Die Geschichte von Jascha
Nicht die Reichen und Schönen stehen im Zentrum von Inge Kloepfers Buch "Aufstand der Unterschicht", sondern die Verlierer und Ausgegrenzten. Einer von ihnen ist Jascha. Anhand seiner Biografie beschreibt die Wirtschaftsjournalistin deutsche Missstände und hat eine ihrer Ursachen ausgemacht: Die Mittel- und Oberschichten hätten immer davon profitiert, dass auch Systemverlierer produziert würden.
Der Aufstand ist nur eine Fiktion. Inge Kloepfer stellt ihn sich erst im Sommer 2020 vor. Jascha, mittlerweile 31 Jahre, ist sozial weiter abgestiegen, sitzt als Bettler in der Münchner Innenstadt, wo die Reichen und Schönen einkaufen gehen. Doch an diesem Nachmittag laufen sie Spießruten. Die Atmosphäre ist aggressiv aufgeladen. Die Armen der Stadt haben dort, wo sie nicht erwünscht sind, ihren Protest angekündigt.
Kloepfer: "Aufstand ist für mich eher symbolisch. Es könnte einen geben - in welcher Form auch immer. Aufstand steht auch für eine Art von sozialer Desorganisation, von einem sich Auflehnen gegen das Establishment. Und sei es allein durch ein sinkendes Unrechtsbewusstsein, dass die Leute in die Villengegenden gehen und sich nehmen, was sie meinen, dass es ihnen zustünde."
Und zu diesen Leuten gehört, wenn er viel Glück hat, Jascha. Der 19-Jährige könnte es schaffen, den Schulabschluss nachzuholen, einen Job zu finden, vielleicht gar einen Ausbildungsplatz. Seine Freundin hat den Ehrgeiz für ihn. Doch Inge Kloepfer zweifelt, ob er durchhält.
"Es ist eine real existierende Person, über die ich harte Urteile fälle in dem Buch. Er steht für mich für einen Teil einer Generation, die chancenlos ist. Und deshalb sind natürlich bestimmte charakteristische Merkmale auch verändert, um die Person zu schützen."
Sie will ihm, mit dem sie so häufig im Internet-Cafe sprach, nicht noch mehr schaden. Er habe ja nie eine faire Chance gehabt - nicht in der Familie, die nunmehr in dritter Generation von Sozialhilfe lebt, nicht durch die Mutter, der nach und nach fünf Kinder entglitten, nicht in Heimen und Schulen, wo ihn Erzieher wie Lehrer jedes Mal als unverbesserlichen Störenfried aufgegeben haben, und schon gar nicht auf der Straße, wo er aufgewachsen ist und von den Ritualen jugendlicher Gewalt geprägt wurde.
"Wenn Sie die Geschichte von Jascha verfolgen, dann wird man erkennen können, dass er ein Höchstmaß an Energie, Disziplin und Durchsetzungsvermögen braucht, um in seinem Umfeld zu überleben, nicht unterzugehen, nicht zum Opfer zu werden. Der systematische Fehler liegt einfach nur darin, dass wir diese Energie nicht nutzen, dass aus diesem Jungen etwas wird, was unseren gesellschaftlichen Konventionen entspricht und was ihm letztendlich Chancen bietet."
So aber sondern ihn seine Überlebenstechniken aus. Kindern und Jugendlichen wie Jascha werde Armut vererbt, auch weil Bildung sie nicht erreicht und Talente nicht gefördert werden.
" … und das ist einfach moralisch nicht zu rechtfertigen, ethisch völlig verwerflich und ökonomisch eine Katastrophe."
Und das auf zweifache Weise, rechnet die Wirtschaftsjournalistin vor. Zum einen verfehlten die enormen Sozialausgaben ihr politisches Ziel, Wege aus der Armut zu finanzieren. Zum anderen gefährdeten die Fehler der Bildungspolitik die Innovationskraft des Landes. Denn rund ein Fünftel der Schüler eines jeden Jahrganges schaffen keinen Abschluss - ob bereits in der Schule oder erst in der Ausbildung. Sie fallen als Hoffnungspotenzial aus. Seit 2000, dem Jahr des ersten PISA-Testes, sei dies schon eine Million junger Menschen. Und da setzt sie an, um warnend darauf hinzuweisen, was auf uns zukomme.
" … das heißt, ein Land, das altert, braucht jeden einzelnen. Und kann sich eine Ausfallquote von 20 Prozent schlichtweg nicht leisten."
An Jascha - als Bettler in der Münchner Innenstadt - lässt Inge Kloepfer einen jungen, gut bekleideten Mann vorübergehen. Er kommt ihm bekannt vor. Vielleicht war es der Nachbarjunge, den sie als Kinder mal böse verprügelt haben. Schon damals ging er auf eine andere Schule. Und anschließend zogen die Eltern mit ihm weg. Sie wussten sich zu helfen. Doch die Autorin staunt selbst, wie viele private Initiativen man finden kann, die anderen helfen wollen.
