lilienthal, wir haben die Tradition, wir müssen den Flugplatz erhalten! Für diese Tradition muss man eben auch ein bisschen Geld ausgeben, das ist klar."
Und das ist auch in Anklam keine Frage, denn der Flugplatz, sagt die Geschäftsführerin, erfährt jede Unterstützung aus Politik und Verwaltung. Und Otto Lilienthal ist seine Lebensversicherung. 1994, lange nach dem Ende der Agrarflugzeit, erhielt der Flugplatz sogar eine feste Start- und Landebahn. Bis dahin gab es hier nur eine Graspiste, die nach zwei Tagen Regenwetter unbrauchbar wurde.
Flugzeuge bis 5,7 Tonnen dürfen hier landen. Mit Ausnahme auch bis 60 Tonnen, sagt Wolfgang Kunter, der seinen Arbeitsplatz im Tower hat, Funk und Wetter überwacht.
Kunter: "Das größte, was hier landen darf und hier schon gelandet ist, ist die Transall, mit Ausnahmegenehmigung. Und die Bundeswehr macht das sehr, sehr gern, nicht nur bei uns, auch auf anderen Plätzen, um ihren Trainingszustand, ihre Lizenzen für diese Landungen gerade auch bei Auslandseinsätzen zu trainieren und zu erhalten, ihre Lizenzen, also Landungen auf kurzen, schmalen Pisten, Bahnen, ja, die waren gestern um 10 Uhr 28 hier, sind von West nach Ost gelandet, haben hier vorne am Ende der Start- und Landebahn gewendet und sind in Richtung 2-7, in Richtung West wieder gestartet, das heißt, die waren nach vier Minuten weg …"
Autor: "Nicht mal fürn Kaffee geblieben?"
Kunter: "Nein, nein, das machen die nicht."
Auch für Wolfgang Kunter ist der Flugplatz nicht nur ein Job, sondern eine Leidenschaft. Er ist Segelflieger. Wenn er vom Anklamer Flugplatz abhebt, und über den Wiesen schwebt, bewegt er sich mit den Vögeln im selben Element. Und er weiß dann, dass Otto Lilienthal sie einst tage-, wochen-, monatelang beobachtet. Und sich von ihnen das Fliegen abgeschaut hat.
Kunter: "Das ist immer ein sehr, sehr schönes Bild für einen Segelflieger, ein Greifvogel, oder auch die Kraniche, gerade im Frühjahr, oder auch im Spätherbst, mit denen in der Thermik zu kreisen. Es ist aber Tatsache auch so, dass die kurz vor dem Flugzeug dann abdrehen. Aber wenn man so 20 bis 30 Meter einen Seeadler oder einen anderen Greifvogel vor dem Cockpit sieht, ist das immer auch ein Erlebnis. Und da spricht man dann auch mit den Sportfreunden dann danach auch am Abend drüber."

