"Geld steht nicht im Mittelpunkt einer guten Sozialpolitik"

Moderation: Ernst Rommeney und Matthias Thiel |
Die Landesvorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin, Barbara John, hat dazu aufgerufen, Sozialpolitik nicht ausschließlich unter dem finanziellen Aspekt zu diskutieren. "Selbstverständlich geht es nicht ohne Geld", aber Mittelpunkt einer guten Sozialpolitik müsse sein, den konkreten Menschen wahrzunehmen und ihn dabei zu unterstützen, selbst aktiv zu werden, sagte John.
Deutschlandradio Kultur: Die Lebensmittelpreise steigen. Milch und Butter sind teurer geworden. Was meinen Sie? Müssen das Arbeitslosengeld II und die Sozialhilfesätze angehoben werden?

Barbara John: Das finde ich nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass Menschen, die arbeiten können, rauskommen aus dieser Hartz-IV-Gängelung, indem sie nämlich Arbeitsplätze annehmen, selbst zu einem Lohn, der unter den Sätzen liegt. Dann muss allerdings der Steuerzahler über den Staat etwas dazu zahlen. Ich finde es wichtig, dass Menschen sich beteiligen, dass sie etwas lernen beim Arbeiten: soziale Tugenden, aber auch die Sekundärtugenden, nämlich sich anzustrengen, auch für andere da zu sein. Das, finde ich, ist das Bedeutsame auch in einem Sozialstaat und nicht unbedingt die auf den Cent ausgerechnete Höhe der Sozialhilfe oder der Hartz-IV-Gelder.

Deutschlandradio Kultur: Trotzdem spielt das Geld eine Rolle. Gerade hat die Universität Bonn herausgefunden, dass Kinder aus ärmeren Schichten dann doch nicht so gesund ernährt werden. Hängt es doch immer noch am Geld, wenn wir von ausgewogener oder gesunder Ernährung gerade auch für Kinder reden?

John: Bei diesem Thema verliert man sich natürlich leicht im Gestrüpp. Ich denke, dass man auch mit wenig Geld Kinder gesund ernähren kann, indem man günstige Sachen kauft, indem man selber kocht. Das alles sind ja Dinge, die auch vergessen werden oder nicht mehr so "in" sind, selbst bei Leuten, die den ganzen Tag zu Hause sind.

Aber ich will noch mal sagen: Wenn man sich in diese Welt begibt – also, ich arbeite nicht, ich bin nur zu Hause –, dann ist die Welt, die man sich eröffnet, sozusagen der Kampf gegen die Behörden. Ich will da etwas mehr haben. Das darf es nicht sein, sondern es muss anders herum sein. Ich muss raus aus diesem Zustand, wenn ich es kann. Diejenigen, die es nicht können – und das sind alte Menschen, das sind sicher auch oft alleinerziehende Mütter –, denen sollte man mehr geben. Wenn sie mehrere Kinder haben und zu Hause bleiben müssen, dann ist es wichtig, dass sie das als ihre Aufgabe betrachten und dann auch unterstützt werden. Aber im Großen und Ganzen geht es nicht darum, da noch ein paar Euro draufzulegen, sondern alles zu tun, damit die Menschen zurück in den Arbeitsmarkt kommen.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie geben durchaus mit Geld Anreize und Impulse. Denn Ihr eigener Landesverband hier in Berlin unterstützt ja 600 bedürftige Kinder, indem er für diese Kinder Bücher, Musikinstrumente, Sportschuhe kauft. Das hat ja eine bestimmte Intention. Also, es geht doch nicht ganz ohne Geld.

