Die indische Göttin Sita

Ideale Ehefrau im Patriarchat

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Eine Künstlerin, die Sita spielt, schminkt sich und bereitet sich auf eine Aufführung in Deu Delhi vor.
Die Göttin Sita gilt vielen Hindus noch heute als das Ideal der duldsamen Ehefrau - hier bereitet sich eine Künstlerin auf einen Auftritt als Sita vor. © imago images / Hindustan Times / Ajay Aggarwal
Von Raghavendra Verma und Antje Stiebitz |
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Die Göttin Sita prägt seit Jahrhunderten die Vorstellung von der perfekten indischen Ehefrau: tapfer, geduldig, fügsam. Ihr Göttergatte Ram ist Hindu-Nationalisten sehr wichtig – und das von Sita verkörperte Frauenbild passt ihnen gut ins Konzept.
"Traditionell werden Ram und Sita als das ideale Ehepaar verstanden. Sie geben sich einander völlig hin. Zwei Menschen, die aneinander glauben." So sieht die indische Schriftstellerin Malashri Lal das populäre indische Götterpaar von Sita und Ram.
Die Sozialwissenschaftlerin Ranjani Kumari kritisiert das alte Epos über das ungleiche Paar aus feministischer Sicht: "Die Beziehung von Ram und Sita war für Sita ein Verhältnis der Unterordnung. Wir wissen inzwischen, dass das Modell von Sita und Ram nur existiert, um den indischen Frauen das Patriarchat aufzubürden."
Solche kritischen Töne sind nichts für den Priester Pandit Sameer Upadhyay. Er steht in einem Ram-Tempel im Stadtteil Mayur Vihar in Neu-Delhi. Der in ein langes Hemd gekleidete Priester schwenkt eine Ölflamme vor den Götterstatuen von Sita und Ram. Das ist Teil der täglichen Aarti im Tempel, eine Art Andacht.

Der Mythos ist tief verankert

Wie hier in Delhi gibt es im Land unzählige Tempel und Schreine, in denen Sita und Ram verehrt werden. Ihr Mythos ist tief im gesellschaftlichen Bewusstsein Indiens verankert. Die Geschichte stammt aus dem Nationalepos Ramayana, das zwischen dem 5. und 3. Jahrhundert vor Christus entstanden ist.
Da die Geschichte jahrhundertelang mündlich überliefert wurde, gibt es verschiedene Versionen. Eins aber ist für Priester Pandit Sameer Upadhyay klar: "Wer behauptet, dass Sita Unrecht getan wurde, kennt die Schriften nicht. Sita geschah kein Unrecht. Sita und Ram kamen auf die Welt, um den Menschen zu zeigen, dass sie ein ebenso großes Opfer bringen sollten wie Sita."
Das sehen nicht alle so: Die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Malashri Lal ist Mitherausgeberin der 2009 in Indien erschienenen Essay-Sammlung "Auf der Suche nach Sita". Beim Ramayana, erklärt sie, handele es sich um den klassischen Kampf zwischen Gut und Böse: "Ram ist der gute König und gilt ebenfalls als idealer Mann."

Ram befreit die verschleppte Sita – und prüft ihre "Reinheit"

Die eigentliche Geschichte geht so: Ram ist der Erbe des Königreichs von Ayodhya. Doch wegen eines Erbstreits muss er für 14 Jahre ins Exil gehen. Seine Frau Sita und sein Bruder Lakshman begleiten ihn in die Wildnis. Eine Reihe fataler Ereignisse führen dazu, dass der Dämonenkönig Ravan Sita nach Sri Lanka verschleppt. Ram und seine Gefährten – darunter der affenköpfige Hanuman – beginnen einen Krieg mit Ravan und befreien Sita.
Doch für Sita ist die Zeit der Prüfungen noch nicht vorbei. Da sie dem Dämonenkönig ausgeliefert war, zweifelt Ram ihre Reinheit an, erklärt Malashri Lal: "Also sagt Sita: Ich weiß, dass ich eine enthaltsame Frau bin und werde es mit Hilfe des Feuergotts beweisen. Lege einen Ring aus Feuer um mich, wenn ich nicht brenne, beweist das meine Reinheit." Sita besteht den Test.

Folgenschwere Entscheidung

Malashri Lal möchte in Sita keine unterwürfige, ihrem Mann ergebene Frau sehen: "Es gibt eine starke Sita, die an kritischen Punkten der Geschichte ihre eigenen Entscheidungen fällt."
Beispielsweise entscheidet Sita, Ram ins Exil zu begleiten. Und sie selbst besteht darauf, durch die Feuerprobe ihre Reinheit zu beweisen. Auch Jahre später wird sie eine folgenschwere Entscheidung treffen: Weil ihre Reinheit durch Klatsch und Tratsch im Königreich abermals in Frage gestellt wird, verbannt Ram sie alleine in den Wald – nicht wissend, dass sie Zwillinge von ihm erwartet. Als er Jahre später von seinen Kindern erfährt, möchte er Sita zurück ins Königreich holen. Doch Sita lehnt ab.
Malashri Lal erklärt Rams Verhalten mit seinen widersprüchlichen Rollen als Ehemann und König. Die Zweifel an Sita, so die Literaturwissenschaftlerin, stammen nicht von Ram, sondern von seinen Untergebenen. Verdeutlicht das Ramayana, dass gesellschaftliche Moral wichtiger ist als persönliches Glück? Malashri Lal antwortet: "Als König und als öffentliche Führungsfigur muss man für das Volk oft persönliche Opfer bringen."