Anklam ist beinah um die Hälfte geschrumpft

Anklam, das sich offiziell "Hanse- und Lilienthalstadt" nennt, ist seit der Wende um fast die Hälfte der Einwohner geschrumpft. Es sind die bekannten Probleme der strukturschwachen Gegenden im Nordosten, die Anklam sorgen. Doch die Anklamer sind stolz auf Otto Lilienthal, der hier 1848 geboren wurde.
Bernd Lukasch, Physiker aus Berlin, ist 91 nach Anklam gekommen, um das Lilienthal-Museum aufzubauen, das er bis heute leitet. Und um festzustellen, dass Lilienthal viel mehr war als ein Flugpionier.
Lukasch: "Seit vielen Jahren versuchen wir also auch so all den Winkelzügen seines Lebens auf den Schlich zu kommen. Und: Ja, also tolle Sachen. Viel findet sich jenseits der Fliegerei. Gewinnbeteiligung für die Arbeiter seiner Maschinenfabrik. Da sind wir heute beinahe noch ein Stück entfernt, nicht? Er hat 25 Prozent des Reingewinns seiner Maschinenbaufirma hat er an seine Leute ausgezahlt. Auch von daher ist er also jemand, auf den Deutschland stolz sein kann, weil er alles das, worauf wir gerne stolz wären, Technologie, Mittelstand, Innovation, auch so ne Tellerwäscher Story, er ist ja mittellos als Halbwaise von Anklam nach Berlin gegangen. Und daraus ist immerhin ein bekannter Berliner Maschinenfabrikant geworden."
Schon als Schüler in Anklam beobachtete Lilienthal die Vögel um Anklam herum, auch die allerersten Flugexperimente soll er bereits zu dieser Zeit gemacht haben.
Lukasch: "Wenn man Lilienthal kurz vor seinem Tod gesagt hätte: Er wird mal weltberühmt, womit er denn denkt? Ich bin mir gar nicht so ganz sicher, ob er die Fliegerei genannt hätte. Weil da kommen wirklich spannende Sachen in seinem Leben vor, die jenseits der Fliegerei sind. Ist ja auch für ihn ein Leben lang ein Hobby geblieben. Also er hat zwar zum Schluss auch Fluggeräte unter dem Label 'Maschinenfabrik Otto Lilienthal' verkauft, aber von den 25 Patenten sind überhaupt nur vier, die die Fliegerei betreffen. Alles andere ist Maschinenbau."
Nebenbei war Lilienthal Schauspieldirektor und Darsteller des Berliner Ostend-Theaters und hat damit, so Lukasch, die Geschichte der Volksbühnen geprägt. Immer in der Nähe: Sein Bruder Gustav. Von den acht Geschwistern Lilienthals starben fünf im Kleinkindalter. Otto und sein Bruder Gustav tauschten untereinander Patente aus, sagt Bernd Lukasch, und auch ohne Gustav Lilienthal wäre die Welt heute um einige Erfindungen ärmer.
Lukasch: "Wenn man heute ins Kinderzimmer guckt, kann man sagen: Alles, was da an Konstruktionsspielzeug stattfindet, also Stabilbaukausten, Metabo, Lego, Fischertechnik, geht eigentlich komplett auf Lilienthalsche Patente zurück. Wenn wir heute Häuser bauen mit vorgefertigten Elementen, mit Gipskartonplatten oder mit Filigrandecken, dann ist also in der Geschichte der Vorfertigung im Bauwesen kommt also deutlich Gustav Lilienthal vor."
Ein Foto im Otto-Lilienthal-Museum
Ein Foto im Otto-Lilienthal-Museum in Anklam. Es zeigt Gustav Lilienthal, der Bruder von Otto Lilienthal, und Paul Beylich, ein enger Mitarbeiter von Otto Lilienthal, bei der Eröffnung der Otto-Lilienthal-Gedenkstätte 1932 in Berlin-Lichterfelde.© picture alliance/dpa/Foto: Stefan Sauer