John: Na selbstverständlich geht es nicht ohne Geld. Aber Geld steht nicht im Mittelpunkt einer guten Sozialpolitik, sondern im Mittelpunkt einer guten Sozialpolitik steht, den konkreten Menschen wahrzunehmen und alles für ihn zu tun oder ihn zu unterstützen, selber aktiv zu werden. Unser Programm "Kinder-Zukunft", das Sie gerade beschrieben haben, dient natürlich dazu, einem Kind dann auch 30 Euro oder 50 Euro zu geben, damit es über das, was die Familien bekommen, hinaus auch kulturell aktiv sein kann, damit es seine Talente entfalten kann. Das ist wichtig. Aber das verteilen auch wir nicht als Landesverband, sondern wir geben es den Einrichtungen, die dann selber schauen, wo sind Eltern, die das vorübergehend nicht können, die es einstellen müssen? Wo sind Kinder, die talentiert sind? Auch hier geht es ja um Aktivierung, dass Kinder in einer Atmosphäre aufwachsen, sich etwas zutrauen, in Kompetenzen geschult werden, damit sie später selbständig sind. Es ist eigentlich immer derselbe Ansatz.

Deutschlandradio Kultur: Verstehe ich Sie richtig? Hilfe zur Selbsthilfe ist also das Entscheidende? Aber wie kann man zum Beispiel Kompetenzen-Erwerben, was Sie eben nannten, wirklich praktisch umsetzen und auch im Zweifelsfalle kontrollieren, damit das wenige Geld oder das, was man verteilt, nicht dann wieder irgendwo versickert?

John: Wir machen das ja über die Einrichtungen, etwa über die Kindertagesstätten. Da können die Erzieherinnen sehr wohl beobachten, ob das Kind regelmäßig in den bezahlten Kurs geht. Also, wir geben es ja eben nicht den Familien cash und sagen: "Macht damit, was ihr wollt!". Sondern es wird ein Kurs bezahlt, den das Kind besucht. Ich denke, so sollte auch der Ansatz sein.

Deutschlandradio Kultur: Was ist denn das größere Problem für Kinder: die Armut, in der sie in einer sozial schwachen Familie leben, oder die mangelnde Eigeninitiative der Eltern?

John: Ich glaube, das größte Problem ist, dass diese Kreise zu wenig Beziehungen zu anderen Schichten haben. Es ist ja nachgewiesen, das bei der Arbeitssuche genau dieses Netzwerk fehlt, in dem sich Menschen etwa in der Mittelschicht bewegen. Die haben einen breiten Kreis von Kontakten, über den sie dann auch erfahren, was man machen kann, wie man etwas machen kann, wo eine Stelle frei ist. Wenn man erst einmal abgesunken ist in die Schicht von Leistungsempfängern, dann wird das eigene Umfeld sehr klein und sehr eng. Da rauszukommen, das ist wichtig. Deswegen sind auch solche kleinen Unterstützungen wichtig, nämlich in eine Musikschule zu gehen oder vielleicht auch in einem Sportverein zu sein, wo man Kinder aus anderen gesellschaftlichen Kreisen kennenlernt. Da öffnet sich plötzlich die Welt und dann kommen vielleicht auch Eltern zusammen. So ist dieses Programm gestrickt. Nur nicht sich abschotten und anfangen sich in dieser Welt des Cent-Umdrehens und des Kämpfens um ein paar mehr Cent zu Hause zu fühlen. Da muss man wieder raus.

Deutschlandradio Kultur: Welche Bedeutung spielt da die Ganztagsbetreuung, eben auch Freizeitangebote oder eine nachmittägliche Sprachförderung anzubieten?

John: Das halte ich für ganz entscheidend. Sehr viele Kinder aus wohlhabenden Familien, also mit viel Bildungskapital in den Familien, lernen alle trotz der Schule. Aber die Kinder aus diesen bildungsfernen Familien lernen eben nur in der Schule. Deswegen muss die Schule Anreize geben. Sie muss ein lustvolles Umfeld schaffen, in das man gerne hingeht, wo man etwas mitnimmt. Von daher ist eine Ganztagsbetreuung sehr, sehr wichtig. Leider ist ja in Deutschland gerade im Grundschulbereich diese Ganztagsbetreuung lange Zeit verdammt worden. Das hat sich Gott sei Dank geändert. Ich denke, dass es wichtig ist, dass Kinder ihren Tag in einer anregenden Umgebung verbringen können. Und das muss die Schule dann auch sein. Dabei darf nicht alles verschult sein. Da kann man auch sehr schön das Umfeld einbeziehen, sei es nun der Sportverein, der da hinkommt, oder seien es die Eltern, die irgendetwas anbieten, da gibt es Hunderte von Möglichkeiten, oder auch die Unternehmen in der Nachbarschaft.

