Deutschland und Israel

Welchen Schatten wirft ein Spiegel?

04:25 Minuten
Benjamin Netanyahu auf einer Wahlbühne mit Unterstützern, die ihn fotografieren, November 2022.
Benjamin Netanyahu vor seinen Anhängern: Sein Wahlsieg und das Wahlergebnis befördern Israel über eine entscheidende Schwelle, meint Ofer Waldman. © Getty Images / SOPA Images / LightRocket / Eyal Warshavsky
Ein Einwurf von Ofer Waldman · 09.11.2022
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Welche Auswirkungen hat der Rechtsruck bei den Wahlen in Israel auf das ganz besondere Verhältnis zu Deutschland? Weil die Antwort darauf nicht einfach ist, verwendet der israelische Autor und Musiker Ofer Waldman dafür das Bild eines Spiegels.
Welchen Schatten wirft ein Spiegel? Eine komische Frage, nicht wahr? Ich rede von Israel und dem, was aus diesem, meinen Land geworden ist. Sehr lange stand die einzige Demokratie im Nahen Osten vor einer Schwelle, immer ein wenig schwankend, wie ein Betrunkener. Die letzten Wahlen haben Israel jetzt über diese Schwelle befördert.
Aber zurück zur Frage: Welchen Schatten wirft ein Spiegel? Israel spielt in dieser Metapher übrigens den Spiegel, einen Spiegel, in den Deutschland gerne schaut und fragt: „Spiegel, Spiegel an der Wand, in der ganzen Welt, wer ist das moralischste Land?“

Bedingungsloser Beistand Deutschlands

Es gibt unterschiedliche Motivationen für diese Frage: Die einen wollen ihre minutiöse Vergangenheitsaufarbeitung zur Schau stellen. Zeigen, dass sie dem jüdischen Staat bedingungslosen Beistand leisten. Sie jagen Antisemiten unter jedem Baum, ja, sie sägen den Baum gänzlich ab, wenn nötig den ganzen Wald.
Dann, nach getaner Arbeit, schauen sie in den israelischen Spiegel, und erwarten ihre wohlverdiente Antwort: „Du, liebes Deutschland, bist in der ganzen Welt das moralischste Land.“
Für andere wiederum gibt es offenbar weltweit keine bessere Gelegenheit, sich für die Schwächsten der Erde einzusetzen, als Israel an den Pranger zu stellen. Sich mit der örtlichen AfD zu beschäftigen scheint ihnen wohl nicht glanzvoll genug zu sein.
Nein, sie wollen auf die Barrikaden, also das nachholen, was ihre Eltern 68 geleistet haben, wozu sie also leider einfach zu spät geboren wurden. Fluch der späten Geburt, sozusagen.

Das Wahlergebnis wirft ein grelles Licht

Nun aber werfen diese letzten Wahlen ein grelles Licht auf Israel, und – siehe da! – es ist alles anderes als ein Märchenland. Mit einer künftigen Koalitionspartei, die die AfD weit rechts überholt.
Man kann die Klischees nicht mehr hören: Wie kann ein Land, das aus der Asche des schlimmsten Verbrechens der Geschichte entstand, und so weiter und so fort. Wie kann auch das Land, das dieses Verbrechen verursachte, einen Bundestagabgeordneten ertragen, der bezüglich dieses Verbrechens vom „Vogelschiss“ redet? Die menschliche Natur macht es möglich.
Ein künftiger Koalitionär in Israel möchte die Gleichstellung der LGBTQI-Community rückgängig machen, und die verbrecherische „Konversionstherapie“ für Homosexuelle wieder legal machen. Ein anderer – wahrscheinlich der künftige Minister für innere Sicherheit – richtete mit seinem Wahlslogan, „Wer ist hier der Hausherr?“, eine unmissverständliche Botschaft an die Palästinenser.
Ein dritter, der entweder Finanz- oder Verteidigungsminister wird, hat einst eine öffentliche Kampagne gestartet, mit dem Ziel, dass Geburtsstationen ethnisch getrennt geführt werden. Dazu soll die Justiz in Anführungszeichen „reformiert“ werden: Ist es also ein Wunder, dass der erste Gratulant des Wahlsiegers Netanyahu kein anderer als Viktor Orban war?

Das Märchen ist vorbei

Ja, welchen Schatten wirft ein Spiegel, wirft Israel? Wohl einen ebenso düsteren, wie alle Demokratien, die in den rechtsradikalen Sturm geraten sind, der über unsere Welt fegt. Da ist Israel keine Ausnahme. Dies erkennen übrigens auch viele jüdische Gemeinden.
Nicht nur verabscheuen sie die neue Rhetorik aus Jerusalem. Sie ahnen, sie werden die Konsequenzen dafür tragen müssen, obwohl sie dafür nichts, aber auch gar nichts können.
Welchen Schatten wirft also ein Spiegel?
Das Märchen ist vorbei. Schau nicht in den Spiegel, liebes Deutschland, denn es geht hier nicht um Dich. Schau dahinter, auf den Schatten, gegen den offenbar niemand gefeit ist. Und auf die, die jetzt alles dransetzten, diesen Schatten zurückzudrängen.

Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, ist freier Autor und Journalist. Er war Mitglied des arabisch-israelischen West-Eastern-Divan Orchesters. In Deutschland spielte der diplomierte Orchestermusiker unter anderem beim Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin sowie den Nürnberger Philharmonikern. Er wurde an der Hebräischen Universität Jerusalem und der FU Berlin in Germanistik und Geschichtswissenschaft promoviert. Waldman beschäftigt sich in Vorträgen und Texten mit den deutsch-jüdischen, deutsch-israelischen und israelisch-arabischen Beziehungen.

Porträt des Autoren und Journalisten Ofer Waldman
© Tal Alon
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