Mehr als ein Museum über Fliegerei

Wir gehen in die Ausstellung. Das Lilienthal-Museum ist viel mehr als ein Museum über die Fliegerei.
Lukasch: "Das ist wahrscheinlich unser wertvollstes Stück, was wir überhaupt haben, hat gar nichts mit Fliegerei zu tun. wenn man ne alte Biographie liest, dann steht da immer: Aus der Maschinenfabrik Otto Lilienthal ist außer den paar Flugzeugen, die in der Welt erhalten sind, nichts geblieben. Und dann kann man sich unsere Überraschung vorstellen, als wir Post aus Australien bekamen und uns einer schrieb, er hat also ne Dampfmaschine, und da steht auf dem Zylinder "Otto Lilienthal 1889", ob das was mit dem berühmten Lilienthal zu tun hat. Und wir sind jetzt sehr stolz, dass wir jetzt die einzige auf der Welt erhaltene Dampfmaschine Lilienthalscher Produktion haben, in funktionstüchtigem Zustand, also: Können wir auch vorführen …"
Lukasch schließt die alte Maschine an Druckluft an. Der Pleuel bewegt sich, die Maschine ächzt im Takt.
Lukasch: "Also wir schummeln ein bisschen, wir machen das mit Pressluft und nicht mit Dampf, aber das ist der Maschine egal. Also sie sehen, wie man vor 120 Jahren so drei bis fünf PS gemacht hat. Und dann gings also mit Transmissionen durch das ganze Fabrikgebäude. Also ein Motor für alle Maschinen, und dann endete ein Lederriemen eben an jeder Bohrmaschine, Drehbank … und auch das also so ein soziales Projekt, weil Lilienthal sagte, also wenn wir also dem Handwerker, dem Mittelstand also die Möglichkeit geben wollen, konkurrenzfähig zu sein zur Großindustrie, dann müssen wir ihm die Maschinenkraft eröffnen."
An der Decke der Museumshalle hängen die in Originalgröße nachgebauten Flugapparate. Der große Doppeldecker, der kleine Flügelschlagapparat, der Südendeapparat und andere.
Lukasch: "Wir haben also die größte Sammlung, die es gibt, also Lilienthal hat ja … wir wissen es nicht mal so genau, gerade in seinem letzten Jahr, seinem Absturzjahr, sind also ein oder zwei Apparate fertig gewesen, die wir gar nicht so genau kennen. Also es gibt über zehn grundverschiedene Flugapparate, Doppeldecker darunter, zwei Motorflugzeuge darunter. Und all diese überhaupt nicht erhaltenen, die haben wir alle als Nachbauten in unserer Ausstellung."
Seine Flugübungen machte Lilienthal nicht hier, in Vorpommern. Dafür gibt es hier zu wenig Berge. Er machte sie vor allem in Berlin. 2.000 Flüge sollen es mindestens gewesen sein. Am 9. August 1896 hebt Otto Lilienthal im brandenburgischen Stölln zum letzten Mal ab.
Lukasch: "Er ist in der Zeit davor viel häufiger mit dem Doppeldecker geflogen, der aus heutiger Sicht, mit der heutigen Erkenntnis eine höhere Flugstabilität hat, und auf den war er sozusagen trainiert, wenn man so will. Und als er wieder auf den Eindecker umstieg … also wenn heute ein Pilot umsteigt, muss er ne Typenumschulung machen, nicht? … Lilienthal war sich mittlerweile seiner Fliegerei so sicher, Reporter berichten das auch, dass er gerne vor Leuten auf einem Fuß landete, um zu zeigen, dass er das also mit der gleichen Eleganz wie ein Storch kann …"

