"Sie wollen dieser Gefahr und diesem Druck nicht weiter standhalten"

Martin Schindehütte im Gespräch mit Ralf Bei der Kellen · 08.01.2011
Wird die Emigration der Christen aus Ägypten oder dem Irak anwachsen? Könnte dies zur Vertiefung konfessioneller Gräben zwischen dem Westen und dem Nahen Osten führen? Bischof Schindehütte befürchtet, dass vor allem junge Christen "Jetzt reicht's" sagen und ins Ausland gehen.
Ralf Bei der Kellen: Der Gottesdienst war noch nicht ganz zu Ende, als die ersten Menschen in der Neujahrsnacht die St.-Markus-und-Petri-Kirche in der nordägyptischen Stadt Alexandria verließen. Um 20 Minuten nach Mitternacht explodierte gegenüber der Kirche eine Bombe, die bislang 23 Todesopfer forderte. Die Opfer waren allesamt Kopten, eine christliche Minderheit, die geschätzte 9 Prozent der Gesamtbevölkerung Ägyptens ausmacht.

Die Welt reagierte entsetzt auf das Attentat. US-Präsident Obama verurteilte den Terroranschlag als "ungeheuerlich", der ägyptische Staatspräsident Mubarak sagte, man werde dem Terrorismus den Arm abhacken, und der Papst forderte einen besseren Schutz der Christen weltweit – wobei er vor allem die Regierungen an ihre Pflichten erinnerte. Nach dem ersten Schock stellte sich vor allem die Frage, welche Auswirkungen dieser letzte in einer Serie von Anschlägen auf Christen in muslimischen Ländern haben kann. Wird die Immigration der Christen aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens zunehmen, und könnte dies vielleicht zu einer Vertiefung konfessioneller Gräben führen?

Ich habe vor der Sendung mit dem Auslandsbischof der evangelischen Kirche in Deutschland Martin Schindehütte gesprochen und wollte zunächst von ihm wissen, ob der Anschlag auf die Kopten in Alexandria für ihn vollkommen überraschend kam oder ob es die Fortsetzung eines bekannten Musters war.

Martin Schindehütte: Also es ist die Fortsetzung einer für die Kopten in Ägypten schon über Jahrzehnte schwierige Situation, es hat allerdings eine neue Qualität. Dass so systematisch nach einem Neujahrsgottesdienst die Christen sozusagen mit diesem Bombenanschlag getroffen worden sind, das gab es in dieser Eskalationsstufe noch nicht. Die Kopten sind schon seit Jahrzehnten wie gesagt immer wieder in Schwierigkeiten in Ägypten, weniger mit dem Staat, da gibt es eine klare Politik der Koexistenz, aber doch mit muslimischen Gruppen, die seit langer Zeit immer wieder vor allen Dingen in Oberägypten koptische Gemeinden bedroht haben und wo es immer wieder auch mal zu Morden gekommen ist. Die Qualität ist neu, die Tatsache der gewaltsamen Auseinandersetzung ist mir seit langem bedrückend bekannt.

Bei der Kellen: Wo Sie gerade vom Staat sprechen: Der ägyptische Staatspräsident Husni Mubarak so wie auch die Muslimbruderschaft haben ja diesen Anschlag relativ schnell verurteilt. Aber wenn man sich jetzt die Benachteiligung von Christen in Ägypten ansieht, dann kann einem ja schon der Gedanke kommen, dass es sich hierbei nur um Lippenbekenntnisse handeln könnte. Wie sehen Sie das?

Schindehütte: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, es ist ein ganz wichtiges Signal, dass hohe Repräsentanten des Islam in Ägypten, der Präsident der Azhar-Universität, der Großmufti direkt den Papst Shenouda, also das Oberhaupt der koptischen Kirche, besucht haben – das ist nicht nur ein Lippenbekenntnis. Das zeigt auf, dass die staatliche Politik und die Religionspolitik schon auf Toleranz und Koexistenz ausgelegt ist, dass aber weder der Staat noch die religiösen Führer ihre eigenen Leute so unter Kontrolle haben, dass sie diesem Extremismus wehren können. Ich glaube nicht, dass es ein Lippenbekenntnis ist, gleichwohl muss man sagen, könnte in der ägyptischen Gesellschaft für die Kopten, sagen wir mal, die Perspektive deutlicher, heller und besser sein als sie ist.

Bei der Kellen: In den letzten Jahren und Monaten hat man ja in den hiesigen Medien vor allen Dingen viel über die Lage der Christen im Irak oder in der Türkei gehört. Wie gravierend ist denn im Vergleich die Lage in Ägypten?

