Der Tartar auf Schellack

Von Winfried Sträter |
Neunzig Prozent der Weltsprachen könnten noch in diesem Jahrhundert verschwinden. Im Lautarchiv der Berliner Humboldt-Universität sind auf Schellackplatten einige Sprachen archiviert. Im Ersten Weltkrieg legten Wissenschaftler mit Aufnahmen von Gefangenen dieses Archiv an. Dort finden sich tatarische Gesänge bis zu einem auf Irisch vorgetragenen Bibeltext.
Tatarengesänge im Kriegsgefangenenlager. Die Aufnahme stammt aus dem Ersten Weltkrieg, als Anthropologen, Sprach- und Musikwissenschaftler die Kriegssituation nutzten, um ein Archiv menschlicher Sprachen anzulegen. 30 Wissenschaftler besuchten 175 Kriegsgefangenenlager – auf Geheiß der Königlich-Preußischen Phonografischen Kommission, die 1915 eingesetzt wurde. 250 verschiedene Sprachen und Dialekte nahmen sie auf Schellackplatten und Wachswalzen auf.

Ein Ire liest den Bibeltext über den verlorenen Sohn auf Irisch. Auf einem Personalbogen trugen die Forscher alle Angaben über den kriegsgefangenen Iren ein und übertrugen sämtliche Sprach- und Musikaufnahmen in die Schriftsprache des Herkunftslandes. Bei unbekannten Sprachen (wie dem Tschuwaschischen) zeichneten sie Wortgruppen und Zahlenkolonnen auf.

"Aus Frankreich temperamentvolle Franzosen in allen Schattierungen heimatlicher Mundarten. (...) Sangeslustige Italiener aus allen Bezirken der apenninischen Halbinsel. (...) Rassige, sentimentale Serben und schwerfällige, gutmütige Großrussen und Weißrussen. Dazu leicht erregbare Polen. Eckig muskulöse Litauer, semmelblonde, aufgeweckte Letten..."

So wurden die aufgenommenen Personen von dem Mann charakterisiert, der das Projekt ins Leben gerufen hatte: Wilhelm Doegen - ein Sprachforscher, der schon lange von einem "Sprachenmuseum der Völker" geträumt hatte. Kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam ihm der Gedanke, den Aufenthalt der Kriegsgefangenen in deutschen Lagern zu nutzen, um entlegene Sprachen und Dialekte zu dokumentieren. So eine günstige Gelegenheit, meinte er, komme nach menschlicher Voraussicht nie wieder.

Doegen bekam die Genehmigung für sein Projekt, organisierte die Sprachaufnahmen und der Berliner Musikwissenschaftler Georg Schünemann koordinierte die musikalischen Aufzeichnungen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde für Doegens Lautarchiv die Lautabteilung an der Preußischen Staatsbibliothek eingerichtet. Das Phonogrammarchiv mit Schünemanns musikalischen Aufzeichnungen landete nach einigen Wirrnissen im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem. Heute bilden beide Archive einen einzigartigen Bestand an historischen Schalldokumenten zur völkerkundlichen Sprach- und Musikgeschichte.
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