Foto im Otto-Lilienthal-Museum in Anklam
Bernd Lukasch vom Otto-Lilienthal-Museum mit einem Foto aus dem Nachlass von Paul Beylich. Mit dem Gleitflugeindecker ist Lilienthal in den Stöllener Bergen umgekommen. Das Fluggerät soll 1896 in der Köpenicker Straße in Berlin fotografiert worden sein.© picture alliance/dpa/Foto: Stefan Sauer

Lilienthal wollte hoch hinaus

Lilienthal stürzt aus 15 Metern Höhe ab. Er stirbt am folgenden Tag.
Lukasch: "Und offensichtlich hat er übersteuert, er ist in einen überzogenen Flugzustand gekommen, also Nase zu hoch, Strömungsabriss, der Flug wird zu langsam. Und da stürzt auch ein heutiges Flugzeug ab, wenn es in diesen Flugzustand kommt. Ja. Gab ja diese Untersuchung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, vor zwei Jahren, wo im Windkanal mal so ein Lilienthal-Gleiter mal auf Herz und Nieren untersucht wurde. Und da war natürlich die Frage: Warum ist er abgestürzt? Und Aussage der Physiker war: Pilotenfehler. Überzogener Flugzustand, kein Defekt des Gerätes, kein Konstruktionsfehler, sondern: Pilotenfehler."
Die Nase des Flugzeugs war zu hoch. Lilienthal wollte Höhe gewinnen, um länger in der Luft zu bleiben. So, wie es einst Ikarus wollte, der sich der Sonne zu sehr näherte. Worauf seine mit Wachs zusammengeklebten Flügel schmolzen und er abstürzte.
Lukasch: "Wir sagen immer: Die Fliegerei ist wahrscheinlich die einzige Erfindung, die auf einer uralten Kulturgeschichte beruht. Also es war ja nie Ziel der Fliegerei, schnell nach Mallorca zu kommen, sondern es war die Idee, sich zu erheben, das irdische Jammertal zu verlassen und dem Guten, dem Licht näher zu sein. Das war ja eigentlich der Urantrieb, und das passt dann auch wieder sehr gut in die Kirche, nicht? Denn man hat also aus denselben Gründen Kirchtürme gebaut, hohe, wie man fliegen wollte."
Und um Missverständnissen vorzubeugen, stellt Museumsdirektor Lukasch klar, welche Art von Fliegerei es war, die Lilienthal anstrebte.
Lukasch: "Es ist ja eine traurige Entwicklung der Geschichte, dass Lilienthal, der ja der Meinung war, das Flugzeug wäre das entscheidende Mittel zur Erlangung des ewigen Friedens, weil man nicht um Grenzen kämpfen muss, über die man frei wie ein Vogel hinwegfliegen kann – hat dazu geführt, dass seine Vaterstadt nun dem Erdboden gleichgemacht wurde und, was den hanseatischen Kern betrifft, entkernt wurde, weil hier ja eben die Arado-Flugzeugwerke waren. Und der Flugplatz ist in der Zeit entstanden, also ganz ohne Beziehung zu Lilienthal. Eher in Bezug zum zweiten Weltkrieg."

