Don Quijote ist unser Europäer in der Literatur

Terezia Mora im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 08.07.2013
"Don Quijote" des Spaniers Miguel de Cervantes verkörpere "Old Europe", sagt Terezia Mora. Er kämpfe gegen Windmühlen, sei der Gute, aber auch etwas trottlig. Im Unterschied zum amerikanischen Helden seien Weg und Ziel des europäischen Helden eher diffus.
Klaus Pokatzky: In welchen europäischen Sprachen außer Englisch sollte ein Europäer oder sollte eine Europäerin etwas mehr als "Bitte" und "Danke" sagen können? So hieß eine der Fragen in der Europaliste, mit der das Goethe-Institut, die Tageszeitung "Die Welt" und das Deutschlandradio Kultur auf der Suche nach Europas kulturellem Fundament sind. Bei dieser Frage, also außer englisch "Bitte" und "Danke" sagen können, rangieren Deutsch, Französisch, Spanisch vorne. Ungarisch befindet sich nicht unter den ersten zehn genannten Sprachen. Die Schriftstellerin Terezia Mora wurde 1971 im ungarischen Sopron geboren und wuchs dort, an der Grenze zu Österreich mit den Sprachen Deutsch und Ungarisch auf. Seit 1990 lebt sie in Berlin. Willkommen im Studio!

Terezia Mora: Guten Tag!

Pokatzky: Und was heißt das auf Ungarisch?

Mora: ((Ungarisch))

Pokatzky: Und auf Ungarisch "Bitte", "Danke" und "Guten Tag"?

Mora: "Bitte" heißt "Kerem", "Danke" heißt "Kösenem" und "Guten Tag" "Jonapot".

Pokatzky: Unter den ersten zehn der in der Umfrage genannten Sprachen ist Polnisch die einzige aus dem ehemaligen sogenannten Ostblock. Woran liegt das Ihrer Ansicht nach?

Mora: Daran, dass Polen ein großes Land ist. Beziehungsweise es liegt auch daran, wie diese Fragen gestellt werden beziehungsweise wie das Ergebnis dieser Top Ten zustande kommt. Es gibt ja eine sehr große Streuung in den Antworten. Es antworten ein paar Tausend Leute. Und natürlich, was die großen Länder und die großen Sprachen anbelangt, ist damit zu rechnen, dass diese genannt werden. Aber es werden natürlich auch kleinere genannt. Und ich habe es mir angeguckt, man kann den ersten Platz mit neun Prozent der Antworten machen und den zweiten Platz mit fünf Prozent der Antworten. Aber ich finde es schon toll, wenn man in möglichst vielen Sprachen überhaupt "Bitte" und "Danke" sagen kann, zum Beispiel, wenn man dahin fährt. Deswegen: Reisen bildet, Reisen macht einen zu einem besseren Menschen, weil man da immer in Situationen kommt, wo man dann, wenn man höflich ist, in der Landessprache "Bitte" und "Danke" sagt. Und ich glaube, das macht schon etwas aus.

Pokatzky: Mehr Sprachen machen also auch den besseren Europäer.

Mora: Ich glaube schon.

Pokatzky: Möglichst viele Sprachen machen den möglichst guten Europäer?

Mora: Wir können natürlich nicht beliebig viele Sprachen uns aneignen, aber ich habe mir mal vorgestellt, wie es wäre, wenn es zum guten Ton gehörte, also nicht nur die großen Sprachen möglichst zu erwerben, sondern sich umzugucken, wer sind unsere Nachbarn, und sich ein bisschen über deren Sprache und Kultur zu informieren. Also, wir sind ja umgeben, abgesehen von den Österreichern, von slawischen Ländern und Sprachen ...

Pokatzky: Die alte k. und k. Monarchie.

Mora: Genau – und ich kann nichts davon, aber als Deutscher könnte man auch diesen Gedankenspielen nachhängen ...

Pokatzky: Dänisch, Polnisch, Niederländisch, Französisch, Schweizerdeutsch ...

Mora: Genau, also Sie haben schon eine größere Chance ...

Pokatzky: ... Tschechisch ...

Mora: Tschechisch zum Beispiel, das ist interessant. Ein paar meiner Studentinnen – ich unterrichte zeitweise in Leipzig am Literaturinstitut – es gab tatsächlich einige Studenten, die sich gesagt haben, hier ist Tschechien, es gibt eine junge tschechische Literatur, dann haben sie andere tschechische Autoren getroffen, und einige lernen jetzt in der Tat Tschechisch. Und das finde ich eine wunderbare Sache!

