"Der Suhrkamp Verlag gehörte zur Ikonografie der alten Bundesrepublik"

17.12.2012
Die Suhrkamp-Kultur war einst legendär - und prägend für das intellektuelle Leben in Deutschland. Doch inzwischen handelt es sich dabei eher um ein "historisches Phänomen", meint der Publizist Gustav Seibt. Eine Staatskrise werde der Streit unter den Gesellschaftern jedenfalls nicht auslösen.
Joachim Scholl: Die Krise des Suhrkamp Verlages hat ein mächtiges Echo in der deutschen Öffentlichkeit gefunden und jenseits des juristischen Gerangels und Streits mit all seinen Schwierigkeiten fällt in den Kommentaren, Analysen, Statements stets das Wort von der Suhrkamp-Kultur. Dass sie im Verlag entstand, ist unstrittig, auch wie wichtig sie für die Bundesrepublik nach 1945 wurde. Inwieweit gibt es sie aber tatsächlich heute noch? Hat sie wirklich noch den Rang, den ihr jetzt so viele Stimmen attestieren?

Im Studio ist jetzt Gustav Seibt, Historiker, Literaturwissenschaftler, Schriftsteller, er war einst Literaturchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", schreibt jetzt für die "Süddeutsche Zeitung" als Kulturkorrespondent in Berlin. Willkommen, Herr Seibt!

Gustav Seibt: Guten Tag!

Scholl: Sie sind bestimmt schon das eine oder andere Mal draußen am Wannsee gewesen, Herr Seibt, in jener Villa des Suhrkamp Verlags, die jetzt auch zum juristischen Zankapfel wurde, dort, wo sich Schriftsteller, Intellektuelle versammeln sollen – wie war das? Hat er da noch geweht, weht er da noch, der Geist der Suhrkamp-Kultur?

Seibt: Es ist ja nicht mal am Wannsee, es ist ja eigentlich noch protziger, nämlich an der Rehwiese, Nikolassee. Villen, die unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg entstanden sind, auf dem Höhepunkt des Reichtums in Deutschland of all Ages, muss man sagen, also Paläste, die sich über viele Stockwerke in den Himmel erstrecken, die man von schräg unten nur anschaut, bevor man dann hohe Treppen hochsteigt. Jetzt rein phänotypisch ästhetisch hat das für mich nur noch sehr wenig zu tun gehabt mit dem Haus von Siegfried Unseld in Frankfurt, das wir alle kennen von den Kritikerempfängen und auf der Buchmesse. Es hat nicht diesen neosachlichen, bundesrepublikanischen Zuschnitt, diese Fleckhaus-Ästhetik mit den regenbogenfarbenen Paperback-Umschlägen dieser eigentlich am Bauhaus orientierten Sachlichkeit, sondern es wirkte eigentlich schon im ersten Eindruck parvenühaft und überzogen auf mich, das ist aber nur ein Geschmacksurteil.

Ich glaube, die Suhrkamp-Kultur, die ja auch so in einer Draufsicht von außen diagnostiziert wurde durch George Steiner in den 70er-Jahren, hat eigentlich ihren Scheitelpunkt erreicht, als die Postmoderne eintrat, und dann mit der Berliner Republik. Und zufällig starb ja Siegfried Unseld ganz kurz nach dem Umzug der Hauptstadt von Bonn nach Berlin. Und damit war dann eigentlich so eine dreifache Zäsur erreicht, die diesem geistigen Modell, Theorie, Avantgarde, höchst anspruchsvolle Literatur, die Idee, nicht Bücher, sondern Autoren zu verlegen, also sprich, alles in einen Zusammenhang zu setzen, sich allmählich begann zu überleben, wie sich eben in der Kulturgeschichte alles überlebt.

Scholl: Haben sich die Debatten demnach verlagert Ihrem Eindruck nach? Es gibt mittlerweile viele kleinere Verlage mit entschieden intellektuellem Profil und hochkarätigen Autoren. Früher war es der Ritterschlag für einen Philosophen, für einen Literaturwissenschaftler, für einen Soziologen, wenn er bei Suhrkamp erschien.

Seibt: Das gilt für diese Disziplin, für die Geschichtswissenschaft galt es ja schon nicht mehr, hat es nie gegolten. Bei der Psychologie kann ich es nicht so beurteilen. Man muss natürlich sagen, dass der Rang von Theorie überhaupt im gesellschaftlichen Gespräch geringer geworden ist. Das hat mit Suhrkamp gar nichts zu tun, das hat einfach mit einer allgemeinen Entwicklung im geistigen Leben was zu tun. Die erzählerischen Disziplinen, wozu die Geschichtswissenschaft ja auch gehört in weiten Teilen, haben zugelegt, das ästhetische Interesse in einem ganz sinnlichen Verständnis hat zugenommen, und die Welt von Habermas und Luhmann begleitet uns weiter, aber es ist die Welt eigentlich unserer Großväter inzwischen, und daran kann auch niemand was ändern. Und dann muss man sagen, auch der Begriff von Avantgarde hat sich natürlich sehr entspannt in den letzten 10, 15 Jahren, das heißt, das formale Experiment ist nicht mehr so hoch angesehen, man will eigentlich die formal gelungene und runde Sache. Und all das widerstrebt diesem alten Geist aus der Inselstraße in Frankfurt am Main.

