Deutscher Luftangriff auf Coventry von 1940

Ein Kreuz aus den Ruinen wurde Symbol für Versöhnung

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Nahaufnahme des Nagelkreuzes vor verschwommenem Hintergrund.
Das ursprüngliche Nagelkreuz wurde aus Zimmermannsnägeln der Dachbalken der 1940 zerstörten Kathedrale von Coventry gefertigt. © Picture Alliance / dpa / Ralf Hirschberger
Von Michael Hollenbach · 10.05.2020
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Der deutsche Luftangriff am 14. November 1940 traf das britische Coventry schwer. Hunderte starben, die Kathedrale stand in Flammen. Aus den Trümmern der Kirche wuchs eine weltweite Friedensbewegung: die Nagelkreuzgemeinschaft.
Am 14. November 1940 bombardierte die deutsche Luftwaffe unter dem zynischen Decknamen "Unternehmen Mondscheinsonate" die englische Industriestadt Coventry.
"Es war damals der erste komplette, flächendeckende Versuch, eine Stadt auszulöschen, der durch die Deutschen unternommen wurde", sagt Oliver Schuegraf, evangelischer Theologe und Vorsitzender der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland.
"Man hat die mittelgroße Stadt Coventry ausgesucht, in der auch viel Industrie war, wirklich mit dem Ziel, sie vollständig auszulöschen - daraus ist dann auch das unrühmliche Wort ‚coventrieren‘ hinterher entstanden."

Versöhnungspredigt inmitten von Trümmern

In Coventry wurde 1940 unter anderem die mittelalterliche Kathedrale völlig zerstört. Aus den Zimmermannsnägeln der Dachbalken fertigte einer der Geistlichen ein kleines Nagelkreuz. Es sollte später zum Namensgeber und Symbol der weltweiten ökumenischen Gemeinschaft werden.
Die Ruinen der Coventry Cathedral 1955.
Symbol des Vernichtungswillens, Ort der Versöhnung: die Ruine der Kathedrale von Coventry 1955© Picture Alliance / Mary Evans Picture Library
Nur wenige Wochen nach dem Angriff hielt Dompropst Dick Howard eine Weihnachtspredigt, die von der BBC übertragen wurde. "Beeindruckend war für mich, dass noch während des Krieges der Dompropst beschlossen hat, hier muss Versöhnung geschehen", sagt Pfarrer Thomas Bergholz von der evangelischen Kirchengemeinde Alt-Saarbrücken, die im vergangenen Herbst als Nagelkreuzzentrum anerkannt wurde. Bergholz hat die Ruine der Kathedrale in Coventry besucht:
"Da geht es nicht um Rache oder Vergeltung oder um Wiedergutmachung, sondern es geht um Frieden und Versöhnung. Und das ist ja ein ganz außerordentlicher Schritt, weil das ja von den Opfern ausging."

Bitte um Vergebung schlägt Brücke zwischen Kriegsgegnern

"Der Propst hat an die Außenmauer der Kathedrale die Worte schreiben lassen: Vater vergib", erklärt Oliver Schuegraf. "Und dann haben viele Leute gesagt: Das ist falsch, das muss doch heißen ‚Vater vergib ihnen‘. Was haben wir denn damit zu tun?" Aber der Propst habe von Anfang an eine sehr klare Haltung vertreten: "Wenn es um uns Menschen geht, brauchen wir alle die göttliche Vergebung."
1959 entstand dann das Versöhnungsgebet von Coventry, das bis heute jeden Freitag in der Ruine der Kathedrale und an zahlreichen Orten der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft gebetet wird. "Alle haben ja Unrecht begangen", so beginnt es mit Worten aus dem Römerbrief, "allen fehlt die Klarheit Gottes. Darum beten wir: Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse, Vater, vergib."
Finale Inspektion der Nagelkreuzskulptur von Geoffrey Clarke vor ihrer Installation.
Anfang der 1960er Jahre gestaltete der Künstler Geoffrey Clarke eine Skulptur mit Nagelkreuz für die wieder aufgebaute Kathedrale von Coventry.© Getty Images / Mirrorpix
Gerade in den vergangenen Wochen und Monaten haben Nagelkreuzinitiativen in Deutschland vor Ort an die Bombardierungen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erinnert. Das sei typisch für das Wirken vieler Gruppen, sagt Oliver Schuegraf:
"In Deutschland kann man sagen, dass fast alle Nagelkreuzzentren etwas mit der Zerstörungsgeschichte des Zweiten Weltkrieges zu tun haben. Sei es eben, dass ihre Kirche auch im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, und dass das ein sehr prägendes Erlebnis und Erfahrung weiterhin im kollektiven Gedächtnis dieses Nagelkreuzzentrums ist."

Wunden heilen, Unterschiede leben

Im Versöhnungsgebet von Coventry heißt es: "Die Gier, die Frauen, Männer und Kinder entwürdigt und an Leib und Seele missbraucht, Vater, vergib. Den Hochmut, der uns verleitet, auf uns selbst zu vertrauen und nicht auf Gott, Vater, vergib."
Die Nagelkreuzgemeinschaft, die spirituell in der anglikanischen Kirche wurzelt, ist von drei Grundideen geprägt: Die Wunden der Geschichte heilen, Unterschiede leben und Vielfalt feiern sowie eine Kultur des Friedens schaffen. Doch welche Aspekte die Zentren vor Ort konkret aufgreifen, das kann sehr unterschiedlich sein.
Einen besonderen Ansatz verfolgt man in Cottbus – im dortigen Menschenrechtszentrum. Sein Trägerverein besteht vor allem aus ehemaligen politischen Häftlingen der DDR, die im Cottbuser Zuchthaus inhaftiert waren. Einer von ihnen ist Dieter Dombrowski. Der Vorsitzende des Menschenrechtszentrums saß Mitte der 70er Jahre 16 Monate im Stasi-Gefängnis Cottbus. Vor fünf Jahren trat das Zentrum als eine der wenigen nicht-religiösen Organisationen der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft bei.

