Der ungleiche Bruder

24.05.2012
Ausgerechnet der Bruder des Kriegsverbrechers Hermann Göring leistete Widerstand? - Dieser Frage ging William Hastings nach, befragte Zeitzeugen, sammelte Belege und schuf ein enthusiastisches Zeugnis für die Rebellion und Zivilcourage von Albert Göring in der Nazizeit.
Widerstand gegen die Nazis geleistet zu haben, ist in Deutschland ein Premiumprädikat. Dass es die Attentatsversuche auf Hitler und Rebellionen gegen das Regime gegeben hat, gehört neben der Anerkennung der Verbrechen zum historischen Selbstverständnis der Republik. Umso verblüffender, dass erst der Australier William Hastings Burke, ein studierter Volkswirt, die Geschichte von Hermann Görings jüngerem Bruder aufschreibt - jenem Geschäftsmann und Bonvivant, der seine Existenz riskierte, um Juden vor der Nazi-Verfolgung zu retten. Noch verblüffender: Albert (1895-1966) hat sich von Hermann, dem Mit-Verantwortlichen für die "Endlösung der Judenfrage", mehrfach schützen und indirekt helfen lassen.

Als 18-Jähriger sah Burke die TV-Dokumentation "The Real Albert Goering" (von 1998), fand aber kein weiteres Material. In seinem Buch nähert er sich nun der Person Alberts, indem er die Geschichte seiner Recherchen in Europa und Amerika samt Treffen mit Zeitzeugen und Nachfahren wie Alberts Tochter Elisabeth Göring ausbreitet. Die Lebensgeschichte, die Burke in "Hermanns Bruder" erzählt, hat es in sich. 34 Namen, darunter der von Kurt von Schuschnigg, dem Ex-Kanzler Österreichs, notierte Albert 1945 in amerikanischer Gefangenschaft, als ihm keiner glauben wollte, dass ausgerechnet ein Göring Verfolgten des Nazi-Regimes geholfen haben soll. Als man der Sache nachging, fanden sich jedoch genügend Zeugen. Genauso in Tschechien, wo Albert ebenfalls wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden sollte. Ex-Kollegen von Skoda sorgten für seine Freilassung. In Nachkriegsdeutschland aber konnte Göring nichts werden. Der einst glamouröse Millionär starb in bescheidenen Verhältnissen.

Folgt man Burke, waren es nicht politische Interessen, sondern Gerechtigkeitssinn und Zivilcourage, die Albert Göring zum Nazi-Gegner machten. Sein Familienname war ihm durchaus ein Werkzeug. Als er im besetzten Wien erlebte, dass jüdische Frauen vor den Augen der SS die Straße auf Knien schrubben mussten, schrubbte er kurzerhand mit. Zur Rede gestellt, wies er sich als Göring aus - womit die Szene beendet war, auch für die Frauen. Die von Hermann gegründete Gestapo allerdings überwachte Albert, der Kontakte zu Dissidenten unterhielt, Pässe besorgte und Bedürftigen mit Geld aushalf. Mehrere Haftbefehle wurden erlassen, man setzte ihn gefangen. Für seine Freilassung sorgte - Bruder Hermann. Später bemerkte Albert, Hermann habe ihm gesagt, sofern er Juden retten wolle, sei das "seine Sache". Albert trennte recht locker zwischen dem privaten und dem öffentlichen Hermann G.: "Als Brüder standen wir uns nahe."

Jacques Benbassat, der Sohn eines Freundes von Albert, berichtete Burke von einem filmreifen Coup: Albert soll mit vier Lastwagen im KZ Theresienstadt vorgefahren sein, seinen Namen gesagt und Arbeiter für die Skoda-Werke eingesammelt haben, um sie unterwegs auf der Flucht zu entlassen. Man wünscht sich, dass das stimmt. "Hermanns Bruder" ist den Historikern zur Detail-Prüfung und dem großen Publikum zum Erstaunen zu empfehlen: Ja, es gab ihn, den guten Göring. Burke selbst geht noch weiter: "Ich danke Albert Göring, der meinen Glauben an die Menschheit gefestigt hat."

Der Enthusiasmus kann stilistische und intellektuelle Schwächen des Buches zwar nicht verdecken (so leidet der Erzählfluss bisweilen unter Sprunghaftigkeit, in den Gegenwarts-Passagen orientiert sich Burke oft an gröbsten nationalen Stereotypen), doch in der Hauptsache ist das Werk gelungen.

Besprochen von Arno Orzessek

William Hastings Burke: Hermanns Bruder: Wer war Albert Göring?
Aus dem Englischen von Gesine Schröder
Aufbau Verlag, Berlin 2012
237 Seiten; 19,99 Euro

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