Die Kanzlerin als Romanfigur

Was fühlt Angela Merkel?

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Hände zur Raute aneinandergelegt
Angela Merkel mit ihrer bekanntesten Geste. Doch was geht in ihrem Kopf und ihrer Gefühlswelt vor? © picture alliance /dpa /Michael Kappeler
Konstantin Richter im Gespräch mit Ute Welty · 08.04.2017
Was ging im Herbst 2015, als sehr viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, in Angela Merkel vor? Konstantin Richter versucht mit seinem Roman "Die Kanzlerin. Eine Fiktion", die Gefühlswelt der Kanzlerin zu ergründen. Das "Unerklärliche" habe ihn gereizt, sagt der Journalist und Autor.
Was spielte sich im Kopf der Kanzlerin während der Zeit ab, die häufig als "Flüchtlingskrise" bezeichnet wird? Gibt es eine emotionale Wahrheit? Mit seinem Roman "Die Kanzlerin. Eine Fiktion" hat der Autor und Politikjournalist Konstantin Richter eine Innensicht auf die Gefühlswelt von Angela Merkel während dieser Zeit vorgelegt. Der Roman schildert als fiktives Tagebuch das Leben Angela Merkels in der Zeit vom Sommer 2015 bis Sommer 2016. Jeweils eine Vorstellung der Oper "Tristan und Isolde" bei den Bayreuther Festspielen bildet den Rahmen und zeichnet ein Bild der späten Ära Merkel.
"Ich fand Angela Merkel als Figur immer schon reizvoll, weil es diesen Kontrast gibt zwischen öffentlichem Auftritt und Innenleben, das man vermutet", sagte Richter im Deutschlandradio Kultur über sein Motiv, dieses Buch zu schreiben.

"Irgendetwas Unerklärliches ist für mich dageblieben"

Die Spekulation über Merkels Beweggründe für die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge im Spätsommer 2015 sei fast schon eine Art Genre geworden: "Da kommt man aber mit journalistischen Mitteln nicht weiter, weil sie nicht darüber spricht. Und deswegen habe ich die Literatur gewählt", sagte der Romanautor und Politikjournalist: Sein Roman ziele auf Leser, die sich sagen: "Man weiß schon recht viel, was in dieser Zeit geschehen ist, das ist dokumentiert, aber irgendwas Unerklärliches ist für mich doch dageblieben."
Sein schriftstellerisches Interesse an der Innenwelt der Kanzlerin begründet Richter auch mit Merkels Auftritten in der Öffentlichkeit: "Ihre Mimik entgleitet ihr und sie scheint mehr zu denken, als sie sagt." Der literarische Zugang eigne sich, um Emotionen in der Politik zu thematisieren, die in der täglichen Berichterstattung oft ausgeklammert sei. Gereizt habe ihn die Frage, wie sich rationale Argumente, aber auch Emotionen in einer Entscheidung vermengen. Seinen Roman versteht Richter auch als Rekonstruktion der sogenannten Flüchtlingskrise als prägendes Ereignis von Merkels Kanzlerschaft: "Dieser dramatische Spätsommer, der eignete sich einfach dafür", erklärte Richter.

Emotionen in der Politik thematisieren

Merkel als mittlerweile schon "ikonische Figur" in der Politik und die Differenz zu der Staatschefin, die in der Flüchtlingskrise die deutschen Grenzen offenließ und den Deutschen ihr "Wir schaffen das" verkündete, lassen Richter eine emotionale Wandlung vermuten: "Ich wollte versuchen zu beschreiben, wie sich verschiedene Dinge vermengen. Da war einerseits der Besuch in Heidenau, wo sie sehr angefeindet wurde, das war wohl sehr einflussreich. Und ich hatte das Gefühl, dass diese Wir-schaffen-das-Rede, dass das eine derartig ungewöhnliche Rede war; so etwas von einem westlichen Regierungschef: zu sagen, wir schaffen das, wenn viele Leute zu uns kommen, und in gewisser Weise können wir auch stolz darauf sein, dass Leute zu uns wollen, das ist schon etwas ganz Besonderes."
Merkel sei andererseits durch Ungarn auch unter Zugzwang gesetzt worden. "Es sind sicherlich auch viele Dinge geschehen, die sie auch nicht beeinflussen konnte. Das heißt: Emotionales und Rationales haben sich in einer sehr spannenden Weise vermischt."
In die Vorbereitung seines Romans sei zwar viel Wissen aus Biografien und der Berichterstattung eingeflossen, ab einem gewissen Moment habe er aber dann auf die literarische Eigenständigkeit gesetzt: "Es war es mir wichtig, mit angelsächsischer Leichtigkeit und Ironie über ein ernstes Thema zu schreiben. Das wollte ich auch einmal im Deutschen probieren."

