Die Gleichheit aller hört beim Arztbesuch auf
Die Journalistin Sybille Herbert hat Ärzten und Krankenkassenangestellten bei ihrer Arbeit über die Schulter geschaut und hat dabei gelernt: Nicht jeder Patient in Deutschland erhält heute noch die optimale Behandlung. Alte, chronisch Kranke oder Sozialhilfeempfänger fallen durch das Raster einer kühler Kosten-Nutzen-Kalkulation. Die Zweiklassenmedizin ist längst Wirklichkeit, so ihr ernüchterndes Fazit.
Frau Weber leidet seit vielen Jahren an einer Polyarthritis, einer schmerzhaften rheumatischen Erkrankung der Gelenke. Einfachste Bewegungen fallen ihr schwer. Treppensteigen, eine Flasche aufdrehen, ein Brot schmieren - alles kaum möglich. Neueste Rheumamittel, so genannte Biologika, könnten der Patientin helfen, die Entzündungen würden zurückgehen. Doch diese Medikamente sind sehr teuer. Pro Jahr kostet eine Biologika-Behandlung an die 20.000 Euro. Die Standarttherapie mit Cortison hingegen schlägt nur mit 200 Euro zu Buche. Was also tun? Der behandelnde Arzt steht vor einer schweren Entscheidung - und er beschließt: Frau Weber erhält die Biologika nicht.
Warum? Sie ist Kassenpatientin, sie ist stark übergewichtig, hat mehrmals ihre Arzttermine unentschuldigt sausen lassen und sie ist Sozialhilfeempfängerin. Sprich: die Kosten für die Gemeinschaft wären zu hoch und der Nutzen von Frau Weber ist zu gering!
Willkommen im deutschen Gesundheitssystem, wo Medizin in erster Linie ein Geschäft ist und Patienten, die alt, chronisch krank oder sozial schlecht gestellt sind, zu den Verlierern gehören. Vor allem dann, wenn sie Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung sind.
Dabei ist der Fall von Frau Weber längst nicht der einzige, den Sibylle Herbert in ihrem aufrüttelnden Buch "Diagnose: unbezahlbar" dokumentiert. Da ist die 79-jährige Frau Krämer, die einen fortschreitenden Lungenkrebs hat und die mit einem neuen Krebsmedikament ein Jahr länger überleben könnte, würde die Kasse die Übernahme der Kosten nicht ablehnen. Schließlich ist die Patientin zu alt, wer hätte etwas von ihrem Überleben?
Oder da ist Herr Drews. Er leidet an einer seltenen Erbkrankheit, sitzt im Rollstuhl und leidet unter schweren chronischen Schmerzen und Krämpfen: Cannabis in medikamentöser Form würde ihm helfen. Aber auch hier verweigert die Kasse die Kostenübernahme. Ähnliches erleben Patienten, wenn es um Vorsorgeuntersuchungen, um Krankengymnastik oder um die Anschaffung von Hilfsmitteln wie Badewannen- oder Treppenliften geht. Wer nicht privat versichert ist, hat hier oft das Nachsehen.
Denn Tatsache ist: das deutsche Krankensystem ist an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gelangt. Ursachen dafür sind auf der einen Seite willkommene, aber extrem teure Fortschritte in der Medizin und auf der anderen Seite eine zunehmend alternde Gesellschaft. Diese zwei Extreme lassen die Schere zwischen dem medizinisch Sinnvollen und dem ökonomisch Machbaren immer weiter auseinander gehen. Auch davon erzählt das Buch.
Das ist zunächst nicht neu und könnte schnell langweilen, aber die Autorin fesselt durch ihre Herangehensweise. Denn wie schon in ihrem ersten Buch "Überleben Glücksache" reicht es der Journalistin Herbert auch diesmal nicht, allein die Defizite aufzuzeigen, sondern sie sucht auch nach Antworten. Ausführlich lässt sie deshalb eine niedergelassene Hausärztin, einen Rheumatologen und den Leiter einer Krankenkassengeschäftsstelle zu Wort kommen. Unter Zusicherung ihrer Anonymität legen die drei offen, was sie denken, wie sie fühlen und wo sie ihre Grenzen sehen.
Aus erster Hand erfährt der Leser so: auch Ärzte und Krankenkassenvertreter fühlen sich von den Anforderungen des deutschen Gesundheitssystems überfordert. Limitiert durch Leitlinien, Budgetierung und Basisfallwert werden sie - unfreiwillig - zum Vollstrecker unpopulärer und ethisch hoch umstrittener Entscheidungen. Und genau darin liegt der gesellschaftliche Zündstoff dieses Buches, denn es macht deutlich, dass schon heute Ärzte täglich entscheiden, wem welche Leistung gewährt oder versagt werden soll.
Gesundheit für alle, das war gestern! Denn das Recht auf Gesundheit, das allen uneingeschränkt zur Verfügung stehen sollte, gilt längst schon nicht mehr. Auch wenn Politiker gerne das Gegenteil behaupten.
