Die "Generation Wende" blickt zurück

Rezensiert von Stefan Berkholz · 16.06.2013
Sie war gerade erwachsen, als die Wende kam und war so durcheinander, dass sie sich in eine religiöse Sekte flüchtete. Er hat es von der Plattenbausiedlung bis ins schillernde Musikbusiness geschafft. Nun blicken Sabine Rennefanz und Hagen Stoll zurück auf die wilde Zeit, als ihr Staat zerbrach.
Er kam aus der Plattenbausiedlung in Berlin-Marzahn und hat es bis ins schillernde Musikbusiness in den USA geschafft. Er sei zielstrebig, sagt Hagen Stoll über sich selbst.

Hagen Stoll: "Meine größte Stärke ist auch gleichzeitig meine größte Schwäche: Das ist meine Zielstrebigkeit und mein Ego. Ich habe den unbedingten Willen, etwas da zu lassen und bemerkt zu werden vielleicht. Der treibt mich an."

Deutsche Tugenden wie Disziplin und Fleiß brachten den jungen Hagen Stoll von der Straße, holten ihn aus der Gosse und dem Knast, retteten ihm das Leben und gaben ihm eine Zukunft als Rockmusiker.

Die Journalistin Sabine Rennefanz, bei und in Eisenhüttenstadt groß geworden, schildert ähnliche Erfahrungen, die ihr den Weg in die neue Welt nach 1989 geebnet haben.

Sabine Rennefanz: "Ein Punkt ist auch, dass ich natürlich das Glück hatte, ziemlich schnell nach dem Studium einen Job zu finden, wo ich mich ausprobieren konnte, wo ich Anerkennung fand und wo ich auch merkte, okay, ich kann ja hier doch was beitragen.

Ich muss nicht Taxi fahren auf den Straßen von Berlin. Und ich muss auch nicht Flaschen sammeln oder betteln. Die Gesellschaft ist vielleicht gar nicht so, wie ich das gedacht habe. Vielleicht gibt es doch mehr Möglichkeiten sich einzubringen. Und dann so step by step."

Hagen Stoll und Sabine Rennefanz - zwei Typen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch als Angehörige einer Generation für jene stehen, die nach dem Mauerfall orientierungslos und beinahe verloren waren.

"Ich mag keine Gewalt", liest man wiederholt im Lebensbericht von Hagen Stoll. Und doch ist viel von Gewalt die Rede. Prügeleien mit Neonazis oder mit türkisch-arabischen Gangs pflastern seinen Weg. In der Umbruchzeit nach 1989 galten im wilden Osten des Marzahner Sumpfs die Gesetze des Dschungels.

Stoll: "Das war 'ne verrückte Zeit. Eine Zeit, wo man nicht wusste, wohin. Ich schreib' ja im Buch auch über so einen rechtsfreien Raum. Und dementsprechend war das eine richtig verrückte Zeit, die mich aber auch geprägt hat und die sehr wichtig war für mein Leben. Einfach weil man durch diese Perspektivlosigkeit dieser Zeit eine Eigeninitiative für sich entwickeln musste."

Für den willensstarken Hagen Stoll war dieses Vakuum Anfang der 1990er Jahre eine Chance. Sein Werdegang klingt märchenhaft - und vorbildlich zugleich. Er war DDR-Meister im Tischtennis, brachte es zum populären Graffiti-Künstler entlang der S-Bahnstrecken, schlug sich als Türsteher und Kleinganove durch, landete im Knast - und schließlich im Musikgeschäft.

Er fabrizierte Texte für Reinhard Mey, produzierte für Rapper wie Sido und wurde selbst Sänger. In der Deutschrockband "Haudegen" bringt er heute autobiografische Texte aus seinem rauen Leben zu Gehör.