Plattenbau statt gotischer Backsteinbauten

1945 im Herbst mussten wir unser ganz in der Nähe liegendes Dorf, das in der Ueckermünder Heide am Stettiner Haff liegt, verlassen. Und meine Mutter hat den schnellsten Weg mit uns Kindern gesucht, und blieb hier, in der Nähe von Anklam hängen, weil sie immer meinte, mein Vater müsse irgendwann aus dem Krieg zurückkommen, und dem wollte sie nicht bis wer weiß wohin entfliehen, sondern sie hat ihn hier erwartet. Er kam aber nicht zurück.
Reinhard Mey:
"Und die Staatsmänner kommen und stellen sich hin,
legen Kränze nieder, reichen sich die Hand
und wagen zu sagen:
All das hat seinen Sinn,
und der Wind geht allezeit über das Land."
Kummert: "Ich habe Anklam erlebt als zehnjähriger Junge, der morgens früh um neun Uhr hier barfuß durch die Stadt gegangen ist und Maiglöckchen verkauft hat. Im Mai. Da bin ich noch überall auf Trümmern, auf Scherben barfuß auf der Straße getreten. Die noch von den Bombennächten übrig waren."
Lange hat der 81-Jährige Otto Kummert, ein Kind dieser Region, in Berlin gelebt. Kummert, der sich selbst "Kommunikationsgrafiker" nennt, hat an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee gelehrt, war künstlerischer Leiter des Progress-Filmverleihs. Dann ist er zurückgekehrt, nach Anklam.
Kummert: "Anklam ist eigentlich so eine Heimat geworden, eine Heimat, die gewachsen ist. Das ist also über Generationen gewachsen, und ich hab mich wieder zurückgezogen, da ich ja mal in Berlin meinen Beruf ernsthaft ausgeführt habe, als freiberuflicher Bildender Künstler, hab mich an dieser oder jener Stelle anstellen lassen, aber als meine Zeit heran war und das Alter näher kam, hab ich doch das große Bedürfnis gehabt, mich wieder zurückzuziehen und mich dieser Unmittelbarkeit, mit der ich eigentlich geboren und aufgewachsen bin, wieder zu nähern."
Wir stehen vor der Nikolaikirche im Zentrum der Stadt. Hier ist Otto Lilienthal getauft worden, ganz in der Nähe hat er gewohnt. Als Otto Kummert 1945 nach Anklam kommt, liegt die Stadt in Trümmern.
Kummert: "Und dieses Anklam war mal eine Stadt, die sehr alte Gebäude hatte, gotische Gebäude, sehr viele vor allem. Sichtbar auch! Der Markt .. wenn Sie an Greifswald denken und diese schönen Backsteingebäude auch sehen, die da sind, die hatte Anklam genauso! Der Marktplatz sah ähnlich aus. Das ist alles eigentlich wegbombardiert worden, und das hat man eigentlich wie so ein Wehleiden mit sich herumgetragen. Ja? Und dann hat man ganz schnell hier irgendwelche Neubauten hierher gesetzt bloß, um den Menschen Wohnraum zu geben … und das fand ich kühl und frostig. Und nicht mehr diese Lebendigkeit, die man noch kannte und erlebt hatte."
An die Stelle der gotischen Backsteinbauten traten nach dem Krieg Plattenbauten. Erst in den letzten Jahren wurden die meisten von ihnen wieder abgerissen und durch Neubauten ersetzt, die der Kubatur der alten Bebauung nachempfunden sind und so eine Ahnung der alten Hansestadt vermitteln. Für Otto Kummert war Anklam in allen Phasen präsent, auch als er beruflich in Berlin war.
Kummert: "Es war immer gegenwärtig, vor allem das, was Anklam umgibt. Ich habe später den Otto Lilienthal besser begriffen. Ich habe weiter, dann im späteren Leben, den Uwe Johnson besser begriffen."
Auch der Schriftsteller Uwe Johnson verbrachte viele Lebensjahre in Anklam. Otto Kummert sagt, dass beides zusammengehört: Stadt und Land. Und dass man das nirgendwo so wie hier spürt. Die Stadt, die alte, ehemals hanseatische backsteingotische Stadt in ihren alten Mauern, die man heute noch erahnen kann. Und das Land, dass die Mauern umgibt, reich an einzigartiger Natur, voller kleiner Wahrheiten, die Lilienthal zum Fliegen inspirierten und die Menschheit das Fliegen lehrte.
Kummert: "Otto Lilienthal hat Anklam in der Weise für sich ausgebeutet, dass er hier die Kirchwiesen kannte, die Störche hat fliegen sehen, den Seeadler, und … so weiter. Und gucken Sie sich an, die Apparate, die er entwickelt hat! Der 13-Meter-Apparat, zum Beispiel. Ein tolles Objekt, wenn ich das sehe, sehe ich auch diesen gestalterischen Gesichtspunkt in diesem Apparat. Die Geräte, die der Lilienthal entwickelt hat, waren immer auch, wie soll ich sagen: Gebrauch und Schönheit in einem! Und das ist hier Letzen Endes entstanden. Durch seine Erlebnisse mit den Vögeln. Das Absehen dessen, was praktisch die Vögel vermögen. Und er meint, als Mensch müsse man, wenn man sich die entsprechenden Möglichkeiten schafft, auch fliegen können!"

