Die Anklageschrift war "etwas sehr ambitioniert"

Michael Martens im Gespräch mit Britta Bürger |
Aus Mangel an Beweisen ist der ehemalige UÇK-Führer Ramush Haradinaj in Den Haag von allen Anklagepunkten freigesprochen. Ein Grund dafür sei, dass Carla del Ponte sich in ihrer Anklageschrift "übernommen" habe, meint der langjährige Balkan-Korrespondent der "FAZ", Michael Martens.
Britta Bürger: Ramush Haradinaj, der frühere UÇK-Führer und kurzzeitige Ministerpräsident des Kosovo, ist heute in Den Haag vom UNO-Tribunal für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien erneut freigesprochen worden. Bevor wir das Urteil im Gespräch mit Michael Martens, dem langjährigen Balkankorrespondenten der "FAZ" bewerten lassen, rollt Stephan Oszváth den Fall Haradinaj noch mal auf.

Ramush Haradinaj bleibt also eine umstrittene Person, auch nach dem heutigen Freispruch des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Wir wollen dieses Urteil im Folgenden von Michael Martens bewerten lassen, dem langjährigen Balkan-Korrespondenten der "FAZ". Ich grüße Sie, Herr Martens!

Michael Martens: Schönen guten Tag!

Bürger: Die Chefanklägerin Carla del Ponte hatte sich bereits nach dem ersten Freispruch entsetzt darüber geäußert, wir haben es gehört. Wie erklären Sie sich diese weitere Niederlage der Anklage?

Martens: Die erkläre ich mir zum Teil jedenfalls auch durch die sehr ehrgeizigen Anklageschriften, die Frau del Ponte in ihrer Zeit als Chefanklägerin – sie ist es ja jetzt schon seit einigen Jahren nicht mehr – verfasst hat. Frau del Ponte hat sich in vielen Fällen – Haradinaj ist nicht das einzige Beispiel dafür – in ihren Anklageschriften oft übernommen. Sie hat nicht auf handfeste, klar beweisbare, leicht nachvollziehbare Verbrechen sich konzentriert, sondern hat immer einen ganz großen, politisch-historischen Bogen gespannt und sozusagen die Geschichte der Kriege in ihren Anklageschriften erzählt. Das mag sich dann interessant lesen, aber es ist etwas überambitioniert oder etwas sehr ambitioniert, und so haben wir es jetzt auch hier wieder im Fall Haradinaj erlebt. Es ist ja nicht so, dass die Richter in ihrer Urteilsbegründung für den abermaligen Freispruch nicht sagen, diese Verbrechen hat es nicht gegeben – die hat es sehr wohl gegeben, und das sehen die Richter in den meisten Fällen auch als erwiesen an –, aber dieses gemeinsame kriminelle Unternehmen, das Frau del Ponte in ihre Anklageschrift reingeschrieben hat, laut der Haradinaj und seine beiden Mitangeklagten also flächendeckend versucht haben, Serben und Roma aus den von ihnen kontrollierten Gebieten zu entfernen, zu vertreiben, das hat sich eben so, wie in der Anklageschrift definiert und beschrieben, nicht beweisen lassen. Hätte man die Anklage ein wenig einfacher formuliert, wäre das vielleicht ganz anders gelaufen.

Bürger: Das Problem also der schwierigen Beweislage. Aber es gibt auch das Problem der fehlenden Zeugen, die wohl nicht immer eines natürlichen Todes gestorben sind.

Martens: Ja, also es gibt auf jeden Fall ein Problem, darin würde ich Frau del Ponte wieder recht geben – wir haben es ja in dem Vorbeitrag eben gehört –, ob es nun ein besonders weiser Entschluss war, Herrn Haradinaj vor Beginn seines Prozesses wieder auf freien Fuß zu setzen und ins Kosovo zurückzulassen, einen kleinen Staat von gerade mal zwei Millionen Einwohnern, in dem vielleicht nicht jeder jeden, aber viele, viele kennen, dass darf doch bezweifelt werden.

Bürger: Was bedeutet dieser Freispruch für Haradinaj und seine künftige Rolle im Kosovo?

Martens: Für Haradinaj bedeutet das, dass er jetzt – das war ja bereits der zweite Freispruch – wieder politisch aktiv werden kann, es bedeutet für ihn, dass er sozusagen mit dem Rückenwind eines Helden in Den Haag – so werden ihn viele Albaner sehen – also wieder die politische Arena betreten kann im Kosovo. Es gibt einige, die glauben, er könne wieder Ministerpräsident werden. Also dem hat das Ganze Prozedere sicherlich nicht geschadet.

Bürger: Im Kosovo haben viele ja mit diesem Freispruch gerechnet, wohl schon einen festlichen Empfang für ihn vorbereitet. Zugleich hat das Innenministerium aber die Sicherheitsvorkehrungen in den von Serben bewohnten Gegenden erhöht. Welche Reaktionen sind denn von serbischer Seite auf dieses Urteil zu erwarten?

Martens: Na ja, die hat es ja schon gegeben. Heute hat sich die politische Elite in Belgrad relativ geschlossen empört gezeigt, das ist ja mehr oder weniger eine ritualisierte Reaktion, nachdem es Freisprüche in Den Haag gibt, auf serbischer Seite, wenn der Freigesprochene also kein Serbe ist. Da darf man natürlich nicht vergessen, dass die heutige Führung, Präsident Nicoliæ und Ministerpräsident Daèiæ selbst, in den 90er-Jahren zu jenen gehörten, die als Teile des Miloseviæ-Regimes zumindest rhetorisch die Kriege unterstützt haben, die das Regime geführt hat.

