10 Jahre Syrien-Krieg

Assad im Trümmerland

28:34 Minuten
Das Foto zeigt ein am 14. März 2021 in Idlib aufgenommene Straßenszene. Ein Passant vor Wandmalereien von Aktivisten zum Gedenken an den zehnten Jahrestag der syrischen Revolution in Nordsyrien, die unter der Kontrolle der syrischen Opposition ist.
Die große Hoffnung Revolution und was aus ihr geworden ist: Wandgemälde zum Gedenken an den zehnten Jahrestag des Beginns der Proteste gegen Assad in der syrischen Stadt Idlib. © imago images / ZUMA Wire / Mahamad Kazmooz
Von Carsten Kühntopp, Anne Allmeling, Jürgen Stryjak, Kristin Helberg · 15.03.2021
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Hungernde Menschen, kaum Wiederaufbau - und ein Diktator, der immer noch fest im Sattel sitzt: Zehn Jahre nach Ausbruch des Bürgerkriegs ist die Lage in Syrien verheerend. Jetzt könnte auch noch ein Wiedererstarken des IS drohen.
Im Februar 2011 griffen zwei vierzehnjährige syrische Jungen - ermutigt durch die Proteste in den Nachbarländern - zur Spraydose und sprühten "Nieder mit dem Präsidenten" an eine Häuserwand. Assad reagierte knallhart.
Nicht nur die Jugendlichen, auch alle anderen, die ihre Stimme gegen den syrischen Präsidenten erhoben, wurden verfolgt, gefoltert, getötet. Zehn Jahre später ist der Diktator Baschar al-Assad immer noch an der Macht, seine Regierung kontrolliert inzwischen wieder alle größeren Städte. Das syrische Volk lebt in Trümmern und muss um jede Mahlzeit kämpfen.

"Die Menschen sind völlig erschöpft"

An einen Aufstand wie vor zehn Jahren ist nicht mehr zu denken.
"Ich bezweifle, dass die Massen wieder gegen Assad mobil machen werden", sagt Syrien-Expertin Dareen Khalifa von der "Crisis Group", einer internationalen Denkfabrik. "Der Konflikt hat die Syrer völlig erschöpft. Die Menschen wissen, wie brutal das Regime ist. Und sie sehen keine Chancen für einen Regimewandel oder für Reformen."
Assad hat damals keinen einzigen ernsthaften Versuch gemacht, auf die Menschen zuzugehen und einen Ausgleich zu suchen. Er setzte von Anfang an auf Gewalt. Ende März 2011 sagte er vor dem Parlament:
"Aufruhr niederzuschlagen, ist eine nationale, moralische und religiöse Pflicht. Und wer dazu beitragen kann, aber es nicht tut, ist ein Teil davon. Der Heilige Koran sagt: 'Aufruhr ist schlimmer als Töten‘. Alle diejenigen, die daran absichtlich oder unabsichtlich beteiligt sind, tragen zur Zerstörung ihres Landes bei. In dieser Sache gibt es also keinen Kompromiss oder Mittelweg."
Zehn Jahre nach Beginn des Konflikts ist Syrien in vier Einflusszonen zerfallen. Den Nordosten kontrolliert eine von Kurden geführte Miliz mit US-Unterstützung. Dort gibt es gleichzeitig eine symbolische Präsenz der Assad-Regierung und Russlands. Der Nordwesten ist in der Hand von pro-türkischen Milizen. Und die Region Idlib ist das letzte große Rebellengebiet. Dort sind mehr als 10.000 türkische Soldaten stationiert, als Puffer zwischen den Aufständischen und Regierungskräften.
Die meisten Syrer leben nun aber wieder unter der Assad-Regierung, bedeutenden Wiederaufbau gibt es nicht. Die Wirtschaft ist seit Monaten im freien Fall. Lebensmittel sind knapp und teuer. Fünf Stunden für Brot anzustehen, ist nicht selten. 60 Prozent der Menschen haben Schwierigkeiten, ausreichend zu essen zu bekommen. Dareen Khalifas sagt:
"Durch die ungewollten Folgen westlicher Sanktionen ist das Leben der Menschen in den Regierungsgebieten härter geworden. Die Sanktionen sind dafür aber nicht der Hauptgrund. In Wirklichkeit haben der Krieg und die jahrzehntelange Korruption die Wirtschaft verwüstet."
Selbst Assads Gönner Russland will jetzt, dass Regierung und Opposition eine neue Verfassung erarbeiten. Doch die Verhandlungen darüber kommen seit Monaten nicht voran.