Deutschlandradio Kultur: Ist es richtig, dass sie am liebsten selbst mal eine Schule gründen und führen würden in einem Problembezirk?

John: Ja, davon habe ich immer geträumt. Ich bin ja Lehrerin von meiner ersten Ausbildung her und war das auch sehr gern. Ich habe fünf Jahre in Hamburg unterrichtet, bevor ich dann noch mal Politikwissenschaft studiert habe. Also, ich kann mir gut vorstellen, dass Kinder in einer Schule, die selber entscheiden kann, auch wenn sie in einem Problembezirk liegt und von Kinder besucht wird, deren Eltern nicht mit einem goldenen Löffel geboren wurden, sehr viel lernen und dass die Kinder gerne zur Schule kommen, sogar noch in den Ferien.

Deutschlandradio Kultur: Was würden Sie denn besser machen als die staatliche Hauptschule?

John: Erst einmal mehr Freiheit geben, also die Schulen selber entscheiden lassen. Wenn ich einen Lehrer brauche, dann muss ich das erst dem Bezirk melden. Der muss es dann mit der Zentralverwaltung abstimmen. Die Mittel freier einsetzen können, Menschen einbeziehen können, die etwas für die Schule tun können – seien es nun Künstler oder andere Personen – und das auf unkompliziertem Wege, und vor allem die Eltern auch stärker an die Schule binden. Ich denke, dass eine Schule eine Identität haben muss, dass die Kinder und die Eltern und die Gemeinde sagen, das ist unsere Schule, für die wollen wir etwas tun, hier engagieren wir uns. Das ist, glaube ich, ganz entscheidend.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind für Bildungsgutscheine, damit Eltern sich eine Schule ihrer Wahl aussuchen und auch diesen Schulbesuch finanzieren können. Warum glauben Sie, dass ein solches Finanzierungssystem die Qualität verbessern würde?

John: Es geht nicht um das Finanzierungssystem. Das hört sich erst einmal natürlich so an. Es geht darum, die totale Verstaatlichung der Schule aufzubrechen. Wir behandeln ja die Schulen heute so, wie im 19. und auch im 20. Jahrhundert in Deutschland regiert wurde, nämlich autoritär. Damit lassen sich vielleicht Feldzüge machen, wie das ja bei Preußens üblich war: Also 1:1: ich sage, es muss so sein, und dann kommt das unten an. Aber die Erziehung von Kindern in so ganz unterschiedlichen Lebenslagen muss man öffnen. Deswegen ist der Bildungsgutschein nur eine Finanzierungstechnik. Es geht darum, dass Schulen selbständig werden können, dass sie ihre Autonomie erhalten, dass Lehrer und die Schulleitung selbst entscheiden, dass auch Schule ein Management hat. Die Schulleiter sind Pädagogen und sonst nichts. Das ist viel und wichtig, aber eine Schule braucht auch einen Manager, der Geld besorgt, Leute engagiert, Menschen ranholt. Das alles ist ja heute in einer Schule gar nicht möglich. Und wir haben ja eine wachsende Zahl von Privatschulen, aber diese Privatschulen können sich nur Wohlhabende leisten. Und der Ansatz des Paritätischen in Berlin ist, dass auch freie autonome Schulen für alle da sind, also auch für Ärmere. Sie sollen selber wählen. Und ich bin überzeugt, wenn Eltern nicht sagen, "Ja, ich weiß doch, wo mein Kind zur Schule geht: Ich muss das ja in die übernächste Straße schicken, bin ja durch den Einzugsbereich praktisch gebunden", dass sie dann selber auch anfangen mitzudenken und fragen: "Wie ist es denn an der Schule? Welche Vorteile siehst du oder was ist mit der Schule los?" Sie beginnen sich zu interessieren und wollen natürlich für ihre Kinder die beste Bildung haben. Und das trifft eigentlich auf jeden zu, egal, welches Einkommen er hat.