Kein "Bitte nicht berühren"-Museum

Die Ruine der Nikolaikirche, vor der wir stehen, war Wind und Wetter ein halbes Jahrhundert ausgesetzt. Erst in den Neunzigern wurde die Kirche instandgesetzt – auf Betreiben engagierter Bürger. Die Geschichte ihrer Zerstörung 1945 ist ein weiteres tragisches Kapitel der Stadt. Museumsdirektor Bernd Lukasch.
Lukasch: "Und, ja, makabrer weise, am ersten Friedenstag in Anklam, wenn man so will, die Stadt war am 29. April russisch besetzt, und die zurückflutende Wehrmacht hat also dann vom anderen Peeneufer dann die Stadt beschossen und die Nikolaikirche, die bis dahin noch wie durch ein Wunder in der Trümmerwüste noch unversehrt – nicht unversehrt, aber von der Silhouette her noch unversehrt war, das Mauerwerk und der Turm standen noch – und der ist dann also in Brand geschossen worden und der brennende Turm ist durch das Kirchenschiff gefallen."
Die Kirche, deren Mauerwerk stabilisiert und deren Dach erneuert wurde, ist einer der letzten Zeugen der Backsteingotik Anklams. Das Lilienthal-Museum hat hier Flugapparate ausgestellt, die für das Museumsgebäude viel zu groß sind. Und es gibt große Pläne für die Nikolaikirche: Die Stadt möchte hier das "Ikareum" errichten, ein Museum über Otto Lilienthal und den Menschenflug. Ein Erlebensort soll entstehen, kein "Bitte nicht berühren"-Museum.
Lukasch: "Ja, es wird hoffentlich, so sind unsere Planungen, eine gelungene Kombination von einer attraktiven Sehenswürdigkeit, die es lohnend macht, über die anderen Dinge, die es noch gibt, Anklam zu besuchen und einer würdigen Wallfahrtsstätte für das internationale Publikum, was ja durchaus auch zu uns kommt. Denn so einen Namen muss man erstmal haben, der wirklich in der ganzen Welt bekannt ist. Man kann sagen: Heute fliegt kein Flugzeug in der Luft, was sich nicht bewusst ist, dass es also auf die Leistungen dieses Mannes zurückgeht."
Wir gehen in die Kirche. Im riesigen Kirchenschiff hängen Flugapparate, stehen Schautafeln. 20 Millionen soll der Umbau zum Ikareum kosten. Wir stehen vor einem Modell.
Lukasch: "Da sieht man schon so diese Elemente, also diesen abenteuerlichen Aufstieg, den es also in die Turmspitze, ins Schwalbennest geben soll, hier war noch die Uridee Möglichkeit, mit dem angeflanschten Drachen vom Turm zu fliegen, die ja noch ein bisschen in den Sternen steht, ob das mal ein Event wird. Ja, und wenn man hier rein schaut, das ist ja ein Entwurf des Museums noch. Also da hat noch gar kein solider Architekt draufgeguckt. Aber hier sieht man eben auch schon die Kronenebene in ihrer Größe und ihrer Begehbarkeit, und da drüber habe ich eben noch sehr viel Platz, um so einen Flying Circus zu organisieren, ohne dass damit sozusagen die Würde des Museums verlorengeht. Also dass ich auch haptisch ein Gefühl dafür kriege, was das eigentlich heißt, sich nicht in einen Flieger zu setzen, wo ich weiß, in den Nachrichten hören kann, dass der immer ankommt, nicht, sondern dass ich sage: Das hat noch nie vor mir einer gemacht und ich spring jetzt hier vom Berg."
Autor: "Also man soll fliegen können, hier, in der Kirche?"
Lukasch: "Naja, so ein bisschen. Man soll klettern, und man soll mal gucken, und soll wissen, wie es sich anfühlt, wenn man nach unten guckt durch einen gläsernen Boden, und so weiter, nicht?"
Der Turm, der wieder aufgebaut werden soll, wird die alte Höhe von 103 Metern haben. Wer hier hoch geht, vielleicht über Glasböden, vielleicht im Freien, der wird nicht nur einen Hauch Ahnung haben, warum Lilienthal in die Lüfte fliegen wollte, sondern wird einen weiten Blick haben auf das, was Anklam umgibt, den Naturpark Peenetal und das Stettiner Haff bis zur Insel Usedom.
Lukasch: "Ein aktueller Entwurf, wie also der Kirchturm aussehen könnte, da wird eine andere Besonderheit aufgenommen, weil der Kirchturm hatte nämlich, wir können das auf den historischen Bildern sehen, eine Besonderheit, nämlich eine gedrehte Spitze. Also die Geschichte, die dazugehört in Anklam: Dass der Teufel also sich sehr geärgert hat über diesen hohen Kirchturm und wutentbrannt angefasst hat und rumgedreht hat. Und diese Besonderheit wollen die Architekten gerne aufnehmen mit dieser modernen, aber wieder gedrehten Turmspitze, mit dem man also nachts auch schön auf die Stadt hinweisen kann – und in der man also bis oben auf circa 83 Meter und wirklich diesen fantastischen freien Blick über das weite Urstromtal, über den Naturpark Peenetal nen Blick hat."

