Literarisches Schweigen zwischen Deutschland und der Türkei

Noch immer Fremde

30:03 Minuten
Eine Deutsche und eine Türkische sind zusammengebunden.
Gesellschaftlich und wirtschaftlich eng verflochten: Deutschland und die Türkei. © imago images / Shotshop / markus hoetzel
Von Susanne Güsten · 23.09.2022
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Noch immer werden nicht viele zeitgenössische Autoren der Türkei ins Deutsche übersetzt. Und umgekehrt sieht es nicht viel besser aus. Warum gibt es so wenig literarischen Austausch zwischen Ländern, für die Austausch und Verständigung wichtig wären?
Auf dem Istiklal-Boulevard, der zentralen Flaniermeile von Istanbul, können nur vereinzelt angestammte Geschäfte dem Trend zu internationalen Kaffeehausketten, Billigmodengeschäften und Turnschuhläden standhalten.
Eines davon: die deutsch-türkische Buchhandlung Türk-Alman Kitabev, seit 1955 in bester Lage direkt am Istiklal-Boulevard ansässig. Inhaber Thomas Mühlbauer ist in den Räumen über dem Laden aufgewachsen. Seit sein Vater 1955 in die Türkei kam und später den Laden eröffnete, ist Istanbul um mehr als das Zehnfache an Bevölkerung gewachsen – die Stadt hat heute 16 Millionen Einwohner. Generationen von Türken haben sich in Deutschland niedergelassen, Millionen von Deutschen haben die Türkei als Urlaubsparadies entdeckt – doch die Buchhandlung Mühlbauer ist bis heute der einzige deutsche Buchladen in Istanbul und in der ganzen Türkei.

Neuere Literatur – leider nein  

Im Obergeschoss steht an der Wand in großen Lettern ein Goethe-Zitat: „Wer Bücher liest, schaut in die Welt und nicht nur bis zum Zaune.“ Das Interesse der Kunden gilt allerdings nicht so sehr den Werken des Dichterfürsten. Schulbücher machen den überwiegenden Teil seines Geschäftes aus, erzählt der Buchhändler. Eine ganze Wand füllen die Sprachlehrbücher; gegenüber stehen einige Regale mit Belletristik. Der Schwerpunkt liegt dabei eindeutig auf deutschen Klassikern wie Max Frisch, Hermann Hesse oder Franz Kafka. „Neueres leider nicht, nein“, bedauert Mühlbauer.

Kuchen statt Bücher

Immerhin gebe es heute mehr Übersetzungen als vor 30 Jahren, als er den Laden von seinem Vater übernahm, sagt der Buchhändler. Doch von Literatur kann die deutsch-türkische Buchhandlung in Istanbul nicht leben.
Erst seit Mühlbauer das Obergeschoss vor ein paar Jahren zum Buch-Café umgebaut hat, brummt der Laden. Zwischen den Bücherregalen kann man jetzt Kaffee trinken und dazu deutschen Kuchen essen.
Seit der Expansion zum Buch-Café ist der Laden ein richtiger Hit geworden - ein angesagter Treffpunkt für türkische Studenten in ganz Istanbul. Einen Zugang zur deutschen Literatur finden sie hier aber nicht, sagt Selcuk Bulut, ein arbeitsloser Journalist, der mit einem Freund zum Kaffee hier ist: „Ich sehe mir die Bücher an, aber weil ich kein Deutsch kann, muss ich mich mit den Bildern begnügen. Ich habe in der Schule Goethe gelesen, aber zeitgenössische deutsche Literatur habe ich noch nie gelesen, weil es kaum Übersetzungen gibt. Von unserer Literatur kennt man in Deutschland ja auch wenig, nur Orhan Pamuk und ein paar andere. Ich denke, es wäre für beide Länder gut, wenn es mehr Austausch gäbe.“

Kultur auf der anderen Seite des Bosporus

Warum gibt es so wenig literarischen Austausch zwischen Deutschland und der Türkei, die gesellschaftlich und wirtschaftlich so eng verflochten sind? Die Suche nach Antworten auf diese Frage führt über den Bosporus: mit einer städtischen Fähre auf die asiatische Seite von Istanbul.
Moda heißt das Stadtviertel, das sich zum neuen Zentrum der Kultur in Istanbul entwickelt. Viele Künstler sind in den vergangenen Jahren über den Bosporus hierher geflüchtet – teils vor dem Massentourismus, der die Preise am europäischen Ufer hochtreibt, teils vor der restriktiven Atmosphäre rings um den Taksim-Platz, wo neun Jahre nach den Gezi-Protesten noch immer die Wasserwerfer in Stellung sind und arabische Shisha-Bars die Straßencafés verdrängt haben. Hier tragen die Frauen das Haar offen, und in den Cafés wird neben Türkisch auch viel auf Französisch geplaudert.