" … weil die Bürger Chancenlosigkeit vor allem von Jugendlichen nicht ertragen können, weil sie wissen, wie ungerecht das ist. Das ist moralisch, ethisch begründet, viel weniger ökonomisch, wie ich das tue."
Sie spürt also noch eine andere Form von Aufstand - eben nicht einen der aggressiven Art wie ihre Münchner Fiktion. Und er erreicht die Politik. In Hamburg beispielsweise prägte die Frage den Wahlkampf, welche Antwort eine reiche Stadt auf die Bildungsarmut der Unterschicht sich selbst schulde.
Nun soll sie ein schwarz-grüner Senat geben. Ja, bundesweit setzt sich der Aufstand in der bildungspolitischen Debatte fort. Inge Kloepfer schlägt vor, Kinder und Jugendliche zur Zielgruppe der Sozialpolitik zu machen, sozialschwache Stadtteile und ihre Schulen gezielt zu fördern, Familien mit Netzwerken der Hilfe zu unterstützen und vor allem das dreigliedrige Schulsystem abzuschaffen.
"Es bringt nichts, jetzt auf Hauruck eine Schulreform durchzuführen und das System dahingehend zu ändern, dass man eine Einheitsschule macht. Sondern man muss jetzt ganz früh anfangen, Kinder so auszubilden, dass sie gar nicht erst in diese Verliererecke kommen, deren Talente zu fördern, ihnen zu helfen, Elternarbeit zu leisten. Dann ist eine Einheitsschule auf Dauer überhaupt nicht utopisch."
Und sie redet auch den Bildungsbürgern ins Gewissen, die höhere Schulbildung nicht gegenüber der Unterschicht abzuschotten, weil den eigenen Kindern Konkurrenz drohe.
"Die Mittel- und Oberschichten haben immer davon profitiert, dass wir auch Systemverlierer produzieren. Das ist ein sehr provokanter Satz, aber wenn man alle Talente aus der sogenannten Unterschicht heben würde, entwickeln würde, dann hätten es diejenigen Kinder, die auf Gymnasien sind, obwohl sie nicht zu absolut Leistungsstärksten zählen, sehr viel schwerer."
Es ist nicht neu, was die Wirtschaftsjournalistin Inge Kloepfer über die Bildungsmisere der deutschen Unterschicht mitteilt und vorrechnet, doch sie formuliert eindringlich, was auf uns zukommt, und vor allem anschaulich, weil sie Jascha, den jugendlichen Sozialhilfeempfänger, gefunden hat, der ihr im Gespräch die Stichworte liefert. Dessen Geschichte berührt mehr als jedes kluge Fachbuch, das bereits geschrieben wurde.
Inge Kloepfer: Aufstand der Unterschicht - Was auf uns zukommt
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2008
Kloepfer: "Aufstand ist für mich eher symbolisch. Es könnte einen geben - in welcher Form auch immer. Aufstand steht auch für eine Art von sozialer Desorganisation, von einem sich Auflehnen gegen das Establishment. Und sei es allein durch ein sinkendes Unrechtsbewusstsein, dass die Leute in die Villengegenden gehen und sich nehmen, was sie meinen, dass es ihnen zustünde."
Und zu diesen Leuten gehört, wenn er viel Glück hat, Jascha. Der 19-Jährige könnte es schaffen, den Schulabschluss nachzuholen, einen Job zu finden, vielleicht gar einen Ausbildungsplatz. Seine Freundin hat den Ehrgeiz für ihn. Doch Inge Kloepfer zweifelt, ob er durchhält.
"Es ist eine real existierende Person, über die ich harte Urteile fälle in dem Buch. Er steht für mich für einen Teil einer Generation, die chancenlos ist. Und deshalb sind natürlich bestimmte charakteristische Merkmale auch verändert, um die Person zu schützen."
Sie will ihm, mit dem sie so häufig im Internet-Cafe sprach, nicht noch mehr schaden. Er habe ja nie eine faire Chance gehabt - nicht in der Familie, die nunmehr in dritter Generation von Sozialhilfe lebt, nicht durch die Mutter, der nach und nach fünf Kinder entglitten, nicht in Heimen und Schulen, wo ihn Erzieher wie Lehrer jedes Mal als unverbesserlichen Störenfried aufgegeben haben, und schon gar nicht auf der Straße, wo er aufgewachsen ist und von den Ritualen jugendlicher Gewalt geprägt wurde.
"Wenn Sie die Geschichte von Jascha verfolgen, dann wird man erkennen können, dass er ein Höchstmaß an Energie, Disziplin und Durchsetzungsvermögen braucht, um in seinem Umfeld zu überleben, nicht unterzugehen, nicht zum Opfer zu werden. Der systematische Fehler liegt einfach nur darin, dass wir diese Energie nicht nutzen, dass aus diesem Jungen etwas wird, was unseren gesellschaftlichen Konventionen entspricht und was ihm letztendlich Chancen bietet."