Schindehütte: Also so systematisch wie im Irak angekündigt wird, dass man Christen sozusagen so lange gewalttätig bedrängen wird, bis sie das Land verlassen, in dieser Systematik und Strategie, in der dort nicht der Staat, sondern wiederum islamistische Gruppen das bewerkstelligen – in dieser strategischen Gewaltanwendung war das in Ägypten bisher nicht der Fall. Und ich hoffe nicht, dass das darauf überspringt. Es gibt aber auch Hinweise und Signale, die deutlich machen: Hier könnte es sich um eine Strategie der Gewaltanwendung handeln, bei der im gesamten Nahen Osten die Christenheit so stark bedrängt wird, dass sie noch massiver als das ohnehin schon der Fall ist das Land verlässt.

Bei der Kellen: Laut Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR hat in den letzten Jahren rund die Hälfte der christlichen Minderheit im Irak das Land verlassen. Gehen Sie davon aus, dass diese Emigrationswelle jetzt auch Ägypten erfassen wird?

Schindehütte: Ich hoffe nicht, dass es in Ägypten zu einer solchen Auswanderungswelle kommt. Ich habe aber einzelne Nachrichten gelesen von jungen Christen, die sagen, jetzt reicht's, jetzt gehen wir. Das ist ein Mechanismus, der im ganzen Nahen und Mittleren Osten gerade junge Christen bewegt, das Land zu verlassen. Sie sind gut ausgebildet, sie sehen in ihren Ländern keine Zukunft mehr, sie wollen dieser Gefahr und diesem Druck nicht weiter standhalten, und sie haben schon Auslandsgemeinden in Deutschland, in den USA. Das heißt, es gibt gebahnte Wege, auf denen sie emigrieren können ins Ausland, und ich fürchte, das wird weitergehen. Im Irak, haben Sie Recht, die Hälfte geht, und die andere Hälfte wird jetzt möglicherweise auch noch gehen.

Bei der Kellen: Lassen Sie uns noch kurz bei dem Thema Emigration bleiben. Hinter der Diskussion um die Auswanderung von Christen steht ja auch eine gewisse Angst vor einer Entwicklung, die im Extremfall dazu führen würde, dass sich irgendwann quasi rein muslimische Staaten im Nahen und Mittleren Osten und mehrheitlich christliche Staaten in Europa gegenüberstehen würden, dass es also sozusagen zu einer, ja, Blockbildung wie zu Zeiten des Kalten Krieges kommen könnte. Ist diese Angst vor einer solchen Konfrontation gerechtfertigt, was meinen Sie?

Schindehütte: Jedenfalls wenn die Entwicklung so weitergeht, muss man sowas einkalkulieren, muss sich klar machen, dass es dann gerade in den Ursprungsländern der Christenheit und in den biblischen Ursprungsländern jedenfalls kaum noch oder gar keine Christen mehr geben wird. Das Zusammenleben in einer Gesellschaft führt ja auch zum gegenseitigen Wissen umeinander, es führt dazu, dass man lernt, tolerant miteinander umzugehen. Wenn sich das entmischt, dann haben wir in der Tat die Gefahr, dass es zu einer Blockbildung kommt, dass das Unverständnis übereinander wächst, und dass das dann auch in der Politik zwischen den in Anführungsstrichen christlichen Staaten und islamischen Staaten eine Rolle spielen wird. Ich hoffe nicht, dass es so kommt, aber diesen Gedanken kann man haben.

Bei der Kellen: Betrachtet man die Lage der Christen im Nahen und Mittleren Osten, dann scheint es ja auch so, dass die Benachteiligung der Christen vor allem in den letzten sieben Jahren zugenommen hat. Zum Beispiel sind die Christen im Irak, über die wir ja schon gesprochen haben, eben seit dem Sturz Saddam Husseins stärker Verfolgung ausgesetzt gewesen, weil man sie wohl eben häufig für Verbündete der Amerikaner hielt, die den Islam schwächen wollten. Könnte man das Attentat auf die Kopten in Ägypten jetzt auch als eine Art Erbe des Irakkrieges deuten?

Schindehütte: Also ich sehe wie Sie, dass es sein kann und dass es ja auch ein ständiges Argumentationsmuster ist, das Christen für westlich gehalten werden. Das ist historisch vollkommen falsch. Gleichwohl: Es ist so, und damit geht diese Lagerbildung weiter. Und der amerikanische Einmarsch im Irak und das amerikanische Engagement im Irak ist von sehr, sehr vielen so gedeutet worden, und das überträgt sich dann in der Tat auf den gesamten Nahen Osten, und dann ist Christsein gleich westlich und Islamsein gleich arabisch oder nah- und mittelöstlich, und dann haben wir ein ernstes Problem. Ja, es gibt diesen Zusammenhang.

Bei der Kellen: Was halten Sie denn von den Überlegungen deutscher Politiker über die Entwicklungshilfe für Ägypten, Einfluss auf den dortigen Umgang mit Christen nehmen zu wollen?