Nachbarland Libanon ist zweite Heimat

Unterdessen sind von 21 Millionen Syrern rund sechs Millionen ins Ausland geflüchtet, die meisten in die Nachbarländer. Allein die Türkei hat 3,5 Millionen Syrer aufgenommen. Aber auch im kleinen Libanon, der selbst nur fünf Millionen Einwohner hat, leben nun eineinhalb Millionen Geflüchtete aus Syrien.
Die Lebensumstände sind extrem schwierig, berichtet der Familienvater Fawaz, der in Syrien in Homs als Zimmermann gearbeitet hat und erst im Krieg erfahren hat, was Not bedeutet:
"Unser Brot kaufen wir auf Kredit. Und wenn jemand von uns krank wird und wir Geld für eine Behandlung brauchen, leihen wir uns etwas bei den Nachbarn bis zum Ende des Monats."
Am Rand einer staubigen Wüstenstraße stehen Zelte und provisorische Baracken.
Wirtschaftskrise und Pandemie haben die Lage der 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge im Libanon verschärft.© Deutschlandradio / Anne Allmeling
Syrer im Libanon gelten als Menschen zweiter Klasse, so Fawaz. Um die wenigen Ressourcen, die es gibt, wird heftig gestritten. Die libanesische Währung verliert immer weiter an Wert, die Preise steigen. Fawaz‘ Familie erhält vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen etwa einhundert Dollar pro Monat, das reicht bei Weitem nicht. Seit Sommer 2019 rutscht das Land nach Jahrzehnten der Misswirtschaft und Korruption immer tiefer in eine Wirtschaftskrise. Die Pandemie verschärft die Lage.
Trotzdem kann Fawaz sich eine Rückkehr nach Syrien nicht vorstellen. Seine Familie hat dort alles verloren: das Haus, den Hof mit den Olivenhainen, die vielen Schafe, die sie züchteten. Ihre Heimatstadt Homs ist in großen Teilen völlig zerstört.
"Aus den erhofften zehn Tagen sind jetzt zehn Jahre ohne Hoffnung geworden", sagt er.

IS wurde nur halbherzig bekämpft

Nicht einmal die propagierte Zerschlagung des IS, des sogenannten Islamischen Staates, ist gelungen. Die Extremisten wurden zwar in den vergangenen Jahren aus fast allen Gebieten in Syrien vertrieben. Den größten Anteil daran hat das kurdisch dominierte Kampfbündnis Demokratische Kräfte Syriens. Es wurde zwar von den USA unterstützt, musste aber die Kämpfe am Boden nahezu allein führen.
Dagegen galten die meisten Angriffe des Assad-Regimes und der Luftwaffe Russlands jahrelang den Aufständischen in anderen Landesteilen. Der IS wurde von ihnen nur am Rande bekämpft.

Zwischen Agonie und großer Hoffnung: Seit zehn Jahren leidet Syrien unter Krieg und Gewalt. Jeder zweite Syrer habe einen Toten im näheren Umfeld zu beklagen, sagt der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Peter Maurer. Rund zwei Drittel der Bevölkerung könnten momentan nur mit humanitärer Hilfe überleben: Und dennoch habe die syrische Bevölkerung nicht die Hoffnung verloren, einen Weg zurück in die Normalität zu finden, sagt Maurer, der regelmäßig nach Syrien reist, um sich vor Ort ein Bild von der Situation im Land zu machen. Das Gespräch mit Peter Maurer hier zum Nachhören:
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Dass der IS noch existiert, aber im Untergrund agiert, gilt unter Experten als sicher. Sie wissen auch, wo dies geschieht: im Nordosten Syriens in einem riesigen Wüstengebiet.
Siyamend Ali, ein Kommandeur des kurdisch dominierten Kampfbündnisses Demokratische Kräfte Syriens, erklärt dies so:
"Die angeblich geschlagene Terrormiliz formiert sich in der Wüste neu und erstarkt. Dies hat auch damit zu tun, dass der internationalen Staatengemeinschaft offenbar der Wille fehlt, das IS-Problem besonders im Nordosten Syriens wirklich zu lösen."

Entführungen, Erpressungen, Anschläge

Dort wie auch im Westen des Irak beherrscht der IS zwar kein großes zusammenhängendes Gebiet mehr, aber dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zufolge sollen sich zu beiden Seiten der irakisch-syrischen Grenze immer noch rund zehntausend IS-Kämpfer befinden.

Aus schwer zugänglichen Wüstengebieten terrorisieren sie die Bevölkerung in angrenzenden Siedlungen, zum Beispiel nahe der nordostsyrischen Stadt Deir az-Zor.
Ein Patrouillenfahrzeug der Joint Task Force CJTF-OIR mit US-Soldaten fährt auf einer Wüstenstraße. Oben auf dem Wagen weht eine US-Flagge.
Sowohl die von den USA angeführten internationalen Streitkräfte als auch das Assad-Regime und seine Verbündeten hätten den IS nur halbherzig bekämpft, sagen Kritiker.© imago images / snapshot / B. Shamlo
Jede Nacht würden sie in ihrer Gegend ein, zwei oder drei Menschen bei Überfällen töten, erzählt eine Frau während einer Überlandfahrt im Sammeltaxi. Sie habe Angst um ihre Kinder.
Die Extremisten nehmen Geiseln, um Lösegeld zu erpressen, und sie verüben Anschläge. Allein im Januar sollen es in Nordostsyrien mehr als 100 gewesen sein. Der Fahrer des Sammeltaxis hat ebenfalls Angst: "Nach Sonnenuntergang kann sich niemand mehr aus dem Haus trauen, weil es Morde und Entführungen gibt."

Kurden werden allein gelassen

Etliche Beobachter befürchten inzwischen ein Comeback des IS, nicht nur in Syrien, sondern auch im Irak. Um diese Zellen kontrollieren zu können, braucht es dringend die Unterstützung der Kurden und ihrer Verbündeten im Nordosten Syriens durch das Ausland.
Der syrische Militärexperte Ahmed Rahal, der aus dem Exil in Istanbul die Lage beobachtet, sieht in der halbherzigen Unterstützung ein strategisches Versagen.
"Terrorgruppen sind dazu in der Lage, sich anzupassen. Alle Kriege, die gegen den IS geführt wurden, haben ihn nicht vernichtet, sondern nur verdrängt und vertrieben."
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