Bürger: Erneut gab es heute einen Freispruch vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag: Aus Mangel an Beweisen wurde der ehemalige UÇK-Führer Ramush Haradinaj von allen Anklagepunkten freigesprochen. Darüber sprechen wir hier im Deutschlandradio Kultur mit Michael Martens, dem langjährigen Balkankorrespondenten der "FAZ". Ein Problem des UNO-Tribunals ist ja, Herr Martens, dass es nicht mit eigener Polizeimacht ermitteln kann, nicht handeln kann, sondern immer auf internationale Kooperation angewiesen war und ist. Sind also jetzt noch weitere Revisionen zu erwarten?

Martens: Die sind zu erwarten, aber ich glaube, das hat nichts damit zu tun, dass das Den Haager Tribunal nicht selbst ermitteln kann, sondern wir haben ja noch einige Prozesse, die laufen – einige der größten Prozesse laufen noch, der Prozess gegen Radovan Karadžiæ, den früheren bosnischen Serbenführer, und der Prozess gegen Ratko Mladiæ, den früheren General, der das Massaker von Srebrenica zu verantworten hat. Und man kann natürlich davon ausgehen, man muss wohl davon ausgehen, dass auch diese Fälle wieder in Berufung gehen, das heißt, einige Jahre wird das Tribunal noch brauchen, um seine Arbeit abschließen zu können.

Bürger: Aber eigentlich war es ja temporär angelegt, die Arbeit sollte 2014 enden, es herrscht also großer Zeitdruck. Ist das überhaupt alles zu machen bis dahin?

Martens: Nein, die Deadlines sind schon mehrere Male nach hinten verschoben worden, temporär, also auch, wenn es dann nur 30 Jahre oder 25 Jahre arbeitet, wäre das ja immer noch temporär. Ich denke, im Rückblick kann man sagen, 1993, als das Tribunal ins Leben gerufen wurde, herrschte große Skepsis vor, und es war nicht selten die Meinung zu hören, na ja, die großen Kriegsverbrecher, die werden wir da ja sowieso nicht sehen. Das hat sich als übertrieben pessimistisch herausgestellt. Wir haben eigentlich fast alle großen Verbrecher, mutmaßlichen Verbrecher dort gesehen, und wenn das Tribunal jetzt noch zwei, drei Jahre mehr braucht und vielleicht erst 2016 seine Arbeit abschließen wird, dann wird man es daran sicherlich nicht scheitern lassen, denke ich.

Bürger: Gerade vor zwei Wochen hat das Tribunal ja den kroatischen General Ante Gotovina in der Revision freigesprochen, nun also den nächsten heute, der nächste Freispruch heute. Was sagt es denn insgesamt jetzt über die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien aus? Wird das nicht doch immer wieder als Signal auch gewertet, es gab keine Kriegsverbrechen?

Martens: Das glaube ich nicht, also Gerichte verurteilen und sprechen schuldig, und Gerichte sprechen frei. Es wäre ja auffällig, wenn alle 161 Angeklagten – ich glaube, so viele sind es insgesamt – für schuldig gesprochen wären, das müsste ja auch zu denken geben, was eigentlich hinter diesem Tribunal steckt. Es gibt eben auch Freisprüche – wie gesagt, einige Freisprüche bedeuten ja überhaupt nicht, dass die mutmaßlichen Kriegsverbrecher tatsächlich unschuldig sind, sondern nur, dass man ihnen im Sinne der Anklage, die eben, wie ich schon eingangs sagte, oft sehr ambitioniert gestaltet ist, nichts hat nachweisen können. Es gab sehr viele Schuldsprüche, und es gab auch einige Freisprüche, über die man im Detail natürlich auch gerade im Fall Gotovina vor zwei Wochen, immer streiten kann.

Bürger: Was wird dieser Gerichtshof an Erbschaft hinterlassen, inwieweit wird man auch danach von seiner Arbeit profitieren können?

Martens: Das ist, glaube ich, eine ganz wichtige Frage, und eine, die sich relativ positiv beantworten lässt. Ob dieser Gerichtshof nun im Sinne der Opfer Gerechtigkeit herstellen kann, das kann man bezweifeln, weil natürlich die Opfer auch durch harte Urteile ihre Angehörigen, die ermordet worden sind, nicht zurückbekommen. Aber etwas unglaublich wichtiges, was dieses Tribunal hinterlässt, ist das immense Archiv an Dokumenten, die späteren Generationen von Historikern einmal zur Verfügung stehen werden. Ich glaube, das ist kaum zu unterschätzen, auch für die spätere Geschichtsschreibung des Balkans.

Bürger: Ein Archiv, vor allen Dingen aus Zeugenaussagen?

Martens: Das sind auch Zeugenaussagen, viele, viele Stunden – ich weiß nicht, ob es Hunderte oder Tausende sind – auf Band aufgezeichnet, auf Video aufgezeichnet, das auch, aber es sind auch natürlich Dokumente aus den Staaten, aus den Krieg führenden Staaten, die wir anderenfalls vielleicht erst in 30 Jahren oder auch nie zu sehen bekommen würden. Die Staaten waren ja verpflichtet, im Rahmen ihrer Kooperation mit dem Tribunal, Geheimdienstdokumente oder Mitschriften von Sitzungen der nationalen Sicherheitsräte nach Den Haag zu geben, und gerade Serbien hat das auch zögerlich, aber hat es dann tun müssen, hat es getan, sodass wir also im Besitz jetzt sind von Dokumenten, die normalerweise wir vielleicht nie zu sehen bekommen hätten.

Bürger: Michael Martens, langjähriger Balkankorrespondent der "FAZ" über den heutigen Freispruch des ehemaligen UÇK-Führers Ramush Haradinaj vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. Herr Martens, danke fürs Gespräch!

Martens: Ihnen auch vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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