Konstantin Richter: "Die Kanzlerin: Eine Fiktion"
Kein & Aber Verlag, Zürich 2017
176 Seiten, 18 Euro

Zur Person: Konstantin Richter, geboren 1971, studierte in Edinburgh und New York, hat für deutsch- und englischsprachige Medien unter anderem über Angela Merkel und die Flüchtlingskrise geschrieben und ist Contributing Writer für das US-Nachrichtenportal Politico. Im Jahr 2011 gewann er den Deutschen Reporterpreis für eine Reportage in der Zeit. Richter ist Autor der Bücher "Bettermann"(2007) und "Kafka war jung und brauchte das Geld. Eine rasante Kulturgeschichte für Vielbeschäftigte"(2011). Er lebt in Berlin.


Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Die Kanzlerin hatte sich vorgenommen, die ruhigeren Passagen von "Tristan und Isolde" zu nutzen, um über ein paar Dinge nachzudenken. Im ersten Aufzug über die Griechenland-Hilfe, im zweiten über die Asylbewerber und im dritten Aufzug über das Abkommen von Minsk. – So ungefähr beginnt der neue Roman "Die Kanzlerin", der sich mit der Innenwelt von Angela Merkel beschäftigt, ein Stück Fiktion über reale Politik als schriftstellerische Herausforderung. Und dieser Herausforderung hat sich Konstantin Richter gestellt, guten Morgen!
Konstantin Richter: Guten Morgen!
Welty: Auf den ersten Blick ist das ja ein ziemlich absurdes Szenario, das Sie da entwerfen: Der Liebestod von Isolde als Kulisse für Merkels Entscheidung, in diesem Herbst noch einmal anzutreten. Trotz aller Kritik an ihr und vor allem an ihrer Flüchtlingspolitik – und dazu liefert eben Wagner den passenden Soundtrack –, was hat Sie veranlasst, genau dieses Setting zu wählen?

"Bayreuth, der Grüne Hügel ist einfach ein sehr schönes Setting"

Richter: Das Buch spielt ja in diesem Spätsommer 2015 und da gibt es mehrere Ereignisse, die inzwischen schon fast berühmt geworden sind. Die Begegnung mit dem Flüchtlingsmädchen in Rostock, dann auch die Entscheidung am 4./5. September, die Rede bei der Sommerpressekonferenz, "Wir schaffen das!". Und ich wollte für den Einstieg etwas nehmen, das zwar in dieser Zeit spielt, aber nicht genau das trifft, was man sowieso schon weiß, denn es ist ja auch ein Roman. Dieses Bayreuth, der Grüne Hügel ist einfach ein sehr schönes Setting. Dazu kommt noch, dass sie im Sommer 2015 "Tristan und Isolde" gesehen hat und dann im Sommer 2016 noch einmal da war. Also, da war so ein Rahmen gegeben, den ich dann genommen habe.
Welty: Inwieweit war auch der Wunsch Vater des Gedankens, etwas zu erklären, was viele schon versucht haben zu erklären, nämlich wie Merkels Flüchtlingspolitik zustande gekommen ist?

"Was hat sie eigentlich angetrieben?"

Richter: Ja, das war natürlich der Wunsch. Die Kanzlerin ist ja in den langen Jahren ihrer Kanzlerschaft zu einer fast ikonischen Figur geworden, aber immer ein bisschen rätselhaft geblieben. Viele Leute haben sich immer gefragt, was denkt die eigentlich. Zum Beispiel wenn sie irgendwo sitzt und Dinge sagt, die eigentlich nichtssagend sind, aber ihre Mimik entgleitet ihr und sie scheint mehr zu denken, als sie eigentlich sagt. Und dann kam die Flüchtlingskrise und da hat sich diese Frage dann noch mal verschärft. Also, die Leute haben sich gefragt, was hat sie eigentlich angetrieben? Harald Martenstein hat in einer Kolumne mal geschrieben, dass die Spekulation, was sie bewogen hat, dass das fast schon zu einer Art Genre geworden ist. Da kommt man aber mit journalistischen Mitteln nicht weiter, weil sie ja nicht darüber spricht. Und deswegen habe ich die Literatur gewählt.
Welty: Was kann denn der Schriftsteller Richter schreiben, was der Journalist Richter nicht schreiben kann? Sie sind ja auch als Reporter für das "Wall Street Journal" unterwegs gewesen, für "Cambodia Daily", wurden mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet. Also, das hat ja auch eine Geschichte.
Richter: Also, zunächst mal, ich bin kein Insider. Ich bin nicht täglich im Bundestag oder im Kanzleramt, um darüber zu berichten.
Welty: Wären Sie es gerne gewesen?