Ein Bayer in Anklam

Diwan, ein schöner, aber recht alter Hund, kommt schon zur Begrüßung aus dem Haus gelaufen. In Bugewitz, ein paar Kilometer vor Anklam, wohnt Günther Hoffmann, graue, lange Haare, Hut, meist Wanderschuhe tragend, mit seiner Familie.
Günther Hoffmann mit seinem Hund Diwan.
Günther Hoffmann mit seinem Hund Diwan. © Deutschlandradio / Thilo Schmidt
Hoffmann: "Na ich bin geboren in Oberbayern, in Garmisch-Patenkirchen, ich hab allerdings Bayern mit 20 den Rücken gekehrt, weil ich war schon immer ein etwas freigeistiger Mensch und böse Münder behaupteten ja in den Siebzigern, Bayern wäre ein freiheitlich verfasstes Bundesland, in dem man totalitäre Erfahrungen machen kann, und so hab ich das damals in dieser Zeit auch etwas empfunden und hab also frühzeitig diesem Land den Rücken gekehrt. Hab dann zwanzig Jahre in Westberlin gewohnt, bevor ich dann also diese Gegend hier entdeckt hab und hab mich dann mit meiner Familie Mitte der neunziger Jahre dann entschieden, hier raus zu ziehen."
Autor: "Ist das auch Eure Katze?"
Hoffmann: "Ja ... das ist die Kleine."
Autor: "Willste rein?"
Hoffmann: "Nee, die kommt jetzt nicht rein, wenn du da stehst, als fremder Mann mit Kopfhörern auf dem Kopf. Das ist unsere imperialistische Katze. Die sich gegen den massiven Widerstand von Diwan, Fritz und mir sich hier ein Zugangsrecht zum Haus erkämpft hat."
Autor: "Die ist quasi zugelaufen?"
Hoffmann: "Ja. Und da wurden dann von Seiten meiner Frau her alle Register der weiblichen Hinterlist gezogen."
Autor: "Hier ist was los, ne!"
Seitdem wohnen sie hier: Günther, seine Familie, der Hund Diwan und die zwei Katzen. Zuvor hatte er Freunde besucht, die hierher gezogen waren. Günther hat sich auf der Stelle in das kleine Dorf verliebt.
Hoffmann: "Also ich kann es jetzt ganz konkret nicht benennen. Also es ist tatsächlich etwas zutiefst emotionales. Ich bin hier hergekommen und es hat mich einfach angerührt. Also sowohl die Landschaft, aber auch wie ich die Leute hier kennengelernt hab. Also irgendwie hat mich dieses Gesamtensemble hier soweit bewegt, dass dann drei Jahre später der Entschluss gefallen ist, hier raus zu ziehen."
Seinen eigentlichen Plan, mit Baustoffen für Allergiker zu handeln, hatte er schnell geändert. Nach dem ihm andere, größere Probleme dieser Region auffielen.
Hoffmann: "Also ich hab über 15 Jahre intensivst Beratungstätigkeiten, Recherchetätigkeiten zum Thema Rechtsextremismus gemacht. Das kann man tatsächlich nur machen, wenn es einem das wert ist. Und das heißt also, man muss einen großen, tiefen Bezug einmal zu der Landschaft, aber auch zu den darin lebenden Menschen haben."

