Die eigentliche Kampflinie

Von Jörg Lau · 14.01.2011
Wir dürfen den Krieg der Religionen nicht akzeptieren, den uns die Terroristen mit ihren Säuberungsfantasien aufdrängen wollen. Die größte Provokation für die Mörder ist angstfreie Vermischung, auf der die Stärke freier Gesellschaften beruht.
Das Massaker von Alexandria scheint Manchen wachgerüttelt zu haben. Muslime haben die Weihnachtsgottesdienste der Kopten besucht. Es gab sogar islamische Mahnwachen vor Kirchen der bedrohten christlichen Minderheit. Geistige Führer des Islams haben die Untat unmissverständlich verurteilt: Niemand könne sich auf den Koran und den Propheten berufen, um eine solche Mordtat zu rechtfertigen. Setzt sich die Einsicht durch, dass die Welt an einer gefährlichen Schwelle steht? Die Täter von Alexandria – sie werden immer noch gesucht – wollen einen Religionskrieg entfesseln. Der Kampf der Kulturen, über den wir seit dem 11. September diskutieren, könnte von einem intellektuellen Konstrukt zur blutigen Wirklichkeit werden.

Könnte? Für viele Christen des Orients ist er Alltag. Zwei Monate vor den Kopten traf es irakische Christen in Bagdad: Ein Killerkommando der Al-Kaida stürmte einen Sonntagsgottesdienst und tötete 58 Menschen. Die Christengemeinde im Irak ist seit der Invasion der amerikanischen Truppen bereits auf die Hälfte geschrumpft. Welch eine bittere Ironie: Ein Krieg, der als Wiederauflage der "Kreuzzüge" diffamiert wird, endet mit der drohenden Auslöschung des Christentums an einigen seiner ältesten Stätten. Die chaldäischen und assyrischen Christen, die Ureinwohner des Iraks, werden zu Sündenböcken. Fanatiker erklären sie zu Fremdkörpern und fünften Kolonnen des Westens, die es auszumerzen gelte.

Die radikalen sunnitischen Islamisten der Al-Kaida haben sich die religiöse "Säuberung" der muslimischen Welt auf die Fahne geschrieben. In ihrer Vision eines neuen Kalifats zwischen Bagdad und Marrakesch gibt es keinen Platz für Christen und Juden. Die Juden der arabisch-islamischen Welt sind schon beinahe vollständig nach Israel geflohen. Da liegt es in der Logik der Islamisten, jetzt die Kopten anzugreifen – mit etwa acht Millionen die größte christliche Minderheit im Nahen Osten. Das Massaker von Alexandria ist darum mehr als nur ein weiterer Anschlag: Es droht die kulturelle Selbstverstümmelung der islamischen Welt durch schrittweise Vernichtung des orientalischen Christentums.

Leider sind die radikalen Extremisten nicht das einzige Problem – auch wenn die betroffenen Regierungen, die ihre Minderheiten nicht schützen, es gerne so darstellen. Doch das ägyptische Regime hat die schleichende Islamisierung der Gesellschaft geduldet, im Zuge derer Intoleranz gegenüber Nichtmuslimen salonfähig wurde. Kirchenbau ist in Ägypten eine kafkaeske Angelegenheit, während überall die Moscheen aus dem Boden schießen. Im Irak können Sunniten und Schiiten sich über kaum etwas einigen. Da kommen Christen als Blitzableiter gesellschaftlicher Konflikte gerade recht.

Wir müssen alles tun, um den Bedrängten zu helfen: Kampf den Terroristen, Druck auf die Regierungen, zur Not auch weitere Aufnahme von Flüchtlingen. Aber wir dürfen den Krieg der Religionen nicht akzeptieren, den uns die Fanatiker der Reinheit mit ihren totalitären Säuberungsphantasien aufdrängen wollen. Denn die eigentliche Kampflinie verläuft nicht zwischen, sondern in den Religionen: Die islamistischen Terroristen töten ja viel mehr Muslime als Andersgläubige. Der Kampf verläuft vielmehr zwischen denen innerhalb des Islams, die in einer multireligiösen Gesellschaft leben wollen und den Fanatikern der Reinheit.

Die größte Provokation für die Mörder im Namen der Reinheit ist übrigens die angstfreie Vermischung, auf der die Stärke der freien Gesellschaften beruht. Denn jeder Muslim, der friedlich und gut nachbarschaftlich im Westen lebt, ist eine wandelnde Widerlegung Bin Ladens.

Wir sehen das oft nicht mehr in unserer erregten Islamdebatte. Mit jedem Christen hingegen, der Ägypten oder den Irak verlässt, kommen die islamistischen Träumer des Absoluten ihrem Ziel näher. Darum müssen die Muslime – auch im Westen – den Kampf für die Rechte der Christen des Orients mit führen: Es ist auch ihr Kampf, die Differenz zwischen dem Islam und der aggressiven Ideologie der Extremisten deutlich zu machen.


Jörg Lau, Journalist und Autor, geboren 1964 in Aachen, war Literaturredakteur der tageszeitung und ist Mitarbeiter der ZEIT in Berlin.
Letzte Buchveröffentlichungen: "Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben" und "Bekenntnisse eines schwer erziehbaren Vaters".
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