Die "anderen Deutschen"

Rezensiert von Udo Scheer · 05.04.2009
Unter den Sudetendeutschen stellten Antifaschisten - Sozialdemokraten, Kommunisten, aber auch Katholiken - eine Minderheit von weniger als zehn Prozent. In Tschechien wurde das an ihnen begangene Unrecht bis weit in die 1990er Jahre tabuisiert. Und auch in Deutschland erinnern jetzt erstmals 15 von Alena Wagnerová und fünf Co-Autoren veröffentlichte Porträts an diese "anderen Deutschen". In ihrem jüngsten Sammelband verweist bereits das Grußwort auf die darin enthaltene Problematik:
"Alena Wagnerová hat nach einem der angreifbarsten, aber auch verdienstvollsten Themen gegriffen."

Tatsächlich gehen die Autoren ein mindestens doppeltes Wagnis ein. Denn eine repräsentative Auswahl antifaschistischer Akteure aus den 1930iger Jahren stößt längst an biologische Grenzen. Dort, wo ihre Kinder berichten, erscheint das politische Leben ihrer Eltern nicht selten verklärt und unscharf. Zudem basieren alle fünfzehn Porträts ausschließlich auf der Methode der Oral history. So entstanden letztlich subjektive Selbstporträts, die kaum hinterfragt oder im historischen Kontext kritisch bewertet werden. Dennoch bieten sie lesenswerte Einblicke in das soziale Leben und politische Selbstverständnis ihrer Zeit.

In jedem der Lebensberichte stellen das Jahr 1938 - der Einmarsch von Hitlers Wehrmacht und die Ausrufung des Sudetengaus als Folge des Münchener Abkommens –, sowie das Jahr 1945 – der Zusammenbruch des "Tausendjährigen Reiches" mit der Vertreibung fast aller Sudetendeutscher – entscheidende Zäsuren dar.

Traditionell waren die Sudetengebiete bis Ende der 20er Jahre sozialdemokratisch geprägt. Mehrere Befragte erzählen vom Zusammenhalt in Arbeiter-, in Wohlfahrts- und Konsumvereinen und dem einvernehmlichen Leben unter tschechischer Verwaltung. Ida Wöhl, deren Mutter als kommunistische Funktionärin 1929 einer Moskau-Delegation angehörte, erinnert sich heute so:

"Für die junge Generation im Haus bedeutete die Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei mehr Geselligkeit denn Ideologie. In der kommunistischen Jugend fand man seinen Freundeskreis, mit dem man am Kratzauer Turnfest teilnahm, Ausflüge und Wanderungen machte und auch tanzen ging."

Dass Kommunisten mehr als nur geselliges Miteinander pflegten, lässt sich ahnen, wenn Ida Wöhl etwas später berichtet, wie Henlein-Anhänger an ihrem Haus, dem "Kommunistennest", Fensterscheiben einschlugen.

"So begann es, - wie heute mit dem Ausländerhass. Wir haben es der Polizei gemeldet, aber denen waren die Nazis doch lieber als die Kommunisten. Und so ist es bis heute geblieben."

Wie sehr die sowjetgesteuerten Kommunisten mit ihrem revolutionären Kampf gegen die bürgerliche Ordnung auch innerhalb der Sozialdemokratie auf Ablehnung stießen, schildert Maria Lippert emotional:

"Also, das bisschen Freude, dass ich in meiner Jugend hatte, habe ich der Sozialdemokratischen Partei zu verdanken. Unsere Solidarität, unsere Freundschaft war etwas Wunderbares. Ich hatte die Hoffnung, dass die Arbeiterklasse mal die Dinge anders machen wird als die Bourgeoisie... Die Kommunisten haben alles kaputt gemacht, die ganze Idee des Sozialismus versaut, wenn ich einen solchen Ausdruck benutzen darf."

Vor allem die Folgen der Weltwirtschaftskrise – dramatische Arbeitslosigkeit und größte Not, besonders in den Grenzgebieten - führten Henleins Sudetendeutsche Partei zum Wahlerfolg. 1938 waren es 95 Prozent der Stimmen. In ihrer Hoffnung auf Arbeit folgte die übergroße Mehrheit blind der Nazi- und deren "Heim-ins-Reich"-Propaganda.

Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten wurden zum Feindbild. Mehrere der Kinder von damals erinnern sich an Diskriminierungen, auch durch Lehrer. Gewaltsame Auseinandersetzungen mit Henlein-Trupps kulminieren in einigen Berichten bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
Viele ihrer Familien teilten das Schicksal jener 200.000 "schlechten Deutschen", die nach der reichsdeutschen Okkupation ins Innere der Tschechoslowakei flohen. Wer Glück hatte und von der Partei als besonders gefährdet eingestuft wurde, der entkam organisiert ins Exil. Wer weniger Glück hatte, und das waren 20.000 Sudetendeutsche Antifaschisten, wurde bei seiner Rückkehr in die Heimatorte von der SS oft für Jahre in Konzentrationslager gesperrt. Die übrigen Rückkehrer wurden von den "Volksgenossen" häufig als Verräter beschimpft, ausgegrenzt, mit Arbeitsplatzverlust bedroht und mussten einem enormen – nicht nur politischen – Druck standhalten.

Mit dem Zusammenbruch des "Tausendjährigen Reiches" waren die Antifaschisten, wie alle Sudetendeutschen 1945, wilden Vertreibungen durch tschechische "Revolutionsgarden" ausgesetzt. Später akzeptierte die Beneš-Regierung ein Bleiberecht, sofern sie ihren deutschen Kultur- und Sprachraum aufgaben und die tschechische Staatsbürgerschaft annahmen. Nur 6.000 blieben. 79.000 Sozialdemokraten und 50.000 Kommunisten verließen ihre angestammte Heimat unter Druck. In einer Weihnachtsansprache 1946 bekräftigte der tschechische Staatspräsident Eduard Beneš die neue nationalistische Stimmung gegenüber den Deutschen:

"Das diesjährige Weihnachten bekommt eine besondere Bedeutung, einen eigenen Charakter auch dadurch, dass wir es in unserem Vaterland erstmals ohne die Deutschen feiern... Mit dieser Tatsache wurde ein großes Kapitel unserer Vergangenheit liquidiert."

Die Beneš-Regierung hatte zweieinhalb Millionen Sudetendeutsche für die NS-Verbrechen in Kollektivhaftung genommen, vertreiben lassen und ihr Recht auf ein Leben in der seit Generationen angestammten Heimat "liquidiert". Das betraf auch jene, die zusammen mit den Tschechen für ihren demokratischen Staat gegen Nazi-Deutschland gekämpft hatten. Helga Graf, deren Vater als Reichssekretär der demokratischen Bauernpartei für ein gutes deutsch-tschechisches Verhältnis gearbeitet hatte, bringt den doppelten Wahnsinn so auf den Punkt:

"Hier in Böhmen ist eine Lebensgemeinschaft, die seit Jahrhunderten bestanden hat, zerstört worden, sowohl auf deutscher, als auch auf tschechischer Seite."
Während heimatvertriebene Sozialdemokraten überwiegend in Bayern sesshaft wurden und mancher verbitterte, weil er für seine demokratische Loyalität von allen Seiten gestraft worden war, sahen die Kommunisten in der von ihrer Partei beschlossenen "Umsiedlung" – so ihr Sprachgebrauch – in die Sowjetische Besatzungszone weniger eine Strafe, als die Chance für ihren Neuanfang. Mehrere der Porträtierten fanden ihre Anerkennung als stramme Parteisoldaten. Und so fehlen auch nicht jene unter ihnen, die erst auf ihre dritte große Lebensniederlage - den Zusammenbruch der DDR - überaus frustriert reagieren.

Trotz Kritik am reinen Oral-history-Ansatz dieses Buches, sein Verdienst ist es zweifellos, im fast letztmöglichen Augenblick authentische Erinnerungen und durchaus lesenswerte Zeitzeugnisse der "anderen Deutschen" aus den Sudeten bewahrt zu haben.

Alena Wagnerová: Helden der Hoffnung
Aufbau Verlag
Cover: "Alena Wagnerová: Helden der Hoffnung"
Cover: "Alena Wagnerová: Helden der Hoffnung"© Aufbau Verlag