Die Chronik einer Krankheit

20.10.2011
In diesem sehr persönlichen Buch erzählt António Lobo Antunes sehr offen von seiner Darmkrebserkrankung. In Tagebucheinträgen lässt "Senhor Antunes" zwei Wochen lang sein Leben Revue passieren - und überwindet so die Angst vor dem Tod.
Es gibt Romane, die sind durchdrungen von einer Art Unausweichlichkeit. Der Dringlichkeit ihrer situativen Grundlage entkommt man ebenso wenig wie dem Sog ihrer Form, die genau so und nicht anders ausfallen konnte. Diesem Sog muss man sich überlassen können (und wollen), sonst wird aus dem Leseabenteuer nichts.

Das Motiv der Unausweichlichkeit ist in António Lobo Antunes' Roman eine Diagnose: Darmkrebs, operabel immerhin. Aber zugleich ohne die geringste Gewissheit, dass ein entsprechender Eingriff das Problem endgültig beseitigen würde. Was nichts anderes heißt als sich vorzubereiten auf den Gedanken, dies könne auch der Anfang vom Ende sein.

Nichts anderes als eine zumindest gefühlte Todesnähe verleiht diesem Text denn auch seine Struktur. Wie man das aus Berichten von Personen kennt, die bereits "auf der anderen Seite" gewesen sind (oder gewesen sein wollen), verdichtet sich die Erfahrung des Lebens zu einem Strom aus erinnernden Assoziationen, biografischen Momenten, die wie abgerissene Gedächtnisfetzen aufflackern und sofort von anderen Momenten abgelöst werden, die andere Personen, andere Lebensumstände, andere Situationen betreffen. Dies alles blitzschnell, ohne wirkliches Bewusstsein, ein irrsinnig beschleunigter Film, der dennoch alles Wesentliche zeigt und deutlich macht.

Lobo Antunes ist klug genug, sich dieser Rasanz zu verweigern, die einem Roman nicht sehr gut ansteht und allenfalls als pfeilschnelles expressionistisches Gedicht ("Sekunde durch Hirn") zu gewissen Ehren kommen konnte. Er kleidet seinen Text in die Form eines Tagebuchs, das vorgeblich zwischen dem 21. März und dem 04. April 2007 entstanden ist - letztlich auch nur zwei Wochen, aber doch lang genug, um die Unmittelbarkeit dieses Moments der Todesnähe-Erfahrung deutlich auf ein prosataugliches Maß zu dehnen.

Was da genau erzählt wird, lässt sich kaum rekapitulieren. Es besteht aus fiebrigen Textschüben, die von Lebensstationen und Personen aus dem Leben jenes "Senhor Antunes" handeln, der da als älterer Mann in einem Lissaboner Krankenhaus liegt und sich in flashartiger Abfolge Szenen aus seinem Leben wachruft. Übergangslos schlüpft dieser "Senhor Antunes" aber auch in die Rolle des kindlichen "Antoninho", taucht ein in die Erinnerungen an eine Kindheitserkrankung, von der aus die Bilder an die Kindheit und die sie umgebenden Personen aufsteigen. Wer da zählen wollte, käme womöglich auf 1001 Episoden. Es ist ein schwer zu greifender, fast somnambuler Text - man stellt ihn sich vor nicht nur unter dem Eindruck der Todesnähe, sondern auch provoziert von den Nebenwirkungen starker Medikamente.

Und so gerät dieser Text letztlich zu einer poetischen Bildfolge in Prosa, deren Zauber in der magischen Melodie des Erzählten besteht. Dieses Erzählte ist durchaus unspektakulär, Lebensepisoden, wie sie wohl millionenfach vorkommen mögen. Es ist diese ganz und gar artifizielle Art, sie umzusetzen, die das Ganze zu Kunst macht.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

António Lobo Antunes: An den Flüssen die strömen
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Luchterhand Literaturverlag, München 2011
223 Seiten, 22,99 Euro

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