Pokatzky: Sie sind zweisprachig aufgewachsen. Also in einem Grenzort zwischen Ungarn und Österreich, also Sie sind im Deutschen genauso zu Hause wie im Ungarischen. Sie schreiben Ihre Bücher auf Deutsch und übersetzen Bücher, wie zum Beispiel die von Peter Esterhazy aus dem Ungarischen. Was bedeutet diese Zweisprachigkeit für Sie?

Mora: Das ist mein Leben, das ist das größte Geschenk, was ich bekommen habe und auch eines, was ich an meine Tochter weitergebe ...

Pokatzky: Die jetzt fünf Jahre alt ist ...

Mora: Die jetzt fünf Jahre alt ist und wunderbar zweisprachig. Und ich bin sehr stolz und sehr froh darüber. Die Vorstellung, mit seinem Kind nicht in seiner Muttersprache zu reden, ist unvorstellbar. Ich beschäftige mich ja in meiner Arbeit auch relativ viel mit Migration und mit Personen, die nicht dort leben, wo sie geboren worden sind, und die Sprache wechseln müssen und die Kultur wechseln. Und ich weiß wiederum aus dem wahren Leben, dass es auch manche gibt, die sich so sehr integrieren wollen, dass sie mit ihren Kindern in der Sprache des Gastlandes sprechen und nicht in der Muttersprache. Und das geht dann verloren, und das ist sehr, sehr schade.

Pokatzky: Jetzt sagen Sie Muttersprache. Was ist Ihre Muttersprache und was ist die Muttersprache Ihrer Tochter?

Mora: Das ist schwierig. Das ist schwierig, also bei mir konnte man das auch lange Zeit nicht wissen, aber es gibt ja eine neue Definition von Muttersprache mittlerweile, nämlich man spricht von der Ausbildungssprache. Das wäre in meinem Fall das Ungarische.

Pokatzky: Also Schule, Universität ...

Mora:Ich lebte die ersten 19 Jahre meines Lebens in Ungarn in einer ungarischen Umgebung, das war sehr dominant, auch wenn meine Mutter Deutsch mit mir sprach, würde ich dennoch Ungarisch meine Muttersprache nennen, weil ich grundlegende Sachen auf Ungarisch erlernt habe, und bei meiner Tochter ist das umgekehrt. Also, ich glaube, ihre Muttersprache ist trotz allem Deutsch.

Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur die Schriftstellerin Terezia Mora in unserer Reihe "Europaliste". Frau Mora, auf dieser Liste werden unter anderem Don Quijote, Faust, Hamlet und der "Kleine Prinz" als die ergreifendsten literarischen Figuren der europäischen Literatur genannt. Welche literarische Figur würde Ihnen einfallen.

Mora: Genau dieselben. Das fand ich sehr schön. Das war meine Lieblingsfrage, vor allen Dingen auch deswegen, das sei hier kurz eingefügt, weil viele der Antwortenden die Frage missverstanden haben und haben die literarische Figur mit Autoren verwechselt. Also das sind ja auch Figuren des literarischen Lebens. Und in dieser Liste kommt an erster Stelle, was weiß ich, Don Quijote – würde ich sehr unterschreiben, das ist unser Europäer ...

Pokatzky: Warum ist er der Europäer, Don Quijote? Weil er so ein tragischer Held auch ist?

Mora: Weil er gegen diese Windmühlen kämpft und der Gute ist, der ein bisschen Trottelige, aber Gute. Und ich glaube, das ist unser Bild von uns. Wir sind die Don Quijotes, wir kämpfen gegen diese seelenlosen Windmühlen. Wiederum andererseits, was zu Don Quijote auch dazu gehört: Er ist ja eigentlich eine satirische Figur. Also, es wird sich lustig darüber gemacht, dass er versucht, ritterliche Werte in einer Welt zu leben, die nicht ritterlich ist. Also er ist im Grunde ein Gestriger. Er ist "Old Europe". Er sagt, ich habe Werte, die verteidige ich jetzt, auch wenn ich von lauter Dumpfen und Groben umgeben bin. Und das ist etwas, was wir sehr gerne sehen in der Literatur. Oder sehen wir, Hamlet ist auch der Europäer. Also, bevor ich hingehe und jemandem einen über den Nischel ziehe, denke ich nach. Ich zermartere mich, ich suche, was wäre das Richtige?

Pokatzky: Also das Grüblerische.

Mora: Das Grüblerische, genau.

Pokatzky: Das An-Sich-Selbst-Verzweifeln.

Mora: Ich als studierte Drehbuchautorin muss dazu wirklich sagen, wo liegt der Unterschied zwischen einem amerikanischen Held und einem europäischen?

Pokatzky: Und was ist der?