Deutschlandradio Kultur: Aus Ihren Worten klingt eine große Enttäuschung von der bisherigen Bildungspolitik in Deutschland. Erwarten Sie sich jetzt ein Aufknacken? Wird die Debatte was bringen? Haben Sie Unterstützer Ihrer Position?

John: Das ist ein Brett, das dreimal so dick ist wie die üblichen Bretter, die man in der Politik bohren muss. Weil sich das so verfestigt hat, dass nur der Staat die Kinder erziehen kann und erziehen muss. Es ist auch nicht so, dass der Staat nun da rausgekickt werden soll, im Gegenteil, er soll sich auf seine eigentlichen Aufgaben konzentrieren. Und da hat er viel zu tun. Er soll die Standards setzen. Was muss ein Kind können, das eine Schule verlässt? Und er soll das, was dort gelernt wird, natürlich auch kontrollieren. Man kann nicht sagen: "Hier habt ihr das Geld. Wir überweisen euch das, pro Kind soundso viel". Es gibt ja inzwischen internationale Erfahrungen in Entwicklungslängern, aber auch in europäischen Ländern wie Schweden und den Niederlanden. Alle Ergebnisse zeigen, dass gerade Kinder aus ärmeren Familien sehr viel bessere Ergebnisse haben, wenn die Schulen diesen Weg gehen können.

Deutschlandradio Kultur: Schon als wissenschaftliche Assistentin an der Universität haben Sie sich für das Thema "Deutsch als zweite Sprache" interessiert. Derzeit beraten Sie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie den Berliner Senat in den Fragen der Sprachförderung. Ist Sprachförderung nur für ausländische Jugendliche ein Problem?

John: Längst nicht mehr. Wir stellen ja fest bei den Sprachtests, die noch vor Schulbeginn einsetzen, dass bis zu 20 Prozent der Kinder, die in deutschsprachigen Familien aufwachsen, viel zu wenig sprechen können. Das hat natürlich eine Ursache. Das hängt damit zusammen, dass in den Familien zu wenig mit den Kindern kommuniziert wird. Das ist bei Kindern, die aus Migrantenfamilien kommen, noch mal verschärft, weil hier Kinder noch weniger Gesprächspartner als in deutschen Familien sind. Ich erinnere mich an einen Besuch in Kanada. Ich habe erlebt, wie in einer Geburtsklinik die Mütter nach dem Verlassen der Klinik für ihre Kinder ein kleines Baseballcap bekommen haben. Auf dem stand nur ein Satz: Speak to me! Das ist ganz entscheidend. Sprich mit mir, und zwar dauernd, dann lerne ich. Kinder müssen ihre Sprache speichern, um den vorhandenen Sprachverarbeitungsapparat, mit dem wir alle geboren werden, richtig zu verspuren. Das wird zu wenig getan. Das ist das Entscheidende. Es kommt gar nicht darauf an, wie das manche Leute glauben, dass nun in Deutsch gesprochen wird. Die Kinder können die sprachlichen Grundfertigkeiten entwickeln, wenn sie in der Muttersprache erzogen werden – ob die nun arabisch, türkisch oder serbokroatisch ist, spielt gar keine Rolle. Danach kann man sehr schnell umsteigen. Das Entscheidende ist, dass überhaupt mit ihnen gesprochen, dass ihnen vorgelesen, dass gesungen wird, was immer da an sprachlicher Aktivität möglich ist.

Deutschlandradio Kultur: Im Zuwanderungsgesetz wird jetzt auch gefordert, dass Sprachkurse belegt werden müssen und es werden Sprachprüfungen abgenommen. Ist das der richtige Weg auch für die Integration, wenn wir über Zuwanderung reden?