Literaturagenturen – ein relativ neues Phänomen

Die Literatur-Agentur Kalem liegt an einer Hauptstraße von Moda im ersten Stock eines Wohngebäudes. Sie ist eine der führenden Agenturen für literarische Urheberrechte in der Türkei. Die Buchrücken im Regal daneben lesen sich wie ein "Who is Who" der zeitgenössischen türkischen Literatur.

„Hier sind die türkischen Autoren, die wir im Ausland vertreten“, sagt Kardelen Genc: „Da ist Ahmet Ümit, der dürfte ja bekannt sein - einer der meistverkauften Autoren der Türkei seit vielen Jahren und schon in mehr als 35 Sprachen übersetzt. Hier ist Burhan Sönmez, auch einer unserer Top-Autoren und jetzt Präsident des Schriftstellerverbandes P.E.N. Und hier natürlich Hakan Günday, auch einer unserer Bestseller.“
Agenturchefin Nermin Mollaoglu erzählt, dass Literaturagenturen in der Türkei noch relativ neu seien. Entsprechend wurde jahrzehntelang praktisch überhaupt keine türkische Literatur übersetzt – weder ins Deutsche noch in andere Sprachen.
Heute liegt die Zahl der übersetzten Werke türkischer Autoren bei insgesamt über 4000. Begünstigt wurde das durch mehrere Impulse im vorletzten Jahrzehnt: Orhan Pamuk erhielt 2005 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2006 bekam er den Literatur-Nobelpreis, und im Jahr 2008 war die Türkei das Gastland auf der Frankfurter Buchmesse.
Und trotzdem: „Wenn man in Deutschland auf der Straße nach türkischen Autoren fragen würde“, so die Agentin, „dann würden die Leute gerade mal Orhan Pamuk, Elif Shafak, Yasar Kemal und Nazim Hikmet aufzählen können, also zwei Klassiker und zwei moderne Schriftsteller – da müssen wir noch dran arbeiten.“

Deutsche Klassiker statt Gegenwartsliteratur

Nicht anders verhalte es sich umgekehrt in der Türkei: „Wenn wir einen türkischen Leser oder Buchhändler bitten würden, fünf lebende deutsche Schriftsteller aufzuzählen, kämen sie wahrscheinlich nicht auf fünf Namen. Die meisten würden Klassiker nennen: Thomas Mann, Heinrich Böll, Goethe – keiner könnte einen Gegenwartsautor nennen“, sagt Mollaoglu.
Deutsche Gegenwartsliteratur sei sehr viel weniger übersetzt worden, als man meinen sollte, wenn man an die enge Beziehung zwischen den beiden Gesellschaften denkt und an unsere gemeinsame Geschichte, ergänzt ihre Kollegin.
Dabei wurde in den letzten 30 Jahren schon mehr deutsche Literatur ins Türkische übertragen als je zuvor. Allerdings sind die Zahlen inzwischen wieder rückläufig, und die zeitgenössische Literatur hat ohnehin nicht sehr davon profitiert. Auch sei das Interesse an französischer Literatur größer als an deutschsprachigen Autoren.
Das hat Tradition in der Türkei: In den frühen Jahren der Republik stammten die meisten literarischen Übersetzungen ins Türkische aus der französischen Literatur, bis heute unterrichten türkische Elite-Schulen auf Französisch. Gebildete Türken fühlten sich Frankreich kulturell näher als Deutschland, das als Auswanderungsland ungebildeter Arbeiter gesehen wird, meinen die beiden Literatur-Agentinnen. Auch würden immer weniger Lektoren in türkischen Verlagshäusern Deutsch sprechen.

Wenig Zugang zu deutscher Literatur

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Die türkische Leserschaft sei eher konservativ, sagt die Literaturwissenschaftlerin Debnem Sunar. Und zur deutschen Kultur hätten türkische Leser ohnehin wenig Zugang. Dass die Türkei wirtschaftlich und gesellschaftlich eng mit Deutschland verflochten ist, könne daran nichts ändern.