Emotionen in der Politik thematisieren

Richter: Nein, ich fand die Literatur ein wunderbares Medium dafür. Weil es eine Geschichte ist, in der man Emotionen in der Politik thematisieren kann. Und das ist etwas, was in der täglichen Berichterstattung oft ausgeklammert ist. Die Frage also: Wie vermengen sich rationale Argumente, aber auch Emotionen in einer Entscheidung? Das ist etwas, was ja in diesen Fernsehserien "House of Cards" oder "Borgen" eine ganz starke Rolle spielt. Dieser dramatische Spätsommer eignete sich einfach dafür.
Welty: Wenn wir mal zusammenfassen, was Ihrer Meinung nach im Kopf der Kanzlerin passiert ist in dieser Zeit, die Sie sich vorgenommen haben, gibt es da so den einen Satz, der das beschreibt?
Richter: Ich wollte gerade das nicht, ich wollte versuchen zu beschreiben, wie sich verschiedene Dinge vermengen. Da war einerseits Heidenau und der Besuch in Heidenau, wo sie so angefeindet wurde, das war wohl sehr einflussreich und ich hatte das Gefühl, dass diese "Wir schaffen das!"- Rede, dass das eine derartig ungewöhnliche Rede war, so etwas von einem westlichen Regierungschef zu sagen, wir schaffen das, wenn viele Leute zu uns kommen, und in gewisser Weise können wir auch stolz darauf sein, dass Leute zu uns wollen, das ist schon was ganz Besonderes. Andererseits ist sie dann von den Ungarn auch unter Zugzwang gesetzt worden und es sind sicherlich auch viele Dinge geschehen, die sie überhaupt nicht beeinflussen konnte. Das heißt, Emotionales und Rationales haben sich glaube ich in einer sehr spannenden Weise vermischt.
Welty: Allem Anfang wohnt ja bekanntlich ein Zauber inne, aber auch viel Recherche. Wie haben Sie sich der Figur Merkel angenähert, als Sie angefangen haben, für dieses Buch zu arbeiten?
Richter: Ich habe in den Sommerferien im letzten Jahr sehr, sehr viele Biografien gelesen und natürlich die Berichterstattung. Aber ab einem gewissen Moment wollte ich dann auch gar nicht mehr lesen, weil ich durchaus wollte, dass das als Literatur auch eine Eigenständigkeit hat und nicht zur politischen Berichterstattung wird.
Welty: Wissen Sie, ob Merkel Ihr Buch kennt oder jemand aus Merkels Umfeld?
Richter: Ich hatte irgendwo in dem Buch auch geschrieben, dass sie die Merkel-Biografien mit Interesse liest und immer wieder auch etwas Neues über sich erfährt, insofern hoffe ich, dass das bei meinem Buch auch so ist.
Welty: Wen haben Sie überhaupt als Leser, als Leserin im Kopf, wen wünschen Sie sich?

Angelsächsische Leichtigkeit und Ironie

Richter: Zunächst mal war es mir wichtig, mit, sagen wir, angelsächsischer Leichtigkeit und Ironie über ein ernstes Thema zu schreiben, weil ich finde, dass es das im Deutschen nicht so viel gibt. Ich habe ja zehn Jahre lang auf Englisch geschrieben auch und kenne diese Art zu schreiben sehr, und das wollte ich auch mal in Deutschland probieren. Aber ich hatte schon auch, sagen wir, eine Leserschaft im Auge, die sich eben für die Frage, was Merkel in dieser Zeit angetrieben hat, interessiert, Leute, die sagen, ja, man weiß schon recht viel, was in dieser Zeit passiert ist, aber irgendwas Unerklärliches ist für mich doch dageblieben.
Welty: Was ist denn für Sie das Unerklärliche von Angela Merkel?
Richter: Ich fand Angela Merkel als Figur immer schon reizvoll, weil es diesen Kontrast zwischen öffentlichem Auftritt und Innenleben, das man vermutet, gibt. Aber es ist letztlich so ein bisschen wie Max Frischs "Homo Faber", wo eine sehr, sehr rationale Figur dargestellt wird, wo Dinge passieren, die sie mit diesen Mitteln nicht erfassen kann. Und das hat mich gereizt und das ist vielleicht auch das Unerklärte, was ist rational und was nicht.
Welty: Wo es im Inneren dann doch brodelt.
Richter: Genau.
Welty: Konstantin Richter zu Besuch in "Studio 9", er hat einen Roman über die Kanzlerin geschrieben, der so heißt wie die Kanzlerin, nämlich "Die Kanzlerin", erschienen bei Kein & Aber, und die rund 170 Seiten gibt es für 18 Euro. Das Gespräch über das Buch haben wir aufgezeichnet, danke!
Richter: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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