Stoll: "Ich bin ja antifaschistisch erzogen worden im Osten. Wir hatten ein ganz klares Feindbild: Das war der Kapitalist. Und ich bin antifaschistisch erzogen worden. Mein Opa hat mir vom Zweiten Weltkrieg erzählt, die schlimmsten Dinge. Und mein Standpunkt war manifestiert in meinem Kopf. Ich wusste, dass das falsch war - ist, egal was da kommt. Egal, wer braunes Gedankengut streut. Man weiß einfach, das ist falsch, Leute, kapiert das endlich."

Der Rechtsradikalismus war auch für Sabine Rennefanz keine Perspektive, sagt sie. Das war in ihrer Heimat um Eisenhüttenstadt eher etwas für Kerle, ein reines Männerding. Doch auch sie war nach dem Mauerfall ohne Perspektive, ohne Vorbilder, ohne Identität. Auch sie war auf der Suche.

Und so fand sie für eine Weile Unterschlupf in einer religiösen Sekte, die sie, als 22-jährige Missionarin, bis ins hinterste Russland schickte. Ja, 1989 war ein totaler Abbruch, ein Ende aller Beziehungen und Orientierungen. Und eine ewige Reihe von Demütigungen.

Rennefanz: "Ich hatte viele Jahre fast überhaupt keine ostdeutschen Freunde. Ich wollte das ja irgendwann komplett überwinden. Es war in den 90er-Jahren absolut peinlich, Ostler zu sein. Zumal wenn man im Westen studiert hat. Und es wurde über alles, was aus Ostdeutschland kam, sich lustig gemacht. Über Sprache, Kleidung, Aussehen. Und ich wollte nicht mehr in diesen Kategorien gesehen werden. Und ich hab' mich erst damit auch versöhnt, als ich im Ausland war."

Sabine Rennefanz begegnet in ihrer "Reise in die Vergangenheit" ehemaligen Lehrern und Mitschülern. Sie spricht mit ihren Eltern über den Alltag in der DDR. Sie erinnert sich anhand ihrer eigenen Tagebuchnotizen aus der Umbruchzeit. Sie nähert sich auf ihrer Spurensuche auch Widersprüchen in der eigenen Wahrnehmung.

Rennefanz: "Ein Grund, warum mein Buch so einen Nerv trifft, ist, dass ganz viele Leute, auch im Westen, jüngere Leute, sich da wiederfinden können, weil wir eigentlich jetzt wieder in so einer ähnlichen Situation sind, wo ganz viele Leute orientierungslos sind. Und wo man nicht weiß, wie es weiter geht mit der europäischen Finanzkrise. Und wie geht es überhaupt weiter mit Europa. Der Kapitalismus ist in seiner größten Krise. Und keiner hat richtig Ahnung, wie es weiter geht. Und noch schlimmer: Keiner redet richtig drüber."

Sabine Rennefanz' Selbstfindungsprozess wirkt etwas langatmig. Ihre gläubige Verirrung breitet sie über rund einhundert Seiten aus. Ihr Ton ist melancholisch, leise, zurückhaltend.

Locker, flockig, rotzig hingegen klingt der Lebensbericht von Hagen Stoll, ziemlich cool und sehr begeistert, menschenfreundlich zugewandt und kreuzehrlich.

Stoll: "Wenn du jemand bist, der den Sozialismus mitbekommen hat und dann in der Verantwortung als Vater deinen Kindern gegenüber dir Gedanken darüber machst, in was für einem System deine Kinder aufwachsen, dann würde ich mir wünschen, dass die Menschen sich mal Gedanken darüber machen, ob's 'ne Option gibt auf ein nächstes System."
Und so ist ihm ein optimistisches Buch gelungen, das Buch eines lebensbejahenden Rockmusikers.


Cover: "Eisenkinder" von Sabine Rennefanz
Cover: "Eisenkinder" von Sabine Rennefanz© Luchterhand Verlag
Sabine Rennefanz: Eisenkinder - Die stille Wut der Wendegeneration
Luchterhand Verlag, München 2013
220 Seiten, 16,99 Euro, auch E-Book erhältlich

Hagen Stoll: So fühlt sich Leben an
Heyne Verlag, München 2013
320 Seiten, 12,99 Euro, auch als E-Book erhältlich