Vorbild für weibliche Hingabe

Der Priester Pandit Sameer Upadhyay im Ram-Tempel von Neu-Delhi singt. Die Gläubigen kommen, um sich den Segen der Götter zu holen. Er gibt ihnen gesegnete Opferspeisen und erklärt:
"Ram war die Inkarnation von Gott Vishnu, dem höchsten Gott. Und Sita war die Inkarnation der Göttin Lakshmi. Die ganze Welt kennt den Charakter Sitas, aber keiner kann es ihr gleichtun. Das ist sehr schwer. Sie hat die Form eines Menschen angenommen, um den Menschen zu zeigen, wie sie ihr Leben führen sollten."
Neben dem Priester steht die 40-jährige Hema Bharghav. Sie findet: "Was wir von Sita lernen können, ist ihre Hingabe an ihren Ehemann und ihre Familie. Diese Eigenschaft können wir zweifellos von ihr übernehmen."

Ein Film stellt den Mythos in Frage

Aber wäre es nicht auch denkbar, dass Sita ihre Demütigung in Frage stellt? Eine Antwort darauf sucht der indische Film "Schande" aus dem Jahr 2001: Eine der Heldinnen des Films spielt in einem Theaterstück die Rolle der Sita. Angesichts der Feuerprobe regt sich ihr Widerstand und sie hält sich nicht an das Skript.
Aufgefordert ins Feuer zu gehen, antwortet Sita, dass sie nichts beweisen müsse. Schon gar nicht einem Mann, der ihr nicht vertraut. Schließlich seien sie beide voneinander getrennt gewesen und deshalb sollten sie sich auch beide der Feuerprobe unterziehen. Im Publikum rumort es. Unsinn! rufen sie. Eine Beleidigung der Religion!

Passt ins Weltbild der Hindu-Nationalisten

Ranjana Kumari, Direktorin des Centre of Social Research, einer indischen Denkfabrik zu Genderfragen, meint dazu: "Selbstverständlich würden Hindu-Nationalisten so etwas nicht tolerieren, da sie Sita als Vorbild für indische Frauen betrachten. Sita ist eine Frau, die kapituliert hat. Sie wird in Frage gestellt, gefoltert und alleine gelassen. Ihr Leben besteht aus Tränen."
Im Epos wendet sich Sita von Ram mit den Worten ab, dass sie ihre Pflicht als Ehefrau und Mutter erfüllt habe. Und bittet die Erde darum, sie aufzunehmen. Diese öffnet sich und verschluckt Sita für immer.
Ranjana Kumari sagt, was Hindu-Nationalisten und Ram vereine, sei deren patriarchale Weltsicht. Als Premier Narendra Modi im August den Grundstein des umstrittenen Ram-Tempels in Ayodhya legte, übertrug der Fernsehsender Doordarshan seine Rede. Sie zeigt, wie wichtig Gott Ram für die hindu-nationalistische Regierungspartei BJP ist. So sagte Modi: "Es lebe Gott Ram und Mutter Sita. Dieser laute Ruf wird heute nicht nur in der Stadt von Ram und Sita gehört, sondern auf der ganzen Welt."

Keine Frau soll ihre Rechte einfordern

Der Bau des Ram-Tempels, auf den Ruinen einer in den 1990ern zerstörten Moschee, gilt als Affront gegen die muslimische Minderheit Indiens. Nicht nur ihr weist die Politik der Hindu-Nationalisten eine untergeordnete Rolle zu, sondern auch Frauen. Ranjana Kumari sagt: "Sie wollen untergeordnete Frauen. Sie wollen nicht in Frage gestellt werden. Und sie wollen nicht, dass Frauen ihre Rechte einfordern. Sie betrachten Frauen nicht als gleichwertig."
Ranjana Kumari argumentiert, dass Ram seine göttliche Macht für gesellschaftlichen Wandel hätte einsetzen können – wenn er Sita öffentlich Respekt gezollt hätte: "Aber er wollte sich lieber danach richten, was die Gesellschaft von Frauen denkt. Auf diese Weise bereitet er indischen Frauen bis heute Kummer."
Ram ist nach der Erzählung des Ramayana auf die Welt gekommen, um ein Königreich zu führen, nicht um seine Frau glücklich zu machen. Und die von der Erde verschlungene Sita ist bis heute wirkmächtig – als eine Frau, die es zunächst allen Recht macht. Am Ende aber entzieht sie sich enttäuscht dieser Welt.
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