Deutsche IS-Kinder in Haft

Ein Vater kämpft um seine Tochter

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Der Protagonist Danisch hockt niedergeschlagen am Elbstrand. Im Hintergrund sind die Lichter vom Hafen zu erkennen.
An den Elbstrand machte Danisch Farooqi mit seiner Tochter Ausflüge. Bis seine Ex-Frau das Kind nach Syrien verschleppte. © NDR / Lisa Maria Hagen
Von Lisa Maria Hagen, Mariam Noori und Alena Jabarine · 12.04.2021
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Etliche Kinder deutscher IS-Kämpfer sitzen in Gefangenenlagern in Syrien fest: Ihre Angehörigen in Deutschland bangen seitdem und fühlen sich alleingelassen vom deutschen Staat, der seine Staatsbürger nur sehr zögerlich zurückholt.
Seine liebste Erinnerung: mit seiner Tochter am Elbstrand. Damals war Aaliya ein Jahr alt – und er, Danisch Farooqi, glücklich. "Ich war der erste der sie auf dem Arm hatte, als sie geboren wurde", erzählt er. "Sie war bei weitem der größte Teil meines Lebens, der wichtigste."
Aaliya ist ein Jahr alt, als sich ihre Eltern scheiden lassen. Die Beziehung zwischen Danisch Farooqi und seiner Tochter bleibt aber eng. Die Eltern teilen sich das Sorgerecht. Aaliya wächst bei ihrer Mutter auf, die Wochenenden verbringt sie bei ihm in Hamburg.

Aaliyas Mutter verschleppt die Dreijährige nach Syrien

Die wenigen Fotos, die von Aaliya geblieben sind, zeichnen das Bild einer ganz normalen Kindheit: Aaliya fährt Karussell auf dem Hamburger Dom, Aaliya isst Pommes mit Gewürzketchup, Aaliya fährt Bobby Car.
Doch der Kontakt zu seiner Ex-Frau verschlechtert sich. Sie lernt einen neuen Mann kennen, radikalisiert sich. 2014 verschleppt sie Aaliya nach Syrien. "Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die eigene Mutter ein unschuldiges, kleines, dreijähriges Kind, die pure Freude, in ein Gebiet mitnimmt, wo Krieg herrscht, wo Leute flüchten, um ihre Kinder davor zu schützen", so Farooqi.
Er ist selbst Muslim. Islamisten verachtet er. Von den Plänen seiner Frau ahnte er nichts. "Auf einmal war sie weg, aus dem Nichts heraus. Keine Vorahnung, nichts!", erzählt Farooqi. Als er davon erfährt, ist Aaliya mit ihrer Mutter im sogenannten "Islamischen Staat" untergetaucht. Farooqi erstattet Anzeige wegen Kindesentzugs, schaltet internationale Suchaufträge und recherchiert in sozialen Netzwerken. Aaliya bleibt mehr als vier Jahre verschwunden.

Ein erstes Lebenszeichen von Aaliya

2019 dann rücken kurdische Milizen und die "Internationale Allianz gegen den Islamischen Staat" vor. Aaliya kommt in ein kurdisches Gefangenenlager, Camp Roj in Nordsyrien. Es ist der erste Beweis, dass sie noch am Leben ist. Doch ganz erleichtert ist Danisch Farooqi nicht. Die Gefangenenlager sind überfüllt. Zehntausende IS-Frauen und ihre Kinder hängen dort fest, weil ihre Herkunftsländer sie nicht zurücknehmen.
Am Anfang gelingt es Danisch, über andere deutsche Gefangene Kontakt zu seiner Tochter aufzubauen. Zum ersten Mal seit drei Jahren kann er wieder mit ihr sprechen. "Es war natürlich schön, wieder ihre Stimme zu hören, Fotos von ihr zu sehen, wie sie sich entwickelt hat", erzählt er. "Ein wunderhübsches Mädchen. Unglaublich, da ist mir das Herz aufgegangen. Aber trotzdem fühlt es sich fremd an. Ja, das ist meine Tochter. Aber auf der anderen Seite ist es auch eine Person, die ich sieben oder sechs Jahre lang zu dem Zeitpunkt nicht in meinem Leben hatte und mit der ich keine Verbindung aufbauen konnte. Da ist nichts mehr von diesem dreijährigen Kind, das mich Baba genannt hat."
Aaliya versteht nicht, dass Danisch ihr Vater ist, und den begleitet die Angst um seine Tochter jeden Tag. Auf einmal erhält er damals einen Anruf. Es ist eine Frau aus Hamburg, ihre Enkelkinder sind im selben Camp wie Aaliya. Eine Frau und ihre drei Kinder seien im Camp verbrannt. "Deiner Tochter geht es jetzt gut, aber vielleicht passiert das morgen oder übermorgen auch deiner Tochter."

