Der Super-Gau für Eltern

Von Christian Gampert · 04.02.2012
Mit "Das fliegende Kind" theatralisiert Roland Schimmelpfennig den Eltern-Alptraum schlechthin - und inszeniert ihn, hochmetaphorisch aufgeladen, am Wiener Burgtheater selbst. Er zeigt drei Elternpaare, die pseudoobjektiv ein Unglück vorspielen.
Ein schwarzer Wagen fährt bei Nacht durch die Stadt und holt unsere Kinder ... Das heißt: er fährt unsere Kinder an, ganz leicht nur, er streift sie kaum, und ein Kind fliegt dann durch die Luft und ist tot. Das fliegende Kind. Die Eltern haben vorher ganz anderes zu tun, sie beschweren sich über plärrende Gören, sie streiten miteinander, sie planen den nächsten Seitensprung. Warum können sie nicht einfach beieinander bleiben? Und am Ende sind sie sehr traurig, weil das Kind nun weg ist, abhanden gekommen wie ein Stock oder Hut.

Roland Schimmelpfennig nimmt diesen größten anzunehmenden Unfall, den Verlust eines Kindes, und zeigt uns, wie wir unser Leben verschleudern mit allerlei Nichtigkeiten. Es ist ein ganz einfacher, schöner, musikalischer, märchenhafter Text mit vielen rituellen Wiederholungen, wie eine Liturgie. Natürlich ist das Leitmotiv eine Variation des Erlkönig-Themas: ein schwarzer Wagen fährt bei Nacht durch die Stadt. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind. Und das Schlimmste bleibt, dass der Vater selber der Todesfahrer ist, aus Nachlässigkeit und Abgelenktheit und weil er die Familie flieht.

Aus Sicht des Theaters aber ist es sehr schade, dass Schimmelpfennig vor diesem großen Thema dann gleich wieder davonläuft. Denn er schreibt fast nichts über Kinder (Kinder sind nicht theaterkompatibel, jedenfalls nicht auf der großen Bühne), er schreibt über die Eltern. Und auch da nutzt er sofort die Technik der Distanzierung: Es gibt nicht das eine Paar, das ein Kind verliert, er gibt drei Männer und drei Frauen, die uns pseudoobjektiv vorspielen, was passiert, wenn man mit den Kindern auf einen Laternenumzug geht und einen Moment lang nicht aufpasst.
Und das ist richtig ärgerlich: Fast eineinhalb Stunden lang bekommen wir angestaubtes, improvisatorisch-episches Zeige-Theater vorgeturnt, auf hohem Niveau natürlich, wir sind ja an der Burg. Und dann gibt es diesen einen Augenblick, diese eine zerdehnte Sekunde: Das Kind stirbt, und die Zeit steht still.

Roland Schimmelpfennig hat diese Technik der Zerdehnung bei Jürgen Gosch gelernt, der ja auch ein Meister der Langsamkeit war. Und im Grunde ist das gesamte Stück die Analyse einer einzigen, fatalen Spätnachmittags-Episode. Sankt Martin, Sankt Martin ... Wir gehen Laterne laufen, vorher wird in der Kirche gesungen, und dann wird es dunkel.

Der Autor Schimmelpfennig muss die Banalität dieser Kindertragödie natürlich ein bisschen zivilisationskritisch grundieren und dann wieder mythologisch überhöhen. Über der Erde gibt es bei ihm eifrige, unterbezahlte Lehrerinnen und angespannte, erotisch unterversorgte Eltern; unter der Erde aber laufen Drähte, Rohre, Kabel und Gasleitungen, und im Bauch der großen Stadt gibt es Tunnelarbeiter, die angeblich alles mithören: Wie die Eltern streiten, und wie dann dem Gott des Straßenverkehrs geopfert wird – zwölf tote Kinder sind dem pro Jahr versprochen. Oben im Kirchturm sitzt ein Arbeiter, zu ihm wird das tote Kind hinfliegen und über die Stadt gucken wie der Engel bei Wim Wenders über Berlin. Und irgendwo hält die wunderschöne Doktor Dolores da Silva aus Brasilien einen Vortrag über den Urwald, Titel: Untergang und Zukunft. Da muss man hin, als Vater, der erotisch noch was erleben will.
Das alles ist also hochmetaphorisch aufgeladen, jeder Handyanruf hat den Gestus "Ich wollte dich erreichen, aber du bist so unerreichbar", man redet auf der Bühne über Teilchenphysik und Unendlichkeit und macht höchst albern die gackernden Affengeräusche des Urwalds nach. Diese Schauspieler-Übungen sind herzlich uninteressant: der Regisseur Schimmelpfennig kann die Spielräume, die sein Text liefert, überhaupt nicht nutzen, und es ist die Frage, ob sein Stück, das so märchenhaft daherkommt, nicht doch ein verkapptes moralisches Lehrstück ist, das zum Schauspielergezappel einlädt.

Auf der schwarzen Bühne von Johannes Schütz stehen drei Glocken, die immer wieder schicksalhaft-pompös angeschlagen werden. Nur als das Kind stirbt und seine arme Seele auf dem Kirchturm sitzt, erzeugt der Kirchturmwärter einen leisen, reibenden, schwebenden Klang, und dann erzählt er uns den verpassten Lebenslauf dieses Kindes, das alle Gefahren umschifft, das zur Schule geht und auf Klassenfahrt – und das nun tot ist, und das alles kann doch nicht wahr sein. Das ist ein großer Moment. Mein Licht geht aus, wir geh’n nach Haus, rabimmel, rabammel, rabumm.
Mehr zum Thema