"Medizinische Versorgung wird zum sozialen Sprengsatz"

Moderation: Jürgen König |
Die Journalistin Sybille Herbert fordert von der Politik mehr Ehrlichkeit in Bezug auf das Gesundheitssystem. Es sei verlogen, zu behaupten, jede medizinische Leistung könne bezahlt werden. In der Realität müssten Ärzte anhand eines geringen Budgets über Behandlungen entscheiden, so dass beispielsweise viele Therapien bei gesetzlich Versicherten nicht durchgeführt werden.
König: "Wenn du gesetzlich versichert bist, musst du frührer sterben", schreibt Sybille Herbert in ihrem Buch "Diagnose unbezahlbar". Guten Morgen, Frau Herbert!

Herbert: Guten Morgen.

König: Sie sind politische Journalistin und Patientin. Privat versichert oder in der Gesetzlichen?

Herbert: Ich bin gesetzlich versichert.

König: Sie sind tollkühn.

Herbert: Ja, das stimmt.

König: Zu welcher Klasse zählen Sie sich also? Zur zweiten Klasse.

Herbert: Na ja, ich bin ja der Auffassung, es gibt fünf Klassen. Die erste Klasse, das habe ich bei meiner Recherche, bei meinem Ausflug in den ärztlichen Alltag gelernt, die erste Klasse sind die Ärzte und alle ihre Angehörigen, dafür tut man eben alles. Die zweite Klasse sind die echten unverfälschten Privatpatienten, wo keine Beihilfe mitredet. Der Patient erhält alles sozusagen, Chefarztbehandlung, Medikamente, Diagnostik, Therapien bevorzugt und manchmal sogar zu viel von allem. Und jetzt kommt die dritte Klasse, zu der ich mich inzwischen zähle. Das sind diejenigen, die entweder persönliche Beziehungen zu Ärzten oder Funktionären haben oder kämpfen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, kämpfen. Die vierte Klasse sind dann die Beamten, bei denen eben auch die Beihilfe mitspricht und deshalb auch manchmal Rechnungen in Frage gestellt werden. Und die fünfte Klasse, das sind diejenigen, die 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen, das sind nämlich die ganz normalen Kassenpatienten, die gar nicht wählen können und zwangsweise in der gesetzlichen Krankenversicherung sind.

König: Ihr Buch, Frau Herbert, ist eine Sozialreportage aus der Welt der Medizin. Sie haben eine niedergelassene Hausärztin im Rheinland aufgesucht sowie den Leiter einer Krankenkassengeschäftsstelle. Beiden haben Sie Anonymität zugesichert, und dafür erzählen nun beide ziemlich freimütig über ihre Arbeit. Schildern Sie uns doch einige Beispiele der Zwei-Klassen-Medizin. Wie lange muss zum Beispiel ein Privatpatient auf eine Operation warten, wie lange ein Kassenpatient?

Herbert: Das geht manchmal ganz zügig. Also, das kennen wir letztendlich auch alle. Das waren die Sachen, die mich wenig überrascht haben, als ich in diesen ärztlichen Alltag hinab gestiegen bin sozusagen aus der politischen Metaebene, über die ja ständig berichtet wird. Ich bin natürlich gestoßen auf diese Wartelisten, die Sie gerade genannt haben. In dem Buch ist es zum Beispiel so, dass die Arzthelferin anruft in einer Praxis - sie ist selber gesetzlich versichert - und über starke Schmerzen klagt. Sie bekommt in drei Monaten einen Termin. Die andere Arzthelferin ruft ebenfalls an, hat die gleichen Schmerzen, wird gefragt, wie geht es ihnen, das ist aber gefährlich, sie müssen bald kommen und kriegt den Termin zwei Tage später. Das kennen wir.

Wir kennen auch: Husten, Schnupfen, Heiserkeit zahlt nicht mehr die Kasse. Das sind übrigens, kann man sagen, Kinkerlitzchen. Aber bei den Privatversicherten wird das doch in der Regel, vor allen Dingen bei denen der zweiten Klasse, der unverfälschten Privatpatienten, eben weiter gezahlt. Das kann man alles irgendwie noch wegpacken und sagen, komm, das ist irgendwie nicht so wichtig. Aber es geht dann teilweise eben auch richtig an das Eingemachte.

Zum Beispiel bei Rheumapatienten ist es so, dass es früher sehr billige Therapien gab - ich habe auch einen Facharzt, also auch noch eine dritte Hauptperson in dem Buch, aufgesucht - und da gab es früher sehr billige Therapien, so Größenordnungen 600 Euro im Jahr. Heute kosten die bei schweren Erkrankungen 20.000 Euro. Dann überlegt der Arzt natürlich schon, wem kann ich das geben, und wem kann ich das nicht geben. Ich war schon dabei, wie er im Kopf entschieden hat, diese Patientin bekommt diese Therapie nicht, und eine andere bekam sie eben. Er hat seine Kriterien angelegt.

