Die fabelhafte Welt des europäischen Films

Moderation: Joachim Scholl |
Der slowenische Kulturkritiker Slavoj Žižek kann mit der Bestenliste des Goethe-Instituts zu den Lieblingsfilmen der Europäer nichts anfangen. Filme wie "Das Leben ist schön" von Roberto Benigni, "Die fabelhafte Welt der Amelie" (Jean-Pierre Jeunet) oder "Das Leben der Anderen" (Florian Henckel von Donnersmarck) überzeugten ihn nicht.
Joachim Scholl: Was bedeutet Europa für Sie? Wie sehen Sie seine Zukunft? Was ist die bedeutendste europäische Erfindung, welches ist das bedeutendste Bauwerk? Das sind einige der Fragen, die über 20.000 Menschen aus 30 europäischen und angrenzenden Ländern in einer Onlineumfrage der jeweiligen Goethe-Institute beantwortet haben. Und eine dieser Fragen zielte auch auf den Film: Welcher ist der beste europäische Film?

Wir haben die Antworten Slavoj Žižek vorgelegt. Der Slowene ist Kulturkritiker, Philosoph und vor allem durch eine ziemlich radikale Deutung unserer Zeit in den vergangenen Jahren bekannt geworden. Heute früh waren wir mit Slavoj Zizek in einem Studio in Ljubljana verbunden, und ich wollte eingangs unseres Gesprächs von ihm wissen, wie er den ersten Platz der Umfrage einschätzt, das ist nämlich auf der Liste Roberto Benignis Holocaust-Komödie "Das Leben ist schön". Wie finden Sie das denn, Slavoj Žižek?

Slavoj Žižek: In mir sträubt sich alles gegen diese Platzierung. Ich glaube, das ist ein allzu bequemer Ausweg: dieses edle Opfer, das am Schluss des Filmes stehen soll. - Das ist ein sentimentales Gedusel. Ich würde das ganz anders haben enden lassen, nämlich kurz vor dem Augenblick des Sterbens. Bevor der Vater stirbt, hätte sein Sohn ihm offenbaren müssen, dass er die gesamte Zeit über wusste, dass sein Vater ihn belog und dass er es ihm nur nicht erzählte, um ihn zu schonen. Das wäre ein großartiges Ende gewesen, wenn der Sohn bis zum Schluss diese Wahrheit aufgespart hätte. So aber, wie es gemacht worden ist, ist es einfach nur Gefühlsduselei.

"Das ist alles schön und gut, aber ich mag es trotzdem nicht"

Scholl: Auf den weiteren Plätzen der Umfrage, Herr Žižek, nach dem besten Film, rangierten "Das Leben der Anderen", "Die fabelhafte Welt der Amelie", "Good bye, Lenin", Roman Polanskis "Der Pianist", "Der Himmel über Berlin" von Wim Wenders. Auch "Ziemlich beste Freunde", die französische Erfolgskomödie aus jüngerer Zeit war dabei. Was schließen Sie, Herr Žižek, aus dieser Wahl? Lässt sich hier eventuell so etwas wie ein Gemütszustand in den europäischen Ländern ablesen?

Žižek: Ja, da schwelgt man so in seinen Stimmungen und viel Gemüt kommt da durch - das ist alles schön und gut, aber ich mag es trotzdem nicht. Nehmen wir nur mal den zweitplatzierten Film "Das Leben der Anderen". Jetzt sage ich etwas, obwohl ich mich zur Linken rechne. Dieser Film ist gar nicht antikommunistisch genug. Denn es wird ja so dargestellt, dass der Minister, weil er mit der Ehefrau des Schriftstellers ins Bett steigen will, ihn von der Stasi bespitzeln lässt. Aber in der echten DDR wäre dieser Drehbuchschreiber sowieso bespitzelt worden, unabhängig davon, ob irgendein Minister scharf auf die Ehefrau des Schriftstellers ist oder nicht.

