Der zweite Schritt vor dem ersten

Von Günter Hellmich, Landesstudio Berlin |
Man wird das Gefühl nicht los, Ursula von der Leyen wolle sich am Bundesverfassungsgericht vorbeimogeln. Denn die Chipkarte wäre ja eigentlich erst der zweite Schritt, um die Forderungen der Karlsruher Richter umzusetzen.
"Kinder sind nicht einfach kleine Erwachsene" hatte das höchste deutsche Gericht in schöner Übereinstimmung mit der Alltagserfahrung geurteilt. Und deshalb ginge es jetzt eigentlich darum festzulegen, wie viel Euro ein Kind oder ein Jugendlicher in den unterschiedlichen Entwicklungs- und Bildungsphasen braucht, um davon menschenwürdig leben zu können. Die bisherige, bequeme Lösung, dafür einfach 60, 70 oder 80 Prozent des Hartz IV-Regelsatzes für Erwachsene anzusetzen, endet dank Karlsruhe am Jahresende.

Was aber macht die zuständige Ministerin? Anstatt schnellstens gerichtsfest zu veranschlagen, was ein Sieben-, Zwölf-, oder 17-Jähriger für Essen, Kleidung, Schulbedarf, Kultur, Sport undsoweiter benötigt, erfindet sie die Bildungskarte.

Nach dem Motto, wenn wir per Kartengutschrift Geld für Nachhilfe, Sportverein und Musikunterricht zur Verfügung stellen, braucht dieser vom Bundesverfassungsgericht besonders hervorgehobene Bedarf nicht mehr berücksichtigt zu werden. Und alles kann mehr oder weniger beim Alten bleiben. Zudem wird’s vielleicht billiger als bei der Überweisung aufs Hartz IV- Konto der Mütter oder Väter, weil ja nicht jeder das zugestandene Guthaben ausnutzt. Obendrein wird verhindert, dass das für die Bildung der Kinder vorgesehene Geld in Schnaps, Zigaretten und schlechte Videos angelegt wird.

So vordergründig überzeugend das heute bei der Runde mit von der Leyen bekräftigte Bekenntnis zur Sachleistung auch ist, dieses Mittel bleibt fragwürdig. Jedenfalls solange man es auf die Empfänger von Sozialgeld beschränkt. Sachleistungen sind diskriminierend, wenn der Missbrauch von Geldleistungen nicht nachweisbar ist. Bisher war das der Grundsatz unserer an der Menschenwürde orientierten Sozialpolitik.

Das Dilemma, dass manche Eltern zuwenig in die Bildung und Entwicklung ihrer Kinder investieren, besteht nicht nur bei Hartz IV- sondern auch bei Kindergeldempfängern. Richtiger wäre es, wenn unser Staat das Geld ohne Umwege in Bildung und Erziehung steckte. Für kostenfreie Kindergärten und Ganztagsschulen samt gesundem Mensa-Essen ließen sich im Gegenzug etliche steuerliche Elternsubventionen und Sozialleistungen einsparen.

Ursula von der Leyens Bildungskarte hätte für Sportvereine, Musikschulen und andere kulturelle Aktivitäten durchaus ihre Berechtigung, sie dürfte freilich nicht den Sozialhilfeempfängern vorbehalten bleiben.
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