Austausch zwischen Opfern und Tätern

Dombrowski erläutert das Verhältnis des Zentrums zum Gedanken der Versöhnung:
"Wir arbeiten nach dem Prinzip: Gedenken, Aufarbeitung, Bildung, Versöhnung. Uns ist klar, dass wir keine Versöhnung anordnen können. Das ist eine höchst persönliche Angelegenheit, die jeder für sich entscheiden muss. Aber wir alle wissen, dass man eigentlich in Frieden mit sich und der Umwelt leben will. Und zum Glück gibt es auch den einen oder anderen, der zu der Tätergruppe gehörte, die doch ins Nachdenken gekommen sind über das, was sie mit zu verantworten hatten."
Dieter Dombroski erzählt von einer Annäherung. Der Künstler Frank Timpe hatte während seiner Haft Mitte der 80er Jahre im Stasi-Gefängnis Bilder gezeichnet. Diese sollten damals auf Anordnung der Gefängnisleitung vernichtet werden. Doch ein Wärter schaffte die Werke beiseite und gab sie vor zwei Jahren dem Künstler zurück.
Dieter Dombrowski (2.v.l.) bei der Eröffnung der neuen Dauerausstellung des Menschenrechtszentrums Cottbus.
"Versöhnung lässt sich nicht anordnen": Dieter Dombrowski (2.v.l.) bei der Eröffnung der neuen Dauerausstellung des Menschenrechtszentrums Cottbus.© Picture Alliance / dpa / Patrick Pleul
"Das Persönliche zwischen dem ehemaligen Häftling und dem Wärter ging so aus, dass man zwar nicht Freundschaft bekundet hat, auch keine Vergebung, aber der ehemalige Häftling hat dem Wärter gedankt", sagt Dombrowski. "Das sind Erlebnisse und Erfahrungen, die vielen ehemaligen Opfern einfach fehlen, ein Stück Menschlichkeit – und auch Nachdenken bei den Tätern."
Der Austausch zwischen Opfer und Täter von einst sei aber nur ein erster Schritt, meint Dombrowski: "Das Vergeben ist im Zweifel eine einseitige Angelegenheit. Das Versöhnen setzt die Bereitschaft aller Beteiligten voraus."

Zeichen der Anteilnahme nach dem Attentat von Hanau

Die wallonisch-niederländische Kirche in Hanau trat 2011 der internationalen Nagelkreuzgemeinschaft bei. Das Gotteshaus der einzigartigen Gemeinde, die Ende des 16. Jahrhunderts aus reformierten Religionsflüchtlingen aus Frankreich und den spanischen Niederlanden entstand, war im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört worden. Versöhnung ist aber nicht nur eine historische Aufgabe. Für Pfarrer Torben Telder bekam sie am 19. Februar dieses Jahres eine furchtbare Aktualität.
Ein 43-jähriger Deutscher erschoss an diesem Tag in zwei Shisha-Bars neun Menschen, offenbar aus rassistischen Motiven, anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst. Die Tagesschau sprach von einem "mutmaßlich rechtsterroristischen Anschlag". Am Tag nach dem Attentat stand für den Pfarrer die Frage im Raum:
"Wie können wir jetzt mit einem Symbol, mit einem aussagekräftigen Zeichen dokumentieren, dass wir als Kirche, allen Unterschieden zum Trotz, unter den Bürgern jeglicher Religion Brücken schlagen wollen?"

Versöhnung schließt die Täter mit ein

Torben Telder ist in den Tagen nach den Todesschüssen mit dem Nagelkreuz, das er aus Coventry als Zeichen der Mitgliedschaft erhalten hatte, in Hanau unterwegs gewesen. In anderen Gemeinden wurde unter dem Friedens- und Versöhnungssymbol gebetet und diskutiert, sagt Telder:
"Und es wurde immer darauf verwiesen, dass damals vor 80 Jahren in Coventry der Dompropst den Mut hatte, nicht eine direkte Schuldzuweisung zu machen mit dem ‚Vater vergib‘, sondern zu sagen, dass wir alle daran schuldig sind, wenn etwas schief geht. Und dieser Gedanke ist, glaube ich, hier sehr gut aufgenommen worden."
Versöhnung im Sinne des Friedensgebets von Coventry richtet sich nicht nur an die Opfer, sondern schließt die Täter mit ein. Auch den Attentäter von Hanau? Kann man ihm vergeben?
"Das ist eine Frage, die menschlich vielleicht mit ‚schwierig‘ beantwortet wird", sagt Torben Telder, "aber ich denke, wir haben als Kirche schon die Pflicht, wenn Christus uns das so vorgelebt hat, zumindest im Gebet um die Kraft zu bitten, dass wir zu dem Punkt kommen, dass man ihm vergeben kann."
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