Das ist ganz bezeichnend für die heutigen Antikommunisten, sie sind nicht antikommunistisch genug. Sie geben einem gar nicht ein richtiges Bild von den wahren Schrecknissen des Stalinismus. Und diese Gefühlsduselei gilt ja auch für die anderen Filme, die Sie genannt haben, "Die fabelhafte Welt der Amelie" und so weiter. Das alles überzeugt mich nicht. Ich hätte natürlich vielleicht Haneke oder Lars von Trier gewählt, das hätte mir gefallen. Alles andere ist einfach für mich nicht überzeugend.

Scholl: Sie haben einmal gesagt, Herr Žižek, wenn man eine Gesellschaft verstehen will, muss man nur ihre Filme anschauen. Die Slowenen speziell, ihre Landsleute, Herr Zizek, haben sich in der Mehrheit für Michael Hanekes komplexes Drama "Liebe" ausgesprochen, Sie haben den Regisseur eben auch schon erwähnt. Was verrät uns das denn über die Slowenen?

Žižek: Ich glaube, das besagt vielleicht so viel, wie: Dass dieses Dreieck Slowenien, Österreich-Ungarn, einige skandinavische Länder wie Schweden und Finnland die höchste Selbstmordrate haben, und das ist ein Zeichen von Glück. Weil es ein Zeichen von Glück ist, wenn man eben, gerade dann, wenn man das Glück in höchster Form genießt, den Abschied nimmt. Es ist nicht Zeichen von Pessimismus. Umgekehrt belegt diese Tatsache ja auch, der Umstand, über den wir vorhin berichtet haben, dass vor 20 Jahren, als Sarajewo belagert wurde, keinerlei Selbstmorde geschahen.

Deshalb meine ich, Haneke und Lars von Trier sind ganz nah an dieser Wahrheit des Glücksgefühls und des Glücks, das in einem glücklichen Land geschieht. Der Film "Melancholia", der Film von Lars von Trier, ist etwas, was zutiefst bezeichnend für Europa ist. So etwas ist nur in Europa möglich.

Scholl: In einem Essay über das europäische Kino haben Sie, Herr Žižek, davon gesprochen, dass Filme stets ein Spiegel der Fantasie seien. Gäbe es für Sie so etwas wie eine übergreifende europäische Fantasie?

Žižek: Ja, ich habe das in dem kurzen Aufsatz, den Sie erwähnten, versucht. Es ist genau dieser Punkt, wo "Melancholia" zutrifft, dieses Gefühl des Glücks im Augenblick des Zerfalls. Nicht ein zuschlagendes Glücksgefühl im Augenblick der Zerstörung, sondern das Gefühl, das man hat, wenn die Welt nach und nach verschwindet und man eine merkwürdige Zufriedenheit verspürt, dieses ist, wie ich meine, nur in Europa möglich, und deswegen mag ich Europa.

"Antonioni, Fellini und so weiter. - Nein!"

Scholl: Die Europaliste, die Umfrage der Goethe-Institute über die besten europäischen Filme - wir sind im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek. In jenem Text über das europäische Kino, da stellen Sie genau diese These auf, Herr Žižek, dass filmästhetisch die Mischung aus Komödie und eben diesem melancholischen Verlustgefühl, wie Sie es eben beschrieben haben, das zusammen, sei das Geschenk Europas an Hollywood. Können Sie uns das ein wenig erläutern? Was ist das für ein Geschenk?

Žižek: Ja. Ich habe das ausdrücklich als Lobpreis von Hollywood verstanden, nicht als Kritik an Hollywood. Was mich immer an Hollywood fasziniert hat, ist die Offenheit dieser Filmstadt für Regisseure und Autoren aus anderen Ländern. Das beste, was von diesen außeramerikanischen Regisseuren hergestellt wurde, ist ein treffendes Porträt der amerikanischen Gesellschaft.