Scholl: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Publizisten und Historiker Gustav Seibt über den Geist der Suhrkamp-Kultur. Der Schriftsteller Adolf Muschg hat letzte Woche hier bei uns sogar den Bundespräsidenten ins Spiel gebracht: Joachim Gauck wäre ein guter Vermittler bei diesem juristischen Streit – wenn er klug ist, wird er natürlich schön die Finger davon lassen. Aber das klingt so aus dem Munde eines alten Granden wie Adolf Muschg, der ja selbst Schriftsteller ist, nach einer – ja mit Verlaub – Staatskrise, die sich hier manifestiert, wenn dieser Verlag jetzt also in irgendeiner Weise verändert wird, untergeht oder in anderer Form aufersteht. Ist das noch jener Reflex, von dem Sie gerade sprechen, Herr Gustav Seibt, also einer älteren Generation, die sich ein Leben ohne Suhrkamp einfach nicht mehr vorstellen kann und will? Es hört sich ja irgendwie grotesk an – der Bundespräsident soll sich einschalten.

Seibt: Ich finde es auch aus dem Munde von Adolf Muschg offen gestanden ziemlich lustig, der ja auch von Suhrkamp weggegangen ist, der also nicht nur aus dem Stiftungsbeirat austrat, ...

Scholl: Das muss man hier noch hinzufügen, ja.

Seibt: ... sondern auch den Verlag gewechselt hat, er ist zu C.H. Beck gegangen. Ja, der Suhrkamp Verlag gehörte zur Ikonografie der alten Bundesrepublik, das muss man einfach so sagen. Das ist sozusagen wie Wohlstand für alle, wie der Volkswagen, wie dann natürlich die Studentenproteste – also da könnte man sozusagen in einem künftigen Band "Erinnerungsorte der Bundesrepublik", den es noch nicht gibt, aber den es mal geben wird, da wird auch die Edition Suhrkamp oder der Suhrkamp Verlag zusammen mit der Buchmesse und so einen kleinen Artikel verdienen, würde ich mal sagen.

Aber wir sind eben nicht mehr Westdeutschland, und darum ist es auch so doch befremdlich, nun auf die Idee zu kommen, ausgerechnet Herr Gauck solle da den Vermittler spielen, in einer Angelegenheit, wo man ja auch sagen muss, das deutsche Gesellschaftsrecht muss ja auch ohne Ansehen des Produkts gelten. Also egal ob ich Schrauben produziere oder ob ich Taschenbücher mache, es geht hier um eine sehr komplizierte gesellschaftsrechtliche Frage, die juristisch wahrscheinlich deutlich komplizierter ist als Stuttgart 21, und ich muss ehrlich sagen, wenn ich Mitgesellschafter von Frau Unseld-Berkéwicz wäre, ich würde mir natürlich ihren Lebensstil auch genau anschauen, vor allem, wenn ich ihn nicht vorgelegt bekomme. Und wie dann das Resultat ist, das kann von außen gar niemand beurteilen. Das muss man dann wirklich als Nichtjurist sagen.

Scholl: Kommen wir noch mal zurück zu dem kulturellen Phänomen: Sie gehören, Herr Seibt, mit dem Jahrgang 1959 zu der Generation, die noch mit der Suhrkamp-Kultur groß geworden, intellektuell sozialisiert worden ist, den Buchreihen, den großen Namen und Theoretikern – Sie haben schon etliche genannt. Heute unterrichten Sie auch als Honorarprofessor an der Universität. Haben junge Studenten eigentlich damit noch überhaupt etwas am Hut, sagt denen der Begriff noch etwas?

Seibt: Ich fürchte nicht. Also die jungen Studenten haben ja auch einen ganz anderen Medienkonsum. Wenn ich frage, wer von euch liest regelmäßig eine Tageszeitung auf Papier, dann ist das inzwischen auch eine Minderheit. Die lesen schon viele Zeitungen, im Internet, die informieren sich, die wissen auch sehr viel, aber es gibt nicht mehr diese dominanten Informationskanäle, und ein solcher war eben der Suhrkamp Verlag. Und dann muss man natürlich sagen, in meiner Biografie, der ich deutlich älter als diese Studenten bin, war ja auch das letzte eklatante Ereignis der genuinen Suhrkamp-Kultur eigentlich dieser Band tausend der Edition Suhrkamp, dieser Doppelband, den Habermas herausgegeben hat, "Stichworte zur ,Geistigen Situation der Zeit'". Da wurde noch mal versucht, alles zu bündeln, das war Ende der 70er-Jahre.