Engagement für Kulturaustausch

Um deutsche Kultur kümmert sich in Istanbul aber nach wie vor das Goethe-Institut. Im Erdgeschoss ist das Reich von Sanem Yardimci, der Bibliotheksleiterin des Goethe-Instituts: Bücher, Bücher und noch mehr Bücher. Nicht alle auf Deutsch, erzählt Yardimci in ihrem Büro hinter dem Lesesaal: „Wir bieten nicht nur deutsche Literatur, sondern auch übersetzte Literatur ins Türkische und auch das Gegenteil, also auch aus dem Türkischen ins Deutsche. In unserer Bibliothek kann man türkische Übersetzungen und deutsche Übersetzungen von beiden Ländern finden.“
Sanem Yardimci ist stolz auf ihre Ausleihzahlen, die zu den stärksten aller Goethe-Bibliotheken in der Welt zählen.
Was die Gegenwartsliteratur angeht, macht sich das Goethe-Institut den literarischen Austausch zur Aufgabe und fördert ihn mit einem virtuellen Projekt namens LiteraTür und mit Workshops für Übersetzer. Zudem kuratiert das Institut die sogenannte Kulturakademie Tarabya - ein Residenzprogramm in Istanbul für Schriftstellerinnen und Künstler, das von der Bundesregierung finanziert wird.
Dessen Kuratorin Pia Entenmann erzählt: „Wir sind überzeugt, dass gerade mit Ländern, wo die politischen Beziehungen angespannt sind und die Zivilgesellschaft unter Druck steht, der Kulturaustausch besonders wichtig ist und Kommunikationskanäle offenhält. Und das betrifft natürlich die Literatur als einen möglichen Kommunikationsweg, aber das geht auch darüber hinaus.“

Tarabya - ein guter Ort zum Schreiben

Die Kulturakademie Tarabya liegt am nördlichen Rand von Istanbul direkt am Bosporus in einem malerischen Park mit gepflegten Kieswegen und weiß gestrichenen Holzvillen. Seit 2012 erhalten hier jährlich 20 deutsche Künstlerinnen und Künstler ein Stipendium, rund 25 Schriftsteller waren bisher darunter. Unter den aktuellen Stipendiaten ist der deutsche Schriftsteller Deniz Utlu aus Berlin, der bisher zwei Romane veröffentlicht hat: „Die Ungehaltenen“ und „Gegen Morgen“. In einem der Künstler-Apartments am Bosporus schreibt Utlu nun an seinem dritten Roman - ein guter Ort zum Schreiben, findet er.
Zu Goethes Zeiten habe die deutsche Literatur einen stärkeren Bezug zur orientalischen Literatur gehabt als heute, sagt er mit Verweis auf den "West-Östlichen Divan". Heute sei dies kaum noch der Fall.
„Ich denke, eine Hypothese könnte sein, dass das schon damit zusammenhängt, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen nach Deutschland gekommen ist, nämlich um zu arbeiten. Also Arbeiter*innen sind gekommen, und es gab ja lange Zeit gar nicht so das Interesse oder Bestreben, den Status dieser Gruppe zu ändern. Also, es ist eigentlich nicht das Land, aus dem Literatur kommt; das ist das Land, aus dem Arbeitskräfte kommen.“

Schauplatz Berlin

Kommissarin Yildiz Karasu ermittelt für die Kriminalpolizei in Berlin, denn dort spielt der Roman – ein gewaltiger Sprung für Ahmet Ümit und seine Leserinnen und Leser, denn bisher spielten seine Krimis in der Türkei. Mit dem Gedanken an einen Roman über Berlin habe er sich getragen, seit er sich im Jahr 2005 auf einer Lesereise durch Deutschland in die Stadt verliebte, sagt der Autor: „Berlin ist eine besondere Stadt für mich. Zum einen, weil es eine kosmopolitische Stadt ist, zum anderen wegen der Holocaust-Gedenkstätte: Berlin ist eine Stadt, die ihrer Vergangenheit ins Auge blickt, die sich zu ihrer Schuld bekennen kann. In der Türkei haben wir das bisher nicht geschafft, obwohl es nötig wäre.“
Den Schauplatz Berlin hat Ümit dafür ebenso gründlich recherchiert wie die historischen Hintergründe und hat sogar zeitweise in Berlin gelebt.

Vorurteile aufbrechen

Sein Roman wird 2023 auf Deutsch erscheinen und ist damit eine Ausnahme. Er habe sich Gedanken darüber gemacht, warum so wenig Literatur aus der Türkei ins Deutsche übersetzt werde: „Die Sicht der deutschen Gesellschaft auf die Türkei ist geprägt durch ihre Wahrnehmung der Arbeiter, die vor 60 Jahren aus der Türkei kamen - und das ist ein verzerrtes Bild“, sagt er. Und ich glaube, das wirkt sich bis heute auch auf die deutsche Wahrnehmung türkischer Schriftsteller aus.“
Als Schriftsteller kenne er nur ein Mittel dagegen, sagt Ümit: Schreiben – und sich literarisch miteinander beschäftigen: „Diese Vorurteile müssen wir aufbrechen. So wie die deutsche Sicht auf die türkischen Einwanderer beschränkt ist, so gibt es auch Schranken in unserer Sicht auf Deutschland und die deutsche Kultur. Diese Schranken einzureißen, ist Aufgabe der Kultur.“
(DW)

Mitwirkende: Siir Eloglu, Robert Frank, Anne Rathsfeld und Maria Lang
Regie: Stefanie Lazai
Ton: Jan Fraune
Redaktion: Dorothea Westphal

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