Über Zufall und Notwendigkeit

Von Ulrich Fischer · 30.07.2011
"Die vier Himmelsrichtungen" sind ein Stück über den Tod. Roland Schimmelpfennig lässt ihn von einer seiner Figuren in seinem neuesten Stück als Finsternis beschreiben. Das Verlöschen des Bewusstseins wird von einem zweiten Bewusstsein beobachtet, Grauen evoziert.
Diese Betrachtung des Todes zieht eine Hochschätzung des Lebens nach sich: Man sollte jeden Augenblick bis zur Neige auskosten. Dem Tod entspricht das Nichts, dem Leben das All(es). Und wie die Begriffe Tod und Leben, Nichts und All einzeln für sich stehen können, aber doch auch als Gegensätze zusammengehören, ist es mit Nord und Süd, Ost und West, den "Vier Himmelsrichtungen". Roland Schimmelpfennigs "Vier Himmelsrichtungen" sind ein existenzielles Stück, spielerisch verrätselt.

Aus dem Osten kommt eine Frau, die als Wahrsagerin ihr Brot damit verdient, die Zukunft vorherzusagen. Sie altert und braucht wenig Kunst um zu wissen, dass ihr Freund sie bald für eine Jüngere verlassen wird. Der hat 400 Kisten mit Knetluftballons gefunden und baut sich damit eine Existenz als Luftballonkneter auf. Verloren hat die Ballons ein Lastwagenfahrer bei einem Unfall. Er hatte sowieso die Nase voll von seiner Arbeit, nahm den Unfall als Anlass umzusatteln, kaufte sich eine Knarre und arbeitet seitdem als Räuber. Beide Männer lieben eine Kellnerin: Der dramatische Höhepunkt ist der Kampf der beiden. Der Ballonkneter ist kleiner, schwächer, der Räuber ein Riese, vor Kraft berstend. Dennoch sieht es für einen Augenblick so aus, als ob David gewänne, doch dann siegt Goliath. Der Kleinere stirbt, das wollte Goliath nicht, er kann es nicht fassen.

Roland Schimmelpfennig hat nicht nur das Stück geschrieben, er hat auch die Uraufführung selbst inszeniert und arbeitet die Frage heraus, was Zufall, was Notwendigkeit ist. Seine vier Figuren aus den vier Himmelsrichtungen scheitern beim Versuch, das Beste aus ihrem Leben zu machen – sie wissen zu wenig über sich und die anderen. Das Stück ist in über 50 Kurz-Szenen zerhackt, keine der Figuren hat den Überblick wie die Zuschauer. Schimmelpfennig lässt seine Schauspieler zunächst die Geschichte episch erzählen, die Darsteller sind weit von den Rollen weg. Mit der Zeit nähern sie sich an, die Spannung soll steigen, mit der Dramatik des näher rückenden Kampfes gibt es ein Crescendo, die Stimmen werden schriller, die Gesten hektischer.

Das tut weder dem Stück noch der Uraufführung gut – mutmaßlich wäre es besser gewesen, die anfängliche Distanz Darsteller-Rolle zu wahren. Die Schauspieler waren ausgezeichnet, alle vier. Almut Zilcher spielt überzeugend eine Wahrsagerin, die sich um eine Aura der Rätselhaftigkeit sichtlich bemüht und die darunter leidet, dass ihre Anziehungskraft täglich mehr schwindet. Ulrich Matthes ist ihr jüngerer Freund. Matthes, groß, schlank, fast hager, verdankt seine beinahe schon bedrängende Ausstrahlung wohl vor allem seiner Physiognomie.

Die großen Augen liegen in tiefen Höhlen, er kann sie effektvoll Blicke schießen lassen – er spielt einen Mann, der um seine Unabhängigkeit kämpft und sich abnabeln will, abnabeln muss von der Wahrsagerin, auf deren Kosten er wohl lebt. Seinen Gegner, den Großen, den starken Riesen, spielt Andreas Döhler als einen Naiven, der nicht weiß, was seine Kraft bewirkt, ein Räuber, der vor den Wirkungen seiner Taten erschrickt, ein Mörder, dem man fast Sympathie entgegen bringen kann. Und Kathleen Morgeneyer skizziert seine Freundin als lebenshungrige junge Frau, die ahnt, dass ein Gehirntumor sie bald umbringen wird.

Ein glänzendes Ensemble – an den Schauspielern lag es nicht, dass die Uraufführung hinter den Erwartungen zurück bleibt. Es liegt an Schimmelpfennigs Regie, der seinem Text zu wenig traut, zu stark auf die Tube drückt – und es liegt an den Erwartungen. Roland Schimmelpfennig ist im letzten Jahr mit seinem "Goldenen Drachen" ein Meisterwerk gelungen – und seine Inszenierung ist ein Muster geworden, an der andere sich messen lassen müssen. Die Erwartungen an sein neues Stück waren also die allerhöchsten. Da ist eine Enttäuschung fast schon vorprogrammiert.

"Die vier Himmelrichtungen" bleiben hinter dem "Goldenen Drachen" zurück – nicht zuletzt wegen des Sujets. Wichtiger, drängender als das Existenzielle der "Vier Himmelrichtungen" ist das Soziale, die Kritik an der Globalisierung im "Goldenen Drachen". Vielleicht liegt hier die Himmelsrichtung, die Schimmelpfennig einschlagen sollte, will er nicht weiter hinter seinem großen Erfolg mit dem "Goldenen Drachen" zurückbleiben.