John: Ja, ganz sicher. Das ist ja nun ab 2005 Standard. Ich sitze da ja auch in der Bewertungskommission für diese Sprachkurse. Wir haben jetzt die Freude zu erleben, dass die Sprachkurse aufgestockt werden von 600 Stunden für einen Neuzuwanderer, aber auch für diejenigen, die hier schon leben, auf 900 Stunden bei Bedarf. Nun kommen wir allerdings in ein neues Problem. Es gibt eben zu wenig Menschen, die hier nach diesen Sprachkursen nachfragen. Sie können nicht mehr verpflichtet werden. Sie können das nur freiwillig machen. Also, da ist zu wenig Nachfrage. Wir sind ja, was die Einwanderungszahlen angeht, auf dem niedrigsten Stand eigentlich seit 1980. Es kommen ja ganz wenig Menschen nach Deutschland in allen vier Gruppen, also, Asylbewerber, Familienzusammenführung oder auch Aussiedler. Besonders bei der letzten Gruppe, den gut Qualifizierten, die aus wirtschaftlichen Gründen zuwandern, ist es ja ein Trauerspiel, dass wir da die Einwanderung immer noch nicht zulassen.

Deutschlandradio Kultur: Sie waren 22 Jahre lang Ausländerbeauftragte in Berlin. Es gab ja jüngst Diskussionen um das Zuwanderungsgesetz. Ist es nicht unverantwortlich, wenn türkische Familien in Deutschland junge Frauen ohne Schulbildung als Ehefrauen für ihre Jungs nach Deutschland holen?

John: Es gibt ja jetzt im zweiten Änderungsgesetz des Ausländergesetzes, das war ja auch heftig umstritten, die Forderung, dass diejenigen, die aus dem Ausland nachziehen, egal ob der Nachzug zu einem Deutschen passiert, der kann immer schon Deutscher gewesen sein oder eingebürgert sein, oder auch zu einem Ausländer, dass diejenigen einfache Sprachkenntnisse, Deutschkenntnisse nachweisen müssen. Das ist ja sehr umstritten gewesen. Die türkischen Verbände haben sich darüber ja auch furchtbar aufgeplustert. Ich finde zu Unrecht. Ich finde das richtig, dass man diese Deutschkenntnisse im Ausland erwirbt. Allerdings müssen die Voraussetzungen dafür auch bestehen. Ich denke, dass die Goethe-Institute, aber auch andere Institute, Vorbereitungen treffen müssen. Man kann CDs entwickeln. Man kann Lehrbücher drucken. Einfache Deutschkenntnisse sind einfach zu erwerben, und zwar auch im letzten anatolischen Dorf.

Deutschlandradio Kultur: Sie halten die ethnische Vielfalt der Gesellschaft in Deutschland, das friedliche Zusammenleben, so wie wir es hier praktizieren, für einen Erfolg. Fürchten Sie dennoch nicht den großen Knall, so wie in den französischen Vorstädten, wenn man sich die Problembezirke – nehmen wir mal wieder Berlin-Neukölln, gibt’s aber genauso in Frankfurt oder in Köln – anschaut?

John: Der Knall, den wir in Frankreich beobachtet haben, hat Gründe. Er ist weitgehend hausgemacht. Wenn man eine Architektur betreibt, wie das ja in den 80er Jahren in Frankreich begonnen wurde, nämlich die Arbeiter, die Gruppen, die sich die Innenstadt als Wohnort nicht mehr leisten können, vor die Stadt verbannt, dann muss man sich nicht wundern. Dort ist man von allen Beziehungen, von aller Kommunikation, von einer Vision, wie man eigentlich leben möchte, ausgesperrt. Ich glaube, das ist der entscheidende Grund. Es gibt noch einen anderen Grund. Wir müssen einfach sehen, dass für männliche Jugendliche, auch gerade Migranten-Jugendliche, auch bei uns in der Migrationspolitik, in der Integrationspolitik viel zu wenig getan worden ist. Wir haben uns immer auf die vermeintlichen und auch tatsächlichen Opfer solcher männlicher Gewalt konzentriert. Das sind die Frauen. Für die gab es Frauenhäuser schon in den 80er Jahren, Wohngemeinschaften und, und, und. Und die Männer waren immer die Täter, auch die jungen Männer. Also, so was fasst man nicht an. Das ist falsch. Ich muss versuchen – und ich hoffe, dass das in den nächsten Jahren zunimmt – gerade ihr Bild von sich selber zu ändern, also weg von diesem Macho-Gehabe: "Ich muss der Starke sein und ich muss derjenige sein, der hier alles bestimmt". Sondern ich muss sie auch in Berufe bringen, die sie fürsorglicher machen, die sie nachdenklicher machen, aber auch rücksichtsvoller. Das haben wir einfach versäumt.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind auch Mitglied im Kuratorium der muslimischen Akademie. Sie sind christliches, also nicht muslimisches Mitglied. Wie bewegen sich denn derzeit die islamischen Gemeinden durch die Gesellschaft? Schließen sie sich weiter ab oder öffnen sie sich? Tut sich da was mit Moscheebau, mit Islamkonferenz des Bundesinnenministers?