Vielleicht noch ein letztes dramatisches Beispiel: Medizinische Versorgung wird dann zum sozialen Sprengsatz, wenn beispielsweise ein 50-jähriger Privatversicherter Krebskranker eine teure Chemotherapie ohne Probleme bekommt und ein gleichaltriger, gleich erkrankter Kassenpatient nicht. Das ist sozialer Sprengsatz, und ich denke, dem muss man sich zuwenden.

König: Lassen Sie uns eine kurze - sozusagen als Einschub - über die Machart des Buches sprechen. Sie haben im wesentlichen zwei Kronzeugen befragt. Wie repräsentativ sind die?

Herbert: Ich glaube, in diesem Gesundheitswesen ist alles repräsentativ und nichts. Man muss das alles immer sehr differenziert betrachten. Jede Praxis ist anders. Ich habe eine Praxis gesucht, wo die Ärztin nicht standespolitisch aktiv ist. Ich wollte unbedingt eine Frau haben. Ich wollte auch jemanden haben, der ein sehr breites Spektrum abdeckt, also ins Altenheim geht, es geht auch um die Versorgung in Altenheimen. Ich wollte bei der Notärztlichen Versorgung am Wochenende mit dabei sein. Zufällig macht diese Ärztin auch noch Naturheilverfahren. Also das war so ein Bündel, das natürlich einen großen Teil dann auch abdeckt. Jede Arztpraxis ist anders, aber ich glaube, und das wurde mir inzwischen auch von Standesvertretern zugesichert, die mir sagten, das trifft den Alltag in der medizinischen Versorgung schon doch sehr typisch.

König: Ich habe auch gerade am Wochenende über eine Studie des wissenschaftlichen Institutes der AOK gelesen, die zu genau dem gleichen Ergebnis kommt wie Sie.

Herbert: Man fragt sich nur, warum politisch darüber noch nicht diskutiert wird.

König: Das will ich auch fragen, aber ganz am Schluss dieses Gesprächs. So habe ich mir das gedacht. Ich möchte erst über die Ärzte noch sprechen. Sie haben das vorhin schon angedeutet, es können Ärzte längst nicht mehr allen Patienten das geben, was sie für richtig halten. Nein, sie müssen immer wieder neu entscheiden, wem sie eine medizinische Leistung in welcher Art auch immer zusprechen und wem nicht. Nach welchen Kriterien entscheiden das die Ärzte und wie gehen sie mit dieser, wie ich mir vorstellen kann, völlig neuen Situation überhaupt um, entscheiden zu müssen? Vielleicht nicht immer über Leben und Tod, aber doch sind es ja gravierende Entscheidungen.

Herbert: Na ja, also erst mal muss man sagen, dass es in der Medizin immer schon Entscheidungen von Ärzten gegeben hat. Das ist die so genannte Triage, die früher auf den Schlachtfeldern stattgefunden hat - kommt auch im Buch vor. Da haben die Ärzte natürlich entschieden, wer wird überhaupt ins Lazarett geschafft, bei wem lohnt sich das.

Aber jetzt zur Situation heute. Es gibt ganz verschiedene Formen. Natürlich ist es so, dass der Arzt erstmal ein Budget hat. Das heißt, er muss entscheiden, kann ich das überhaupt noch verordnen. Die Patienten denken immer, wenn Sie dem Arzt gegenübersitzen, es geht um heilen und helfen. Stimmt, geht es auch, und manchmal kriegt man ja auch das, was man braucht. Aber im Kopf steckt immer die Frage, kann ich mir das noch leisten - also beim Arzt, wohl bemerkt. Das heißt, die Monetik entscheidet über die Ethik. Das ist der eine Punkt.

Der zweite Punkt ist, ich gebe Ihnen mal ein konkretes Beispiel: In dem Buch gibt es eine Patientin, die hat vor 30 Jahren einen schweren Unfall gehabt und die Lymphbahnen in den Beinen sind zerstört. Die Frau arbeitet noch voll, aber es ist medizinisch - das ist wichtig - medizinisch absolut klar, sie braucht Lymphdrainagen. Das ist also medizinisch wichtig und zweckmäßig und auch wirtschaftlich. Das ist für Sozialrechtler ein wichtiger Satz. Die Frau braucht also diese Lymphdrainage und stößt jetzt an die Grenzen. Die Ärztin erklärt ihr, sie hat nur 6,10 Euro pro Patient und Quartal für alle Heilmittel zur Verfügung, also Lymphdrainage, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und so weiter. Frau Hoffmann, das ist diese Frau, kostet aber 480 Euro im Quartal. Das heißt, die Ärztin darf 80 Patienten nichts, aber auch gar nichts verschreiben, damit Frau Hoffmann ihre Therapie erhalten kann.

