Der Schlaf in der Literatur

Bruder des Todes, Glückszustand und großes Rätsel

10:12 Minuten
'The Briar Rose; The Garden Court', c1890, (1922). Kreiert von: Sir Edward Coley Burne-Jones.
Eva Kocziszky hat den Schlaf in Kunst und Literatur erforscht. Das sei relativ unbestelltes Terrain, sagt die Germanistin - im Gegensatz etwa zum Thema Traum. © picture alliance/Heritage-Images/The Print Collector
Eva Kocziszky im Gespräch mit Joachim Scholl · 03.02.2020
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Wie haben Autoren von der Antike bis heute den Schlaf gesehen? Diese Frage hat Germanistin Eva Kocziszky erforscht. Die Bandbreite ist groß: vom kleinen Bruder des Todes bis zur großen Quelle der Inspiration. Auch die Geschlechterfrage stellt sich.
Joachim Scholl: Wenn er zu Bett ging, hängte der französische Schriftsteller Robert Desnous ein Schild an die Schlafzimmertür, auf dem stand: "le poète travaille", "der Dichter arbeitet". Diese hübsche Anekdote lesen wir in einem Buch der ungarischen Germanistin Eva Kocziszky, die den Schlaf in Literatur und Kunst erforscht hat und jetzt bei uns im Deutschlandfunk Kultur ist. Guten Morgen, Frau Kocziszky! Wir hoffen, dass Sie heute Nacht gut geschlafen haben.
Kocziszky: Ja, ziemlich gut. Ich schlafe immer gut!
Scholl: Für eine Literaturwissenschaftlerin ist es nicht das naheliegendste, wie Sie schreiben, sich mit dem Schlaf zu beschäftigen. Interessanterweise gibt es da wenig Studien dazu. Was hat Sie denn an dem Thema gereizt?
Kocziszky: Also bei einem Schriftsteller, E.M. Forster, habe ich gelesen, das es eigentlich der Schlaf zu den fünf Grundtatsachen des Lebens gehört neben Geburt, Tod, Sex und Essen. Über diese anderen Themen gibt es eine ganz, ganz enorme Palette von kulturwissenschaftlichen Studien, zum Schlaf gibt es doch wenige.

Schlaf, Traum und der Tod

Scholl: Und wie sind Sie aber dadrauf gekommen zu sagen, das muss ich jetzt mal machen?
Kocziszky: Ich bin vom Fach her auch Klassische Philologin und habe eine große Vorliebe zur Antike, und man liest es bei Homer, dass der Schlaf auch eine Gottheit hat. Er heißt Hypnos und das ist eine sehr interessante Erfindung der Griechen: Im Alten Orient gab es immer schon mal ein großes Interesse für den Traum, Traum hatte auch religiöse Perspektiven und hing auch mit der Vorhersage und mit religiösen Praktiken zusammen – aber der Schlaf an und für sich, dieses Nichts, wie ihn die Griechen auch manchmal betrachtet haben, dass dieses Phänomen eine Gottheit hat, das hat mich verblüfft.
Scholl: Ist Hypnos denn eine literarische Figur geworden? Sein Sohn ist ja der Morpheus, der Gott des Traums. Über die Träume gibt es mannigfaltige Literatur. Ist Hypnos auch zur Literatur geworden?
Kocziszky: Sehr wenig, sehr wenig. Weil er auch keinen Kult gehabt hat, und es ist auch irgendwie so am Rande des Nichts, weil der Schlaf immer schon als Bruder, schon auch bei Homer, des Todes betrachtet wurde. Dann, wenn es dem Tod ähnlich ist, ist es eigentlich praktisch ein Nichts. Der Mensch, der schläft, ist irgendwo abwesend; woanders als der Wachende ist; ist unerreichbar; hat auch keine Regungen, auch kein Bewusstsein. Vielleicht tritt er, wie die Griechen auch gemeint haben, sogar aus sich selbst heraus, und nur der Körper liegt da.