Und was gibt es denn Europäischeres als die großen Hitchcock-Filme aus den 50er-Jahren? "Vertigo". Oder die großen Filme von Lubitsch, "Ninotschka", "Ärger im Paradies" und dergleichen mehr. Das sind die europäischsten Filme überhaupt. Um das europäische Kino wirklich in seiner Blüte zu erfahren, muss man einen Schritt hinaus aus Europa tun. Man sollte sich nicht auf diese langatmigen Kunstproduktionen stürzen, Antonioni, Fellini und so weiter.- Nein! Das europäischste Kino findet man in Hollywood.

Scholl: Aber gerade, Herr Žižek, diese große Filmtradition, von Fellini angefangen, die benennt man ja auch immer als Abgrenzungskriterium zu dem übermächtigen amerikanischen Hollywood-Kino. So, wie ich Sie verstehe, sehen Sie da gar keinen Antagonismus, gar keine Feindschaft, sondern eher ein Zusammengehen?

Žižek: Ja, es gibt diese Spannungen, und angesichts dieser Spannungen stehe ich mehr auf Seiten der Amerikaner als der Europäer. Ich habe mir kürzlich wieder einige dieser vielgerühmten Kunstfilme aus den 50er- und 60er-Jahren zu Gemüte geführt wie "Schreie und Flüstern" von Ingmar Bergmann. Es ist ein leeres Machwerk. Oder Antonioni, als er es in Hollywood versuchte mit "Zabrisky Point" - das ist doch ein peinlich anzusehendes Gebilde, wirklich besser und gut sind doch die Filme, die es langfristig geschafft haben, so in der jüngsten Umfrage von "Sight and Sound", wo "Vertigo" von Hitchcock ganz oben steht. Gerade die Filme, die als kommerziell verunglimpft wurden, haben es auf die lange Sicht dann eben doch geschafft, das sind die besten Filme. Und so wiederhole ich noch einmal: Angesichts dieses Gegensatzes zwischen europäischem und amerikanischem Kino neige ich stark zum amerikanischen Kino.

Scholl: Zum Schluss, Herr Žižek, wollen wir natürlich von Ihnen wissen, welchen Film Sie genannt hätten als Antwort auf die Frage nach dem besten europäischen Film. "Melancholia" von Lars von Trier ist jetzt schon mehrfach genannt worden von Ihnen - wäre das Ihr Favorit, oder gibt es noch andere?

Žižek: Na ja, vielleicht würde ich auch mal meine Meinung ändern, aber im Augenblick meine ich eben noch mal sagen zu müssen: "Melancholia" ist für mich kein trauriger Film, sondern es ist ein Film über das Glück, über diese merkwürdige Hinnahme dessen, was geschieht, und genau das brauchen wir noch verstärkt.

Wir verfallen ja häufig in eine Panik und sagen, das Ende der Welt ist nahe, wir stecken alle in der Krise. Nein, wir brauchen mehr von derartigen Filmen wie dem genannten Film von Lars von Trier. Es ist ein wunderschöner Film, ein Film, der uns in einen Zustand des Friedens versetzt, und genau das brauchen wir. Walter Benjamin hat es ja schon vor langer Zeit ganz richtig erkannt. Er hat gesagt, der echte Revolutionär ist nicht irgendein durchgeknallter optimistischer Stalinist, nein, es ist jemand, der zutiefst melancholisch gestimmt ist.

Scholl: Die Europaliste, die große Umfrage in 30 europäischen und angrenzenden Ländern. Heute haben wir den Philosophen Slavoj Žižek gehört zur Frage, welcher ist der beste europäische Film. Herr Žižek, herzlichen Dank für dieses Gespräch, mit besten Grüßen nach Ljubljana!

Žižek: Und ich danke Ihnen auch, es war eine große Ehre für mich!

Scholl: Und bei der Übersetzung dieses Gesprächs hat uns Johannes Hampel geholfen, auch dafür Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Das Interview in Englisch - also ohne die eingesprochenen Übersetzungen - können Sie mindestens bis zum 29.12.2013 als MP3-Audio in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören.

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