John: Es tut sich sehr viel mehr unterhalb aller dieser Nachrichten, die Sie eben genannt haben, sei es nun die Konferenz, sei es die Diskussion über Moscheebau. Nämlich bei den Jugendlichen der zweiten und dritten Generation findet ein unglaublicher Einstellungswandel zum Westen statt, zu dieser Gesellschaft, den wir kaum beachten. Und das ist falsch. Etwa Jugendliche, die ganz anders mit bestimmten Verboten, die bisher im Islam gelten, umgehen. Sie können sich sehr leicht vorstellen, auch mit einem nichtmuslimischen Partner verheiratet zu sein. Sie orientieren sich an europäischen Auslegungen des Koran, nicht nur an arabisch-orientalischen Auslegungen des Koran. Wenn sie zum Beispiel die Ramadan-Zeiten festsetzen - das sind ja ganz genaue Minuten und Sekunden, ab wann man fasten muss und wann man wieder essen kann – dann richten sie sich nicht nach dem, was aus Saudi-Arabien kommt, sondern nach dem, was aus England kommt. Also, ich sehe, dass sie versuchen beides zu sein, nämlich gläubige Muslime, aber auch aufgeklärte Demokraten. Das müssen wir wahrnehmen. Die Aufgabe für uns, die Nichtmuslime ist, dass sie hier ein Zuhause finden mit ihrem Glauben und dass sie nicht zurückgestoßen werden und wir Berührungsängste haben aufgrund dieser entsetzlichen Verbrechen, die auch im Namen des Islamismus begangen werden. Denn das ist für sie im Grunde dieselbe Bedrohung wie für die Nichtmuslime. Von daher denke ich, dass wir uns viel mehr um diese Generation kümmern müssen. Die Funktionäre, die in der Islamkonferenz sitzen, sind wichtig. Die vertreten auch die Gemeinden. Aber das Eigentliche spielt sich auf einer anderen Ebene ab, nämlich bei diesen jungen Leuten.

Deutschlandradio Kultur: Heißt das dann auch größere Toleranz gegenüber dem Kopftuch zum Beispiel? Soll die Lehrerin im Schulunterricht auch das Kopftuch tragen dürfen, um es ganz konkret zu machen?

John: Ich bin da für Freiheit und Selbstbestimmung. Ich vertrete nicht die Auffassung, dass andere darüber bestimmen, welche Kleidungsstücke man trägt. Dazu ist Kleidung einfach zu unwichtig. Natürlich muss sich das in einem bestimmten Rahmen bewegen: ich kann mich nicht nackt vor die Klasse stellen. Aber ansonsten bin ich gegen die Taliban-Methode, nämlich zu verfügen, dass du es tragen musst. Ich bin aber auch gegen die andere Methode, nämlich zu bestimmen, dass du es nicht trägst. Ich denke, wenn wir es so machen wie in England, wo sogar Polizistinnen, die an der Kreuzung stehen und den Verkehr regeln, ein Kopftuch tragen können mit dem eingewebten Metropolitan-Streifen wie in London, da fällt die Welt auch nicht auseinander. Dann kann man das hier auch machen. Aber da sind wir eng. Wir haben noch nicht ernsthaft darüber nachgedacht, welche Unterschiede und wie viel Unterschiede wir eigentlich ertragen und wo wir aushandeln müssen und welche wir nicht ertragen wollen. Auch da muss man natürlich Grenzen ziehen.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind ja sogar härter. Sie werfen doch der deutschen Gesellschaft vor, sie schaffe erst das Ghetto, das sie selbst beklagt, indem sie ausgrenzt.