Aktivität des Geistes

Scholl: Jetzt haben Sie schon den Gott des Todes genannt, das ist Thanatos, der Bruder des Hypnos, und Schlaf und Tod werden ja so oft verknüpft miteinander. Den kleinen Bruder des Todes hat Arthur Schopenhauer den Schlaf einmal bezeichnet. Wie gehen denn Schriftsteller mit diesem Motiv um?
Kocziszky: Dieses Motiv hat eine ganz, ganz lange Geschichte: Von Homer bis zu Goethe und Klopstock und Herder und so weiter und auch, würde ich sagen, bis heute, auch bei Rilke sogar ganz stark. Aber es gibt auch eine große Gegenströmung, viele Schriftsteller und auch Künstler sehen im Zustand des Schlafes nämlich eine interessante Aktivität: Die Aktivität des Geistes. Damit haben auch Sie angefangen, dass es mit der künstlerischen Produktivität in Zusammenhang steht und nicht nur einfach wegen der Traumbilder, sondern überhaupt als ein Zustand, wo man zu sich selbst eine Distanz einnimmt, wo das Leben irgendwie in einem Bruch erfahren wird und nicht in einer Kontinuität, nicht im alltäglichen Lauf, sondern wo etwas passiert, was einen Neuanfang irgendwie ermöglicht.

Pia Rauschenberger hat sich mit Geschichten befasst, die dazu gemacht werden, dass sie ihre Hörer zum Schlafen bringen.

Und Schlafforscher Ingo Fietze betont, wie wichtig Ausgeschlafenheit für kreative Tätigkeiten ist.
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Der Schlaf und der Müßiggang

Scholl: Der Schlaf steht ja auch für den Müßiggang. Also, im Protestantismus mit seiner Arbeitsethik, da hat der Schlaf überhaupt keinen guten Stellenwert. Spiegelt sich denn auch diese Zerrissenheit in der Literatur?
Kocziszky: Ja, zum Beispiel auch darin. Mich beschäftigt da immer, wie der Wachende den Schlafenden ansieht als einen Faulpelz, als eine komische Person wird der Schlafende betrachtet oder zum Beispiel seine Schönheit bewundert. Da gibt es immer diese Diskrepanzen, diese Paradoxien, dass der Schlafende einerseits der Faulpelz, der Müßiggänger, der auch asoziale Mensch sei, der sich seinen Pflichten entzieht, wie die Protestanten es sagen würden – oder ist er eigentlich der schöne Ruhende, der in seiner Ruhe, in seiner völligen Entlastung von den Lasten des Tages eigentlich sein bestes Gesicht zeigt.
Scholl: Da sprechen Sie einen interessanten Punkt an, dass der Schlafende ja nicht über sich selbst reflektieren kann, also auch im Text nicht, sondern er wird immer beobachtet von einer wachen Person. Wie zeigt sich das in der Literatur?
Kocziszky: Das zeigt sich von Anfang an. Zum Beispiel im antiken Roman "Daphnis und Chloe", die schöne Chloe – wenn sie schläft, wird sie von Daphnis mit einer ganz exaltierten Bewunderung betrachtet, also ihre Schönheit wird angebetet. Und dieses Motiv überhaupt: Die Geliebte im Schlaf zu beobachten, das ist ein Motiv, was nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Kunst die schönsten Meisterwerke hervorgerufen hat: Denken Sie zum Beispiel an Giorgiones schlafende Venus oder viele andere, dann auch bei Böcklin und bei vielen, bei Rodin, bis heute.

Schlaf in der Dichtung

Scholl: Welche Schriftsteller haben Sie persönlich am meisten beeindruckt bei Ihrer Recherche mit ihrer Umsetzung oder ihrer Behandlung dieses Themas des Schlafs, Frau Kocziszky?
Kocziszky: Einerseits vor allem die Dichtung, weil natürlich der Schlaf auch in der Erzählliteratur eine große Rolle spielen kann, als Bruch in der Erzählung, aber die Dichtung kann diesen rätselhaften Zustand und überhaupt dieses Enigma, was der Schlaf an sich ist, am besten angehen. