Der "Wiener Kreis" als Philosophie-Krimi

Anti-Verschwörer im Kaffeehaus

06:52 Minuten
Der deutsche Philosoph Moritz Schlick. Begründer des Wiener Kreises. Schlick sitzt in Hemd, Weste, Jacket und heller Hose auf einem Stuhl. Die Hände gefaltet.
Moritz Schlick, Physiker und Philosoph (1882-1936) © picture-alliance / IMAGNO/Austrian Archives
Von Étienne Roeder · 30.01.2022
Audio herunterladen
Der radikal an den Naturwissenschaften orientierte "Wiener Kreis" ist bis heute einflussreich. Der britische Philosoph David Edmonds hat seine Geschichte als spannenden Philosophie-Krimi aufgeschrieben.
Albert Einstein war nicht nur ein genialer Physiker, er verstand auch etwas vom Kochen. Als er bei seinem Physiker-Kollegen Phillip Frank in Prag zu Besuch war, rettete er das Abendessen. Man solle Kalbsleber lieber in Fett statt in Wasser braten, riet er dem Freund. Alles eine Frage des Siedepunkts.
Besagter Philipp Frank war nicht nur ein Bekannter Einsteins, sondern auch Mitglied im „Wiener Kreis“, einem illustren Zirkel von Physikern wie Moritz Schlick und Otto Neurath und Philosophen wie Rudof Carnap. Der Kreis traf sich regelmäßig in Wiener Kaffeehäusern. Und er hatte sich nichts weniger vorgenommen, als die abendländische Metaphysik zu zertrümmern. Mit seinem von den Naturwissenschaften und der Wissenschaftsphilosophie geprägten Denken sollte der "Wiener Kreis" die Philosophie auf Jahrzehnte hinaus maßgeblich prägen. Aber auch in entschiedene Gegnerschaft zum Faschismus treten.

Helle Köpfe, schwer zu lesen

So jedenfalls beschreibt es der britische Philosoph David Edmonds in seinem akribisch recherchierten Werk. „Das Buch war eine echte Herausforderung“, erzählt er, „denn es ging um nicht weniger als 25 Personen, die mit dem "Wiener Kreis" zu tun hatten oder Mitglied waren." Dazu komme, dass es sich um wirklich anspruchsvolle philosophische Ideen handelte, die man als Nicht-Philosoph eher verwirrend finde:
"Rudolf Carnap zum Beispiel. Er war Mitglied, und ich kann nicht wirklich empfehlen, ihn zu lesen, weil er so schwierig ist. Umso mehr fand ich es spannend herauszufinden, warum eine Gruppe von Denkern und Denkerinnen – es gab auch Frauen in dem Kreis – warum diese Gruppe, die sich für die neuen Wissenschaften von Einstein begeisterte und sich in Kaffeehäusern zum Gedankenaustausch traf, als Gefahr gesehen wurde.“

Leitstern Ludwig Wittgenstein

Das Prozedere im Kreis folgte strengen Ritualen. Kreis-Initiator Moritz Schlick klatschte um Punkt 18 Uhr in die Hände und rief so die lockere Runde zur Ordnung: Dann eröffnete er die Sitzung, indem er auf eine neue Publikation hinwies oder einen Briefwechsel vorlas, den er oder andere mit Berühmtheiten wie zum Beispiel Einstein geführt hatten. In späteren Jahren sollte Kreismitglied und Mathematiker Friedrich Waismann regelmäßig über seine Treffen mit Ludwig Wittgenstein Bericht erstatten.
Den Autor des Tractatus logico-philosophicus verehrten sie wie einen Propheten, luden Wittgenstein auch immer wieder ein, seine Ideen zu Sinn und Bedeutung der Sprache im Kreis darzulegen, doch vergeblich: Wittgenstein war zu eigenbrötlerisch, und Karl Popper, der gern gekommen wäre, wurde wegen seiner Animosität zu Wittgenstein nie eingeladen. Edmonds hat diesen Zwist in einem früheren Buch „Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte“ beschrieben, so wie er überhaupt von Wittgenstein fasziniert ist:

Wittgensteins Charakter ist ungeheuer spannend für mich. Ich spüre sein Charisma praktisch noch heute in seinen Schriften, und das, obwohl er schon über 70 Jahre tot ist.“

David Edmonds, britischer Philosoph

Im Wiener Kaffeehaus konnten die Mitglieder des Kreises anhand von Wittgensteins Sprachkritik stundenlang die Frage erörtern, ob der Morgenstern und der Abendstern nun identisch sind – und vor allem, ob diese Aussage vom Standpunkt der Logik Sinn ergibt.

Der Logik verpflichtet

Diese und andere analytische Fragen und der damit verbundene logische Empirismus machten den Kreis in seiner Zeit revolutionär. Edmonds beschreibt das so: „Wenn Aussagen weder analytischer Natur waren – also in der Art: Jedes Dreieck hat drei Seiten –, oder wenn sie nicht empirisch überprüfbar waren, wie der Umstand, dass Wasser bei hundert Grad Celsius zu sieden beginnt, dann wurden diese Aussagen abgelehnt."
Der Wiener Kreis habe die Ambiguität der Metaphysik gehasst, sagt Edmonds, "und die extreme Rechte und die Religion waren voll davon. Die Mitglieder betrachteten daher auch die meisten religiösen Aussagen als bedeutungslos. Auch das Konzept vom Volk, wie es die Faschisten propagierten, lehnten sie ab. Weil empirisch bedeutungslos, zerlegten sie förmlich die Aussage der Faschisten, dass es eine Gruppe von Individuen gebe, die aus welchen Gründen auch immer über anderen stehen könnten.“

Das Wien der Nazis

1936 wird Moritz Schlick von einem ehemaligen Studenten auf den Treppen der Wiener Universität erschossen. Das Mordmotiv war eine Mischung aus Eifersucht, Rache, vor allem aber die tief sitzende Verstörung eines katholischen Menschen, der in Schlicks "Wiener Kreis" die Inkarnation des jüdischen Weltzersetzers sah. Dass Schlick selbst gar kein Jude war, bestätigt diesen Wahn.
In seinem Philosophie-Krimi „Die Ermordung des Professor Schlick“ schafft Edmonds eine dichte Zustandsbeschreibung von Wien als Ort von großen Ideen. Wien war aber auch – und das wird anhand der Geschichte des "Wiener Kreises", die Edmonds zeichnet, ganz deutlich – eine durch den Antisemitismus verseuchte Stadt.
Faktisch war Schlicks Tod das Ende des Kreises, dessen Mitglieder danach ins Exil gingen. Doch ihre Ideen legten den Grundstein für die noch heute einflussreiche analytische Sprachphilosophie. Und wenn eines aus diesem Buch hervorgeht, dann die Erkenntnis, dass gerade in Zeiten von Verschwörungserzählungen und fake news die Relevanz evidenzbasierter Aussagen immer noch aktuell ist.

David Edmonds: "Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie" C.H. Beck, München 2021
352 Seiten, 26 Euro.

Mehr zum Thema