Die fremden Geschwister

Von Gerd Brendel |
In den Franckeschen Stiftungen in Halle befasst sich das interdisziplinäre Zentrum für Pietismusforschung mit Gedanken und Lebensformen seiner Anhänger. Jetzt trafen sich dort Literaturwissenschaftlerinnen und Bildungsforscher, um über Geschlechterrollen im Pietismus nachzudenken.
"Das 18.Jahrhundert, kommt aus einer Welt der Seuchen, der absoluten Kriege, der absoluten Vernichtung riesiger Landstriche des heiligen römischen Reichs."

Nein, die Welt um 1700 sah nicht gut aus, zwischen Straßburg und Halle , zwischen Königsberg und Heidelberg, ein halbes Jahrhundert nach dem Dreißigjährigen Krieg. Da weist eine Reformbewegung einen Weg aus der düsteren Gegenwart, erzählt die Berliner Historikerin und Theologin Ulrike Gleixner.

"Das 18. Jahrhundert produziert in seinen Religionen eine positive Vorstellung von der Gegenwart und Zukunft, und die ist verbunden mit dem Pietismus, weil es um die Hoffnung geht, auf ein Reich."

Auf Gottes Reich, dass hier auf Erden schon errichtet werden kann.

"Wir gucken, dass wir die Bibel lesen, wir gucken, dass wir das Leben besser machen, den Alltag besser machen."

Die Bildungsforscherin Pia Schmid leitet das interdisziplinäre Zentrum für Pietismusforschung der Universität Halle. Von ihrem Büro aus sieht sie in den Innenhof der Franckeschen Stiftungen. Der Namensgeber August Herrmann Francke errichtete hier ab 1695 eine regelrechte Schulstadt mit Waisenhaus, Armenschule und dem Pädagogicum, in dem Knaben aus begüterten Familien unterrichtet wurden. Die Schulabsolventen machten als Hauslehrer an europäischen Adelshäusern Karriere oder reisten als Missionare um die Welt.

"Diese Bewegung hat das Ziel das protestantische Reich Gottes, überall auf der Erde zu verbreiten und das führt zu einem ungeheuren Aktivismus derjenigen Leute, die mitmachen und die sind wirklich dabei, überall ihre religiös geformten sozialen Projekte der Erneuerung zu platzieren."

Projekte, die von Männern wie Frauen vorwärts getrieben wurden, erklärt Ulrike Gleixner

"Wir haben im Pietismus eine ganz neue Bewegung in der Frauen selber Texte verfassen, erbauliche und meditative und werden zum Stoff, aus dem man lebt."

Nicht nur von Halle aus.

"Überall gibt es religiöse Klein-Formationen, die Grenzen überschreiten, soziale Grenzen überschreiten, Grenzen von dem, was man machen darf, wenn man zusammen lebt. Neue Wohnformen, neue Lebensformen werden entdeckt oder werden versucht, zu praktizieren."

Zum Beispiel in der sächsischen Niederlausitz.

Musik: Jesu, geh voran auf der Lebensbahn

Hier hatte Graf Nikolaus von Zinzendorf um 1720 auf seinem Gut evangelische Glaubensflüchtlinge aus dem benachbarten katholischen Böhmen aufgenommen. Gemeinsam mit ihnen und anderen Anhängern gründete er die Siedlung Herrnhut - als christliche Großkommune unter der "Hut des Herren": Die Keimzelle der bis heute bestehenden Herrnhuter Brüdergemeine - ohne d. In Herrnhut wurde gemeinschaftlich gewirtschaftet und gewohnt: Althergebrachte soziale Beziehungen wurden komplett auf den Kopf gestellt.

"Sie haben ein bestimmtes System entwickelt, ein Chorsystem, in dem die Menschen in der Gemeine in einem Chor mit ähnlich situierten Menschen gelebt haben. Das heißt: Es gab einen Chor für die ledigen Schwestern, ein Chor für die ledigen Männer, für die verwitweten Schwestern und Männer. Und das war für die Zeit schon ziemlich radikal, so zu leben."

Michael Taylor, Kulturwissenschaftler aus Calgary.

"Eine der wichtigsten Folgen dieser neuen sozialen Strukturen war, dass Frauen eine Rolle bekommen haben, die sie bis dahin nirgendwo hatten. Frauen haben ihre eigenen Chöre selber organisiert, geleitet und sie haben auch Mitspracherecht in der Kirche gehabt."

Musik: Jesu, geh voran

"Jesu geh voran auf der Lebensbahn", dichtete Graf Zinzendorf .

Sprecherin: "Und wir wollen nicht verweilen dir getreulich nach zueilen, führ uns an der Hand bis ins Vaterland."

Von Herrnhut eilten die Brüder und Schwestern ihrem Herrn in der ganzen Welt nach und gründeten Kolonien in der Wetterau, in Dänemark, den Niederlanden und in Amerika. Eine Geschichte, die auf den ersten Blick überraschend modern erscheint: Das weit gespannte Netzwerk der Brüder und Schwestern über Landes- und soziale Grenzen hinweg, die Rolle von Frauen in Leitungsfunktionen. Aber man kann diese Erfolgsgeschichte nicht ohne Zinzendorfs eigenwilliges Konzept von der Beziehung zwischen Gemeinde und Christus verstehen.

"Zinzendorf hat sich vorgestellt, dass alle Seelen weiblich sind und dass Christus männlich ist. Es gab immer eine Tradition dieser mystischen Ehe mit Christus."

Mit anderen Worten: Männlichkeit ist vorläufig und Geschlechterrollen sind alles andere als endgültig. Die Brüder sind eschatologisch, vom Ende her gesehen - Schwestern. Das hat Konsequenzen für das Verhältnis von Mann und Frau auf der irdischen "Lebensbahn". Die Ehe wird für Zinzendorf zu einem Modell für die Beziehung Gott-Mensch:

Sprecher: "Unsere Ehe ist ein Gleichnis von der Ehe Jesu Christi mit der menschlichen Seele."

Musik : Jesu, geh voran

"Ordne unsern Gang, Jesu lebenslang", heißt es in Zinzendorfs Kirchenlied.

Nach seinem Tod ging es seinen Nachfolgern vor allem um die innere Ordnung. Frauen in Leitungsämtern passten nicht mehr ins Bild, denn auf keinen Fall wollte man den Anschluss an den konservativen protestantischen Mainstream der Zeit verlieren. Die fromme Begeisterung verflog, aus experimentierfreudigen Reformern wurden die "Stillen im Lande", mit Schwestern, die immer mehr verstummten.
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