Was danach kam, hat sich dann schon so in alle möglichen Richtungen zerfasert und ist eigentlich zu diesem postmodernen Gemischtwarenladen geworden, zu dem sich dann diese ganze späte Bundesrepublik insgesamt entwickelt hat. Und noch etwas Letztes muss man sagen: Die Neuakquisitionen des Suhrkamp Verlages der letzten zehn Jahre, also Gesamtwerke von Christoph Hein oder Christa Wolf, sind anderswo aufgebaut worden, und Tellkamp ist nicht von Suhrkamp entdeckt worden. Der letzte ganz große Gegenwartsautor, den sie selber entwickelt haben, ist Durs Grünbein gewesen, das war ein Tipp von Heiner Müller.

Scholl: Das heißt also de facto, wenn jetzt der Geist der Suhrkamp-Kultur so beschworen wird, es gibt ihn eigentlich gar nicht mehr?

Seibt: Doch, es gibt ihn als historisches Phänomen, das auch sozusagen noch recht lange weiter wirken wird. In gewisser Weise wie Flugzeuge weiterfliegen, deren Triebwerke ausgefallen sind, die stürzen auch nicht sofort ab. Und vielleicht kann man eine sanfte Landung hinbekommen, und es gibt eine ungeheure Erbschaft an Backlist, aber auch an Erfahrungen, Traditionen, die man natürlich bewahren und weiterführen soll. Ich glaube auch, dass es nicht wirtschaftlich wäre, das jetzt zu zerschlagen. Also ich nehme an, auch als Minderheitsgesellschafter wäre man gut beraten, da zu einer Einigung zu kommen, aber man muss, glaube ich, von der Illusion Abstand nehmen, dass das jetzt ein Einschnitt in der Nähe einer kulturellen Staatskrise wäre.

Scholl: Das wäre also der Gedanke, wenn Suhrkamp aufgelöst wird, geht ein großer Name, eine weitere große Geschichte der alten Bundesrepublik zu Ende, aber für das aktuelle intellektuelle Leben hierzulande wird das wenig bedeutsam sein.

Seibt: Es wird schon bedeutsam sein, es wäre schon sehr schade, aber es hätte nicht diesen dramatischen Akzent, der von vielen jetzt erhoben wird. Man muss natürlich auch sagen, wenn die Autoren da nicht mitspielen und sagen, bei Auflösung des Verlages verlassen wir ihn – also große Namen wie Enzensberger und Handke –, dann wird das Unternehmen ja auch gleich so viel weniger Wert, dass es dann nicht so interessant ist, denn nur mit Hesse und Brecht und Max Frisch kann man natürlich noch recht lange Leben und Renditen einsammeln, aber das sind dann eben so mumienhafte Unternehmungen, so wie Edition Peters eben von Richard Strauss jetzt noch fünf Jahre leben wird. Wenn der dann mal frei ist, ist da auch Schluss, das gibt es dann eben.

Scholl: Thomas Mann hat seine "Betrachtungen eines Unpolitischen" als romantisches Rückzugsgefecht bezeichnet, mehr als 90 Jahre ist das jetzt her. Also eine Epoche ist zu Ende, der Zeitgeist hat sich unwiderruflich gedreht. Hören wir momentan solche Art Gefechtslärm einer verlorenen Schlacht?

Seibt: Mal sehen, ob die schon verloren ist. Also mir würde es um einige Autoren sehr, sehr leidtun, muss ich sagen. Also ich würde da vor allem drei nennen: Durs Grünbein, Rainald Goetz und Uwe Tellkamp, die Dinge machen, die wirklich über die Literatur hinaus von Bedeutung sind, für unser öffentliches Gespräch, unser Selbstverständnis und den Stand der deutschen Sprache, und es ist schon gut, wenn solche großen Geister an einer Stelle versammelt sind und wir mit ihnen dort sprechen können. Aber die Verantwortung gilt ja für alle Seiten in dieser Gesellschaft, also nicht nur für den Herrn Barlach, der jetzt von allen verketzert wird, diese Verantwortung muss auch die Witwe von Siegfried Unseld wahrnehmen – und die eigentlich fast noch mehr.

Scholl: Gibt es sie noch, die Suhrkamp-Kultur? Das war der Publizist, Historiker, Literaturwissenschaftler Gustav Seibt. Ich danke Ihnen für den Besuch und das Gespräch!

Seibt: Gern.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Der Historiker und Publizist Gustav Seibt
Der Historiker und Publizist Gustav Seibt© picture alliance / dpa / Klaus Franke
Mehr zum Thema