Mora: Also der Unterschied ist, der amerikanische Held hat erstens ein Ziel, und zweitens, er fängt an zu handeln. Der europäische Held, selbst wenn er ein Ziel hat, eventuell weiß er nicht genau, was sein Ziel ist. All das ist diffus, ja. Aber selbst wenn er das Ziel hat, ist der Weg dorthin diffus. Über diesen Weg muss nachgedacht werden, über diesen Weg muss verhandelt werden, und dann erst wird dieser Weg angetreten. Und dann kann es sein, dass der europäische Held nicht siegreich hervorgeht. Das sind nicht dieselben Helden. Und dann gibt es auch – ich als alte Osteuropäerin muss das auch noch auseinanderhalten, jemand meinte mal zu mir, eine ungarische Filmemacherin, pass auf: Der osteuropäische Held hat recht, kämpft und verliert.

Pokatzky: Und der westeuropäische?

Mora: Hat recht, kämpft und gewinnt eventuell. Also bei ihm gibt es die Chance, eventuell zu gewinnen.

Pokatzky: Jetzt möchte ich aber wissen, welche europäischen Schriftsteller, jetzt abgesehen von den literarischen Figuren, ergreifenden literarischen Figuren, welche Schriftsteller, welche europäischen Sie besonders geprägt haben.

Mora: Also Kafka kommt, glaube ich – doch, er kommt vor in den Top Ten. Kafka kommt vor, weil er auch als Figur, also er selbst als literarische Figur würde sehr passen, natürlich. Also ich glaube, und das hat sich schon bei der Deutschlandliste vom Goethe-Institut herausgestellt, dass die Deutschen nicht wissen, wie präsent sie im kulturellen Leben der anderen Länder sind. Das hat mich insbesondere – ich war mal ...

Pokatzky: Sind wir zu bescheiden oder haben wir Minderwertigkeitskomplexe?

Mora: Keine Ahnung. Also vielleicht sind sie auch uninformiert, weiß ich nicht. Aber ich glaube, sie denken auch, dass man sie immer noch hasst wegen dieser Nazi-Geschichte. Und das ist nicht der Fall. Und das hat auch die Europaliste gezeigt jetzt wieder und schon die Deutschlandliste. Also ich hab festgestellt – ich hab eine Zeit in England verbracht – in den Nachrichten kommt Deutschland jedes Mal vor, in den Kulturnachrichten kommt Deutschland jedes Mal vor, und das ist halt präsent. Das sind die Leute, auf die wir schauen.

Pokatzky: Wir erleben jetzt in Ungarn Entwicklungen, die nicht so unbedingt unseren demokratischen Vorstellungen, auch wenn es um Meinungsvielfalt, kulturellen Pluralismus geht. Tun wir Deutschen da genug?

Mora: Ich glaube nicht. Dummerweise habe ich auch nicht genug getan. Ich saß mal einem deutschen Politiker gegenüber und habe mich nicht getraut, dem zu sagen: "Jetzt machen Sie mal!" -, weil ich sozusagen nicht mit meinem Ding ihm auf die Nerven gehen wollte. Aber warum nicht – dafür ist er da. Man könnte durchaus deutlicher sein, obwohl ich fast befürchte, dass die, die an der Regierung sind – Sie können deutlich sein, wie viel Sie wollen, also da …

Pokatzky: Das würde die Regierung nicht interessieren in Budapest?

Mora: Nein, ich glaube, sie sind etwas abgetrennt von der Realität mittlerweile.

Pokatzky: Und wie sind Ihre Hoffnungen, dass eine andere Regierung wieder zur europäischen Realität zurückfindet?

Mora: Ja. Das glaube ich, ja. Das muss aber leider eine andere sein. Also ich habe keine Hoffnung, dass diese Regierung irgendwas kapieren kann. Das erinnert mich leider sehr daran, an die Welt, in der ich aufgewachsen bin. Der kommunistischen Regierung hätten Sie auch in Engelszungen erzählen können, was Sie wollten, da führte kein Weg dahin, bedauerlicherweise.

Pokatzky: Und in welcher europäischen Sprache sollte ich jetzt "Danke" sagen?

Mora: Jetzt in diesem Moment können Sie "Kössenem" sagen?

Pokatzky: "Kössenem"!

Mora: "Keram sepam"!

Pokatzky: Am kommenden Montag um kurz nach 14 Uhr ist dann unser nächster Gast der Architekt Hans Kollhoff, und dann geht es um die bedeutendsten Bauwerke Europas.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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Terézia Mora: "Der einzige Mann auf dem Kontinent", Luchterhand Verlag, München 2009, 379 Seiten