Kampf gegen die deutschen Behörden

Es gibt keine offiziellen Informationen aus dem Camp. Ob der Brand wirklich passiert oder nur ein Gerücht ist, können weder wir noch Farooqi überprüfen. Aber jeden Tag, den Aaliya im Camp Roj ist, hat er Angst um das Leben seiner Tochter. "Ich habe natürlich alles versucht, aber vielleicht habe ich etwas ausgelassen, etwas vergessen, irgendwas nicht gemacht, irgendwas falsch gemacht", sagt Farooqi. "Diesen Vorwurf muss man sich als Vater jeden Tag machen."

Es beginnt ein neuer Kampf – gegen die deutschen Behörden. Danisch Farooqi will seine Tochter aus dem kurdischen Camp zurück nach Deutschland holen. Unzählige Politiker hat er dafür angeschrieben, um Hilfe gebeten: "Andrea Nahles – keine Antwort. Metin Hakverdi – keine Antwort. Manuel Sarrazin – keine Antwort. Heiko Maas – natürlich keine Antwort. Jürgen Trittin – keine Antwort." Doch bis heute ist Aaliya im Gefangenenlager.
"Von dem Zeitpunkt an, wo sie mit drei Jahren nach Syrien entführt wurde, haben ja diese seelischen Narben schon angefangen. Dann kommt natürlich dazu, dass sie Bomben gesehen hat. Dann kommt dazu, dass sie vielleicht sogar Tote gesehen hat. Die Angst, die sich dort aufbaut, die Angst bei der Flucht. Und natürlich jetzt die Situation seit dreieinhalb Jahren im Camp. Das sind alles Sachen, die Narben hinterlassen bei einem Kleinkind. Und je länger die Bundesregierung halt wartet, desto schlimmer wird es."
Der Protagonist Danisch sitzt auf dem Boden vor verschiedenen Dokumenten, einige hat er in der Hand und liest sie.
Etliche Briefe an Politiker und Schreiben an Behörden hat Danisch Farooqi schon verfasst – vergeblich.© NDR / Lisa Maria Hagen

Erste IS-Kinder kehren nach Deutschland heim

Das Auswärtige Amt berief sich lange Zeit darauf, dass eine konsularische Betreuung in Syrien nicht möglich wäre, weil es dort keine deutsche Botschaft mehr gebe. Im August 2019 beginnt die Bundesregierung schließlich trotzdem, ihre Staatsbürger zurückzuholen. 19 Kinder und vier Mütter aus Nordostsyrien hat Deutschland seitdem zurückgeholt. Es habe sich dabei um besonders dringliche Fälle, also Waisen oder kranke Kinder, gehandelt, heißt es aus dem Auswärtigen Amt. Doch um die 100 Kinder, so Schätzungen, seien noch in den Camps, auch Aaliya, und mit jedem Tag Warten wächst die Sorge bei Danisch Farooqi.

"Auf der einen Seite denkt man sich. Ich will nicht, dass meine Tochter krank wird, oder? Auf der anderen Seite denkt man sich, das wäre ein Ticket raus. Und in dieser Situation zu stecken: Das eine zu denken, aber auch das andere zu denken, das zermürbt einen, weil man die ganze Zeit denkt: Worauf soll ich jetzt eigentlich hoffen? Soll ich darauf hoffen, dass sie gesund bleibt? Aber wer weiß, wann sie zurückkommt? In zig Jahren? Oder soll ich darauf hoffen, dass sie ernsthaft krank wird, sodass sie jetzt sofort zurückgeholt wird? Worauf soll ich hoffen?"

Warten auf Aaliya

Anfang April dieses Jahres: Danisch Farooqi sitzt auf der Couch im Wohnzimmer und hält ein Baby im Arm. Erst vor drei Wochen ist er wieder Vater geworden: ein Junge. "Als ich den kleinen Mann im Arm hatte, da hab ich an Aaliya zurückgedacht. Und natürlich freut man sich in dem Moment für den Sohnemann. Aber es macht was mit einem." Sein Sohn sehe Aaliya sehr ähnlich. Erinnern an sie – das mache die schönsten Momente manchmal unerträglich, erzählt Farooqi. "Da vorne steht der Stuhl, da vorne die Puma Schuhe, die ich hier gekauft habe. Ich habe ganz viele Sachen für sie gekauft."
Das Auswärtige Amt kennt seinen Fall, weiß von seiner Tochter. Bei der letzten Rückholaktion im Dezember vergangenen Jahres teilte es ihm auf Nachfrage mit, dass seine Tochter nicht dabei sei. Er weiß nicht, wann sie zurückkommen wird, ob ihr die Schuhe dann noch passen – oder ob sie überhaupt wohnen will bei ihm, ihrem fremden Vater.
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