John: Natürlich, wenn man diese Art von Verbote schafft – und die ganze Debatte über das Kopftuch hat ja auch dazu geführt, dass selbst die Kassiererin, die mit dem Kopftuch an der Kasse sitzt, nicht mehr erwünscht war, dass die angegiftet worden ist –, wo sollen dann gerade Frauen, die beruflich tätig sein wollen, die ihre Familien zumindest zeitweise verlassen wollen, die sich bilden wollen, die als Ärztin in Krankenhäusern arbeiten wollen, wo sollen die unterkommen? Wir stoßen sie ja praktisch in das Ghetto zurück. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir eigentlich dauernd sagen und auch anstreben.

Deutschlandradio Kultur: Wie funktioniert das bei Ihnen im Paritätischen Wohlfahrtsverband? Können Sie die Ausländer da aus ihrem Ghetto rausholen? Finden Sie genügend Mitarbeiter, auch Ehrenamtliche in Ihrem Bereich?

John: Ja, wir haben da ja bestimmte Leitlinien entwickelt. Bei uns ist ja auch der islamische Frauenverein Mitglied. Selbstverständlich werden da offene Diskussionen geführt. Da knallt es auch aufeinander. Das muss auch eine Auseinandersetzung sein. Ich denke, nur über eine Auseinandersetzung kann man zu weiteren Lösungen kommen. Eine Einwanderungsgesellschaft, die wir hoffentlich noch werden, und zwar eine erfolgreiche, die wir ja bisher noch nicht in dem Maße sind, dass wir auch Qualifizierte anziehen, die muss gemeinsame Spielregeln haben. Ich bin nicht für eine Toleranz, die alles toleriert. Toleranz hat Werte zu verteidigen, und zwar ganz entscheidende Werte, nämlich die Freiheit des Einzelnen. Und das bedeutet, dass wir uns an Spielregeln halten, dass wir uns an Menschenrechte halten. Genau darum geht es. Das geschieht im Kleinen, das geschieht in der Familie, das geschieht in Verbänden und das muss in der Gesellschaft geschehen.

Deutschlandradio Kultur: Der Paritätische Wohlfahrtsverband vertritt in Deutschland 10.000 soziale Einrichtungen, Initiativen und Vereine mit 500.000 Beschäftigten, aber mit 1,2 Millionen ehrenamtlichen Helfern. Was würden Sie denn jemandem empfehlen, der viel Freizeit hat? Wo soll er sich engagieren?

John: Da, wo sein Herz schlägt. Das können Kinder sein. Das können auch Ältere sein. Das können chronisch Kranke sein. Da gibt es natürlich ein breites Spektrum. Das hängt auch von der verfügbaren Zeit ab. Wichtig ist, dass man das nicht nur punktuell macht – "Ich habe gerade mal Lust etwas zu machen" –, sondern das muss schon eine gewisse Verbindlichkeit haben. Aber was man dabei spürt, ist, dass man sich eigentlich selber hilft, wenn man anderen hilft. Diese Erfahrung mache ich immer wieder, dass so viel zurückkommt. Und für diejenigen, die diese Hilfe in Anspruch nehmen, ist es etwas ganz anderes, ob ich jemanden habe, der das macht, um Geld damit zu verdienen, oder ob jemand da ist, der das freiwillig macht, weil da sehr viel mehr rüber kommt. Da kommt Interesse rüber, nicht nur das Interesse an dem Lohn, sondern das Interesse an mir. Deswegen ist das ehrenamtliche Engagement wichtig. Ich hoffe, dass wir in Deutschland, also dass die Bürger sehr viel stärker auf andere schauen, dass wir eine größere, eine intensivere Bürgergemeinschaft werden und uns um andere kümmern. Ich denke, dass man damit auch das, was der Staat nicht mehr leisten kann in einer globalisierten Wirtschaft, auffangen kann, aber nicht nur, dass wir es finanziell abpolstern, sondern dass wir durch diese Leistung, die wir von anderen bekommen, auch tatsächlich eine fürsorglichere Gemeinschaft werden.

Deutschlandradio Kultur: Frau John, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.