Sibylle Herbert bricht mit "Diagnose: unbezahlbar" ein Tabu: sie legt den Finger auf eine Wunde, die uns alle angeht. Denn wer, wenn nicht jeder einzelne Bürger, muss entscheiden, was eine Gesellschaft leisten soll und kann? Wollen wir wirklich den Alten, Kranken und Schwachen den Zugang zur Gesundheit verweigern? Und wenn nicht, wie sollen und wollen wir in Zeiten leerer Kassen diesen Ausverkauf der Humanität verhindern? Genau diese Fragen zu stellen, machen das Buch von Sibylle Herbert so wertvoll. Prädikat: Besonders lesenwert!
Rezensiert von Kim Kindermann
Sibylle Herbert: "Diagnose: unbezahlbar". Aus der Praxis der Zweiklassenmedizin
Kiepenheuer&Witsch, Köln 2006
294 Seiten, gebunden, 18,90 Euro
Warum? Sie ist Kassenpatientin, sie ist stark übergewichtig, hat mehrmals ihre Arzttermine unentschuldigt sausen lassen und sie ist Sozialhilfeempfängerin. Sprich: die Kosten für die Gemeinschaft wären zu hoch und der Nutzen von Frau Weber ist zu gering!
Willkommen im deutschen Gesundheitssystem, wo Medizin in erster Linie ein Geschäft ist und Patienten, die alt, chronisch krank oder sozial schlecht gestellt sind, zu den Verlierern gehören. Vor allem dann, wenn sie Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung sind.
Dabei ist der Fall von Frau Weber längst nicht der einzige, den Sibylle Herbert in ihrem aufrüttelnden Buch "Diagnose: unbezahlbar" dokumentiert. Da ist die 79-jährige Frau Krämer, die einen fortschreitenden Lungenkrebs hat und die mit einem neuen Krebsmedikament ein Jahr länger überleben könnte, würde die Kasse die Übernahme der Kosten nicht ablehnen. Schließlich ist die Patientin zu alt, wer hätte etwas von ihrem Überleben?
Oder da ist Herr Drews. Er leidet an einer seltenen Erbkrankheit, sitzt im Rollstuhl und leidet unter schweren chronischen Schmerzen und Krämpfen: Cannabis in medikamentöser Form würde ihm helfen. Aber auch hier verweigert die Kasse die Kostenübernahme. Ähnliches erleben Patienten, wenn es um Vorsorgeuntersuchungen, um Krankengymnastik oder um die Anschaffung von Hilfsmitteln wie Badewannen- oder Treppenliften geht. Wer nicht privat versichert ist, hat hier oft das Nachsehen.
Denn Tatsache ist: das deutsche Krankensystem ist an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gelangt. Ursachen dafür sind auf der einen Seite willkommene, aber extrem teure Fortschritte in der Medizin und auf der anderen Seite eine zunehmend alternde Gesellschaft. Diese zwei Extreme lassen die Schere zwischen dem medizinisch Sinnvollen und dem ökonomisch Machbaren immer weiter auseinander gehen. Auch davon erzählt das Buch.
Das ist zunächst nicht neu und könnte schnell langweilen, aber die Autorin fesselt durch ihre Herangehensweise. Denn wie schon in ihrem ersten Buch "Überleben Glücksache" reicht es der Journalistin Herbert auch diesmal nicht, allein die Defizite aufzuzeigen, sondern sie sucht auch nach Antworten. Ausführlich lässt sie deshalb eine niedergelassene Hausärztin, einen Rheumatologen und den Leiter einer Krankenkassengeschäftsstelle zu Wort kommen. Unter Zusicherung ihrer Anonymität legen die drei offen, was sie denken, wie sie fühlen und wo sie ihre Grenzen sehen.
Aus erster Hand erfährt der Leser so: auch Ärzte und Krankenkassenvertreter fühlen sich von den Anforderungen des deutschen Gesundheitssystems überfordert. Limitiert durch Leitlinien, Budgetierung und Basisfallwert werden sie - unfreiwillig - zum Vollstrecker unpopulärer und ethisch hoch umstrittener Entscheidungen. Und genau darin liegt der gesellschaftliche Zündstoff dieses Buches, denn es macht deutlich, dass schon heute Ärzte täglich entscheiden, wem welche Leistung gewährt oder versagt werden soll.
Gesundheit für alle, das war gestern! Denn das Recht auf Gesundheit, das allen uneingeschränkt zur Verfügung stehen sollte, gilt längst schon nicht mehr. Auch wenn Politiker gerne das Gegenteil behaupten.
Sibylle Herbert bricht mit "Diagnose: unbezahlbar" ein Tabu: sie legt den Finger auf eine Wunde, die uns alle angeht. Denn wer, wenn nicht jeder einzelne Bürger, muss entscheiden, was eine Gesellschaft leisten soll und kann? Wollen wir wirklich den Alten, Kranken und Schwachen den Zugang zur Gesundheit verweigern? Und wenn nicht, wie sollen und wollen wir in Zeiten leerer Kassen diesen Ausverkauf der Humanität verhindern? Genau diese Fragen zu stellen, machen das Buch von Sibylle Herbert so wertvoll. Prädikat: Besonders lesenwert!
Rezensiert von Kim Kindermann
Sibylle Herbert: "Diagnose: unbezahlbar". Aus der Praxis der Zweiklassenmedizin
Kiepenheuer&Witsch, Köln 2006
294 Seiten, gebunden, 18,90 Euro