Schindehütte: Nix, um es ein bisschen salopp zu sagen. Wer sich klar macht, jedenfalls was Entwicklungszusammenarbeit, etwa die Entwicklungszusammenarbeit der Kirchen anbetrifft, der weiß von vornherein, dass Entwicklungszusammenarbeit gar nicht anders geht, als dass sie damit einhergeht, dass Menschenrechte gestärkt werden, dass verschiedene Gruppen zueinander geführt werden. Also: Entwicklungszusammenarbeit ist, jedenfalls im Verständnis des Evangelischen Entwicklungsdienstes, in dessen Leitungsgremium ich bin, immer auch Menschenrechtsarbeit, und deswegen wäre es ein Unsinn, das entkoppeln zu wollen. Das hilft überhaupt gar nicht weiter, weil Entwicklungsarbeit genau Menschenrechtsarbeit ist. Entwicklungszusammenarbeit muss gerade daran arbeiten, dass die unterschiedlichen sozialen Gruppen, kulturellen Gruppen und religiösen Gruppen an der Entwicklung des Gemeinwesens zusammenarbeiten. Das ist der innere Kern der Entwicklungszusammenarbeit, und mit solchen Forderungen stellt man den in Frage.

Bei der Kellen: Bischof Schindehütte, viele Menschen hierzulande stehen diesem Anschlag ja jetzt relativ hilflos gegenüber. Wir sind betroffen und würden gerne irgendetwas tun, um diesem Konflikt entgegenzuwirken. Was kann jetzt der Einzelne, der Bürger auf der Straße, was kann der tun, was würden Sie dem raten?

Schindehütte: Der sollte sich intensiver danach fragen, wer in dem Haus nebenan wohnt oder in der Straße nebenan wohnt. Es gibt gut 6000 koptische Christen, es gibt rum-orthodoxe Christen, es gibt Muslime verschiedener Prägung. Wenn wir als Bevölkerung, wenn jeder Einzelne hinschaut, welche Menschen um ihn herum leben, dann geschieht viel. Wir hatten in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen mal eine Aktion, die hieß "Lade deinen Nachbarn ein". Jetzt gibt es eine Aktion, die heißt "Weißt du, wer ich bin?" Das sind Kampagnen, in denen Menschen einander begegnen, voneinander lernen und auf diese Weise die Ängste voreinander abbauen, und möglicherweise sogar entdecken, wie spannend und interessant eine andere Kultur sein kann. Darin liegt die große Chance, und die sollten wir nutzen.

Bei der Kellen: Sollte man hierzulande auch drüber nachdenken, Christen aus Ägypten in Zukunft aufzunehmen?

Schindehütte: Ich glaube, das wird auf der einen Seite unvermeidlich werden, dass man Menschen, die in eine so extreme Lage geraten sind, dass sie dort nicht mehr leben können, bei uns aufnimmt. Das ist ja gerade geschehen mit irakischen Christen, 2500 sind gekommen aus dieser Zahl von 1,2 Millionen Flüchtlingen, die in den Nachbarstaaten des Irak leben. Das ist eine sehr, sehr kleine Zahl. Also das wird nötig sein, aber wir sollten damit nicht sozusagen dem Vorschub leisten, dass die Christen das Land dann sozusagen in noch stärkerem Maße verlassen, als es unbedingt nötig ist. Die christlichen Führer vor Ort sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, dort in den Ländern, in den Ursprungsländern des Glaubens zu bleiben, und dem Schutz für ihre anbefohlenen Gläubigen, und das ist eine ganz schwierige Entscheidung. Und man wird einmal intensiv daran arbeiten müssen, dass die Menschen im Land bleiben können, und man wird da, wo es gar nicht mehr anders geht und wo Leib und Leben bedroht ist, Menschen auch bei uns aufnehmen müssen und dann auch gerne aufnehmen wollen.

Bei der Kellen: Die Jahreslosung für 2011 lautet ja "Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem." Würden Sie diesen Rat auch den Kopten in Ägypten geben?

Schindehütte: Den Rat würde ich uns allen geben, auch den Kopten in Ägypten. Das ist nicht ganz einfach, in so einer Situation, wo man so massiv verwundet und verletzt ist, die einen real, bis zum Tode, die anderen in ihrer Seele, dann sozusagen nicht mit Gegengewalt und nicht mit Wut und mit Bösem zu antworten, und es ist ja auch gleich in der Nacht zu einer Erstürmung oder einem Angriff auf die gegenüberliegende Moschee gekommen. Ich kann das gut verstehen. Auf der anderen Seite glaube ich haben wir nur dann eine Chance, wenn wir dieses Spiel oder diese Logik von Gewalt und Gegengewalt durchbrechen. Das ist nicht nur christlich geboten, es ist auch politisch hochvernünftig, so zu handeln, denn nur auf diese Weise entzieht man sich gegenseitig die Legitimation zu weiterer Gewalt. Wenn Gewalt mit Gewalt beantwortet wird, dann ist sie der Grund für die Gegengewalt, und wieder und wieder und wieder, hin und her. So schwierig das ist, so vernünftig ist es, zu versuchen, das Böse mit Gutem zu überwinden.

Bei der Kellen: Vielen Dank, Bischof Schindehütte, für das Gespräch!
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