Der Streit ums Sternchen

Wie Linke und Rechte um Deutungshoheit ringen

53:59 Minuten
Ein grüner Asterisk auf rosa Grund.
Die Aufregung über das Gendersternchen ist nur Ausdruck einer tiefgründigeren gesellschaftlichen Debatte. © Deutschlandradio
Moderation: Christian Rabhansl · 18.09.2021
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Die Diskussion ums Gendern ist ein Indiz für eine grundlegendere Debatte. Politologin Natascha Strobl und Philosoph Christoph Türcke diskutieren über politische Polarisierung, konservative Radikalisierung und das Gendersternchen.
Der Glaube, dass die Welt durch das Gendern in der Sprache besser werde, sei eine Fiktion, sagt der Philosoph Christoph Türcke. Das Sternchen in der Schrift können man nicht sprechen, sagt er und sieht in der Betonung des "-innen" in der geschlechtergerechten Sprache ein generisches Femininum. Dass dies nun alle Geschlechter repräsentieren soll, stehe im Widerspruch zur Abschaffung des generischen Maskulinums, dem diese Fähigkeit abgesprochen werde.

Das Sternchen als selbst gewähltes Merkmal

Die österreichische Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl widerspricht. Das Sternchen symbolisiere die Diversität der Gesellschaft. "Schauspieler*innen – man kann es übrigens sehr wohl sprechen - können ganz unterschiedlich sein", sagt Strobl. Und um eine Geschlechterbinarität aufzubrechen und dem Wunsch nach gesellschaftlicher Sichtbarkeit zu entsprechen, sei das Sternchen von dieser Gruppe selbst als sprachliches Merkmal gewählt worden.

In der sprachlich-kulturellen Ausgestaltung von Geschlechterrollen sieht der Philosoph Christoph Türcke einen problematischen "Machbarkeitswahn". "Wahnhaft ist es, wenn man sagt: Die Natur ist nur noch, was wir aus ihr machen. Jeder Mensch erschafft sich so, wie er will; und ist damit so etwas wie sein eigener Gott", sagte Türcke in der Sendung "Sein und Streit". [AUDIO]

© Imago / Star-Media
Türcke und Strobl diskutierten im Essener Grillo-Theater nicht nur über die geschlechtergerechte Sprache, sondern auch über gesellschaftliche Quoten, politische Polarisierung und eine Radikalisierung innerhalb konservativer Parteien. Am Gespräch auf dem Podium war auch Jens Dirksen, Chef des Kulturressorts der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) beteiligt.

Aufkündigung des Konsens

Konservative Parteien im Nachkriegseuropa zeichneten sich trotz aller Unterschiede dadurch aus, dass sie den Ausgleich mit anderen Parteien suchen, sagt die Politikwissenschaftlerin Strobl. In den meisten Fällen seien diese anderen Parteien sozialdemokratische Parteien. In den letzten Jahren jedoch habe sie beobachtet, dass konservative Parteien diesen Konsens aufgekündigt haben und sich nach rechts radikalisierten.
"Was wir in den letzten Jahren sehen, ist, dass konservative Parteien denken und sprechen und Strategien anwenden, wie die extreme Rechte", sagt Strobl.

Dieser radikalisierte Konservatismus, wie Strobl ihn nennt, sei gar keine Bewegung, die etwas konserviere, meint Türcke, sondern im Gegenteil, die etwas Neues mache und permanent mit dem Brechen von Tabus beschäftigt sei. Diese Bewegung suggeriere lediglich, dass sie etwas konserviere, und komme mit einem revolutionären Gestus daher und mache deutlich, sie halte sich nicht an Regeln. Das sei reaktionär, meint Türcke.
Natascha Strobl, Politikwissenschaftlerin und Journalistin
Dem permanenten Regelbruch komme man mit einem Appell an Anstand nicht an, sagt Natascha Strobl.© Nurith Wagner-Strauß

Keine kosmische Gerechtigkeit

Dem permanenten Regelbruch komme man mit einem Appell an Anstand und geteilte Werte nicht bei, sagt Strobl. Bei links-liberalen Kräften herrsche der Glaube vor, man müsse nur aufzeigen, dass gesellschaftlich vereinbarte Regeln gebrochen wurden, und dann würde sich der Himmel auftun und kosmische Gerechtigkeit obsiege. Doch diese Gerechtigkeit gebe es nicht. "Diese Leute kommen damit durch", sagt Strobl. "Sie lügen, wir wissen, dass sie lügen, sie lügen weiter, und es geht dann auch weiter, weil es keinen Schiedsrichter gibt."
Beim bewussten Regelbruch gehe es um die Inszenierung von Stärke, um die Wählerschaft zu beeindrucken, sagt Jens Dirksen und räumt ein, "flagrante, dreiste Lügner konservativ zu nennen, da sträubt sich bei mir alles". Auch die Strategie des Regelbruchs sei das Gegenteil von Konservatismus, meint er und schlägt vor, dafür neue Begriffe einzuführen und "reaktionär" erscheine ihm da schon ganz geeignet, sagt Dirksen.

Natascha Strobl: "Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse"
Suhrkamp, Berlin 2021
192 Seiten, 16 Euro

Christoph Türcke: "Quote, Rasse, Gender(n). Demokratisierung auf Abwegen"
Zu Klampen, Springe 2021
120 Seiten, 14 Euro

Die Lesart findet sechsmal im Jahr im Grillo-Theater in Essen statt. Partner sind dabei die Buchhandlung "Proust", die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) und das Schauspiel Essen.

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