Und das zeigt natürlich, warum bei bestimmten Situationen, zum Beispiel wenn alte Menschen eine neue Hüfte bekommen, sie noch nicht einmal das unter Umständen erhalten, was sie bräuchten, weil der Arzt einfach immer im Kopf hat, hallo, ich habe so und so viele mit Hüftschaden und Lymphdrainage und Schlaganfall und, und, und. Ich komme über das Budget rüber und dann werde ich persönlich verantwortlich.

König: Hier im Studio sitzen alle kopfschüttelnd aus Fassungslosigkeit über das, was Sie sagen. Was sagt der Kassenmensch dazu?

Herbert: Der sagt, das ist so.

König: Da muss man aber auch rheinischen Humor haben um so…

Herbert: Nee, nee, der sagt, man muss einfach sehen, es geht nicht um die menschliche Frage, es geht auch nicht um die medizinische Frage, sondern es geht um die Frage, können wir das noch bezahlen. Und er sagt ganz klar, die Politik ist absolut verlogen. Es ist ein Trugschluss wenn man sagt, es kann doch alles bezahlt werden, was medizinisch notwendig, wirtschaftlich und zweckmäßig ist. Er sagt auch, wir müssen dem Patienten inzwischen sagen, das ist im Budget nicht mehr drin, das tut uns leid, das können wir nicht mehr zahlen. Und er fordert eigentlich eine Ehrlichkeit ein, weil er sagt, der Patient wird immer hin und her geschoben. Der Arzt sagt, ich kann es nicht mehr bezahlen, müssen sie die Kasse fragen, die Kasse sagt, wenn der Arzt das sagt, dann kann das schon bezahlt werden, drückt sich also wiederum um diese Entscheidung, dass das Budget eben begrenzt ist.

König: Über bevorstehende eklatante Unterschiede in der Versorgung nicht zu sprechen ist doch grob verantwortungslos. Und jetzt kommen wir mal auf die Politik: Warum schenkt niemand den Patienten reinen Wein ein?

Herbert: Möchten Sie den Menschen sagen als Politiker, dass nicht mehr alles bezahlt werden kann?

König: Letztendlich ja, wenn ich zu der Auffassung gekommen bin, dass es gesagt werden muss.

Herbert: Es gab Politiker, zum Beispiel Herr Missfelder von der CDU, der das vor drei Jahren mal gesagt hat und viel Prügel dafür eingesteckt hat. Ich denke, auf kurz oder lang wird es keine Wahl mehr geben. Bei der demographischen Entwicklung, bei der Kostenexplosion, bei dem medizinischen Fortschritt werden wir irgendwann darüber entscheiden müssen, was alle bekommen, oder was sie nicht bekommen. Wir müssen über Rationierung diskutieren und wir müssen vor allen Dingen auch diskutieren - das ist mir ein wichtiges Anliegen - ob es sein kann, dass ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung, also etwa zehn Prozent, sich verabschieden aus der solidarischen Finanzierung, ob wir also bestimmten Menschen in dieser Gesellschaft eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine gute Versorgung zubilligen als anderen.

König: Die Gesundheitsreform toleriert die bestehende Zwei-Klassen-Medizin.

Herbert: Ja, da kann man die private Krankenversicherung eigentlich nur beglückwünschen, die hat eine gute Politik gemacht. Da wird zwar in kleinen bestimmten Teilen etwas verändert, also die PKV muss nun auch einen Basistarif einführen und sie muss arbeitslos gewordene Selbständige, die früher bei ihnen versichert waren, wieder versichern. Aber generell kann man sagen, sie werden weiter geschützt wie das Weltkulturerbe und an dieser grundsätzlichen Frage, wollen wir, dass es Unterschiede gibt und man sich einfach verabschieden kann aus einem solidarischen System, wo die anderen ja nicht gehen können. Das muss man einfach noch mal sagen. Die gesetzlich Versicherten unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze können nicht entscheiden. Sie müssen da drin bleiben. Das halte ich eigentlich nicht mehr für zeitgemäß.

König: Medizin ist in erster Linie ein Geschäft. Ein Gespräch mit der Journalistin Sybille Herbert. Ihr Buch "Diagnose: unbezahlbar. Aus der Praxis der Zweiklassenmedizin" ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, hat 294 Seiten und kostet 18,90 Euro. Frau Herbert, vielen Dank und bleiben Sie gesund.

Herbert: Ja danke, Sie auch.