Hoffmann ist hier nicht mehr wegzudenken

Trotzdem macht man sich damit nicht überall beliebt. Günther, von dem man sagt, er wisse mehr über rechtsextreme Strukturen in Vorpommern als der Verfassungsschutz, ist qua Amt manchem unbequem. Trotzdem ist er hier nicht mehr wegzudenken, ist Kamerad bei der Freiwilligen Feuerwehr, Gemeinderatsmitglied und wäre vor Jahren beinahe, es fehlten nur wenige Stimmen, zum Bürgermeister von Bugewitz gewählt worden. In den letzten Jahren hat er sich mehr und mehr mit der großartigen Natur vor seiner Haustür beschäftigt. Und die Rechten mehr und mehr links liegen gelassen. Es ist vor allem die Renaturierung des Naturparks Peenetal, die ihn anrührt. Die er von Anfang an miterlebt hat
Hoffmann: "Sowas in dieser Größenordnung wird in Deutschland nie wieder passieren – und das miterleben zu dürfen, wie sich also eine geschundene Kulturlandschaft wieder in einen natürlichen Lebensraum zurückverwandelt seh ich für mich als ein ganz großes Privileg. Und mir kommt eigentlich fast täglich der Gedanke, wenn ich draußen bin, was für ein persönliches Glück es eigentlich ist, das in dieser Form miterleben zu dürfen. Es sind nicht viele Leute, die tatsächlich die Möglichkeit haben, offenen Auges sowas zu erleben, was wir hier gerade erleben dürfen."
Wir gehen durch das Anklamer Stadtbruch. Ein großer Flachwassersee, dahinter eine Landzunge. Noch weiter hinten: Das Stettiner Haff. Trauerseeschwalben fliegen waghalsige Manöver.
Hoffmann: "… wir hatten in Mecklenburg-Vorpommern in den 90er Jahren am Tollensesee noch sechs Brutpaare, die dort auf künstlichen Brutfloßen auch während der Brutzeit rund um die Uhr bewacht wurden, den Restbestand darstellten. Und inzwischen haben sich hier im Peenetal – ich müsst‘ jetzt lügen, aber ich glaub im letzten Jahr waren’s 450 Brutpaare die hier waren, mit einer sehr guten Reproduktionsrate. Und das hat zur Folge, das von diesem Gebiet hier andere von der Trauerseeschwalbe besiedelt werden."
Günther Hoffmann schaut von einem kleinen Aussichtsturm durch sein Fernglas auf die Flachwasserseen und die Landzunge dahinter. Hinter der Landzunge liegt das Stettiner Haff, links der Peenestrom. Auf der Landzunge ein Gespensterwald, absterbende Bäume ragen in den Himmel, sie fallen nach und nach um. Das früher eingedeichte und durch Schöpfwerke trockengehaltene Gebiet verwandelt sich wieder in seinen Urzustand.
Hoffmann: "Die Maßnahme selbst, dieses Gebiet hier zu vernässen, sollte eigentlich erst um die Jahrtausendwende stattfinden. Dann kam aber der 4. November 1995 mit einer Sturmflut, wo vorne am Stettiner Haff zwei Deiche gebrochen sind, und dieses gesamte Gebiet, so wie wir das jetzt sehen hier, überflutet haben bis an die Ortslagen Bugewitz und Rosenhagen. Und die Planer und Umsetzer dieses Naturschutzgroßprojektes haben damals gesagt: Ach, dann machen wir aus der Not doch ne Tugend und nehmen das als vorweggenommene Vernässungsmaßnahme."
Wir gehen über einen Damm zwischen den Flachwasserseen. Einst fuhren Autos über diesen Plattenweg, jetzt steht er teilweise knietief unter Wasser.
Hoffmann: "Wir gehen jetzt die alte Gemeindestraße, die das Dorf Kamp mit der Hauptgemeinde Bugewitz verbunden hat, entlang, dann mit der Flut vom 4. November 1995 auch praktisch nicht mehr befahrbar war, und die jetzt in Teilen das Gebiet für einen Wanderweg mit erschließt."
Autor: "Und deswegen auch die Gummistiefel hier …"
Hoffmann: "Deswegen die Gummistiefel, weil die in manchen Teilstücken, man hört es jetzt vielleicht auch, soweit abgesackt ist, dass sie gut die Hälfte des Jahres unter Wasser steht."

Wiesen, Biberburgen und Schmetterlinge

Das Anklamer Stadtbruch gehört der Stadt Anklam schon Jahrhunderte. Jahrhunderte, in denen man der Landschaft einen Nutzen abgerungen hat. Torf wurde gestochen, Holz geschlagen, auf den trockengelegten Wiesen weidete das Vieh. Nun holt sich die Natur das Land zurück, es haben sich Arten angesiedelt, die man hier lange nicht gesehen hatte, hier gibt es Schmetterlinge, die in ganz Deutschland sonst nirgendwo mehr vorkommen.
Autor: "Was ist da?"
Hoffmann: "Ne Biberburg."
Autor: "Ach! Das ist ne Biberburg?
Hoffmann: "Stadtmensch! Das ist eine stattliche Biberburg, ja."
Autor: "Da wohnen die drin?"
Hoffmann: "Da wohnen die drin. Da schlafen sie jetzt."
Auch hier beobachtete Lilienthal die Vögel. Die Kraniche, die Seeadler. Auch die waren beinahe ausgestorben. Jetzt gibt es nirgends so viele Seeadler wie hier.
Hoffmann: "Und das Anklamer Stadtbruch hat die höchste Seeadlerdichte in ganz Mitteleuropa. Wir haben aktuell hier zwölf brütende Paare auf 14 Quadratkilometern. Normalerweise sagt man: Brutrevier-Größe fünf Quadratkilometer, dann dürften hier maximal drei Adler vorkommen … insgesamt sind hier glaube ich 18 Horste zu finden. Es kommen doch sehr, sehr viele Leute hierher mit dem dezidierten Wunsch, mal einen Seeadler zu sehen."
"Die Macht des Verstandes, o, wend' sie nur an, sie wird auch im Fluge Dich tragen", sagte Otto Lilienthal 1889.
Kummert: "Wie seine Ideen, und das, was er praktisch auch an Worten hinterlassen hat, eigentlich in der Welt so etwas entscheidendes war. Dann hätte man das Fliegen nicht erlernt, wo wären wir heute!"
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