Ein doppelt tragisches Schicksal

09.09.2010
13,5 Millionen Menschen schufteten für Nazi-Deutschland als Zwangsarbeiter. Doch auch nach Kriegsende war für die Verschleppten aus dem Osten der Leidensweg nicht zu Ende, wie dieser Sammelband zeigt. In Stalins Reich galten sie als Verräter, und als solche wurden sie nach der Rückkehr bestraft.
1943 hing dutzendfach ein Plakat im besetzten Kiew, eine "Amtliche Bekanntmachung" an alle Jugendlichen: Sie sollten an einem Junimorgen bereit stehen zum Transport ins Deutsche Reich. "Arbeitsdienstpflichtige", so nannte Hitlers Statthalter die jungen Leute.

Heute spricht man von Zwangsarbeitern. 13,5 Millionen Menschen schufteten für Nazi-Deutschland, eine unvorstellbare Zahl. Die größte Gruppe stammte aus den Westgebieten der Sowjetunion, drei bis fünf Millionen Zivilisten, dazu zwei Millionen Kriegsgefangene.

1945 endete das Kapitel Sklavenarbeit, doch für die Verschleppten aus dem Osten war der Leidensweg nicht zu Ende. In Stalins Reich galten sie alle als Verräter, und als solche wurden sie nach der Rückkehr bestraft: mit Gulag-Haft und neuerlicher Zwangsarbeit, mit Diffamierung und Diskriminierung.

Ein Sammelband aus Österreich ergründet nun das doppelt tragische Schicksal der "Ostarbeiter" und Gefangenen. Das Werk bündelt die Erkenntnisse aus dem zeitaufwendigen Projekt des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung in Graz. 17 Autoren waren beteiligt, auch russische, ukrainische und baltische Historiker. Zwei Aufsätze erhellen die Lage der Sklavenarbeiter in Deutschland. Die meisten Beiträge beschreiben die Zeit nach 1945: die Situation der Displaced Persons in Österreich und die der Heimkehrer.

Stalins Behörden lockten Unentschlossene mit Propaganda ("Die Heimat wartet auf Euch"). Wer den Werbern nicht folgte, wurde mit Gewalt heim nach Osten geschafft. Dies betraf auch Menschen, die diese "Heimat" nie gesehen hatten, Polen, Ukrainer, vor allem Balten - Männer und Frauen aus Regionen, die im Krieg vom Kreml annektiert worden waren.
Zwei Großaktionen hatten besonders dramatische Folgen: Mitte 1945 übergaben die Briten in der Steiermark Stalins Häschern 15.000 Menschen - Kosaken und andere Emigranten. Fast alle starben noch im selben Jahr, von eigener Hand getötet, verhungert oder hingerichtet. Und 1946 lieferte das neutrale Schweden baltische Soldaten an Moskau aus. In Österreich endeten die Verschleppungen 1946. Nach Beginn des Kalten Kriegs widersetzten sich die Westmächte der Zwangsrepatriierung. Mehrere hunderttausend Displaced Persons konnten deshalb im Westen bleiben.

Viele Einsichten gewannen die Forscher durch "Oral History": Sie befragten Betroffene. Einige Lebensberichte – von Rückkehrern und Exilanten - sind im Buch abgedruckt. Die gut lesbaren Beiträge des Bandes schockieren den Leser. Bislang gab es keine internationalen Studien zu diesem Thema.

Und erst seit der partiellen Öffnung russischer Archive lässt sich der Stoff tiefgründig erforschen. Für die Publikation konnten die Autoren erstmals Akten der Sowjetführung unter Stalin auswerten. Das Buch, schreiben die Herausgeber, verstehe sich als Zwischenbilanz: Die Geschichte der Migrationsströme nach Ende des Zweiten Weltkriegs sei "schier unerschöpflich".

Dass man bis heute nicht unbefangen über diese Geschichte sprechen kann, spürten die Grazer Forscher zu Beginn ihrer Arbeit 2006. Russische Politiker und Historiker protestierten. Erst nach Verhandlungen der Außenminister konnten russische Wissenschaftler in die Arbeit einbezogen werden. Der Vorfall zeigt: In den Köpfen ist der Kalte Krieg noch immer nicht vorbei.

Besprochen von Uwe Stolzmann

Peter Ruggenthaler, Walter M. Iber (Hg.): Hitlers Sklaven – Stalins "Verräter". Aspekte der Repression an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Eine Zwischenbilanz
Studienverlag, Insbruck-Wien-Bozen 2010
384 Seiten, 36,90 Euro