So aber sondern ihn seine Überlebenstechniken aus. Kindern und Jugendlichen wie Jascha werde Armut vererbt, auch weil Bildung sie nicht erreicht und Talente nicht gefördert werden.
" … und das ist einfach moralisch nicht zu rechtfertigen, ethisch völlig verwerflich und ökonomisch eine Katastrophe."
Und das auf zweifache Weise, rechnet die Wirtschaftsjournalistin vor. Zum einen verfehlten die enormen Sozialausgaben ihr politisches Ziel, Wege aus der Armut zu finanzieren. Zum anderen gefährdeten die Fehler der Bildungspolitik die Innovationskraft des Landes. Denn rund ein Fünftel der Schüler eines jeden Jahrganges schaffen keinen Abschluss - ob bereits in der Schule oder erst in der Ausbildung. Sie fallen als Hoffnungspotenzial aus. Seit 2000, dem Jahr des ersten PISA-Testes, sei dies schon eine Million junger Menschen. Und da setzt sie an, um warnend darauf hinzuweisen, was auf uns zukomme.
" … das heißt, ein Land, das altert, braucht jeden einzelnen. Und kann sich eine Ausfallquote von 20 Prozent schlichtweg nicht leisten."
An Jascha - als Bettler in der Münchner Innenstadt - lässt Inge Kloepfer einen jungen, gut bekleideten Mann vorübergehen. Er kommt ihm bekannt vor. Vielleicht war es der Nachbarjunge, den sie als Kinder mal böse verprügelt haben. Schon damals ging er auf eine andere Schule. Und anschließend zogen die Eltern mit ihm weg. Sie wussten sich zu helfen. Doch die Autorin staunt selbst, wie viele private Initiativen man finden kann, die anderen helfen wollen.
" … weil die Bürger Chancenlosigkeit vor allem von Jugendlichen nicht ertragen können, weil sie wissen, wie ungerecht das ist. Das ist moralisch, ethisch begründet, viel weniger ökonomisch, wie ich das tue."
Sie spürt also noch eine andere Form von Aufstand - eben nicht einen der aggressiven Art wie ihre Münchner Fiktion. Und er erreicht die Politik. In Hamburg beispielsweise prägte die Frage den Wahlkampf, welche Antwort eine reiche Stadt auf die Bildungsarmut der Unterschicht sich selbst schulde.
Nun soll sie ein schwarz-grüner Senat geben. Ja, bundesweit setzt sich der Aufstand in der bildungspolitischen Debatte fort. Inge Kloepfer schlägt vor, Kinder und Jugendliche zur Zielgruppe der Sozialpolitik zu machen, sozialschwache Stadtteile und ihre Schulen gezielt zu fördern, Familien mit Netzwerken der Hilfe zu unterstützen und vor allem das dreigliedrige Schulsystem abzuschaffen.
"Es bringt nichts, jetzt auf Hauruck eine Schulreform durchzuführen und das System dahingehend zu ändern, dass man eine Einheitsschule macht. Sondern man muss jetzt ganz früh anfangen, Kinder so auszubilden, dass sie gar nicht erst in diese Verliererecke kommen, deren Talente zu fördern, ihnen zu helfen, Elternarbeit zu leisten. Dann ist eine Einheitsschule auf Dauer überhaupt nicht utopisch."
Und sie redet auch den Bildungsbürgern ins Gewissen, die höhere Schulbildung nicht gegenüber der Unterschicht abzuschotten, weil den eigenen Kindern Konkurrenz drohe.
"Die Mittel- und Oberschichten haben immer davon profitiert, dass wir auch Systemverlierer produzieren. Das ist ein sehr provokanter Satz, aber wenn man alle Talente aus der sogenannten Unterschicht heben würde, entwickeln würde, dann hätten es diejenigen Kinder, die auf Gymnasien sind, obwohl sie nicht zu absolut Leistungsstärksten zählen, sehr viel schwerer."
Es ist nicht neu, was die Wirtschaftsjournalistin Inge Kloepfer über die Bildungsmisere der deutschen Unterschicht mitteilt und vorrechnet, doch sie formuliert eindringlich, was auf uns zukommt, und vor allem anschaulich, weil sie Jascha, den jugendlichen Sozialhilfeempfänger, gefunden hat, der ihr im Gespräch die Stichworte liefert. Dessen Geschichte berührt mehr als jedes kluge Fachbuch, das bereits geschrieben wurde.
Inge Kloepfer: Aufstand der Unterschicht - Was auf uns zukommt
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2008

Inge Kloepfer: Aufstand der Unterschicht - Was auf uns zukommt© Hoffmann und Campe Verlag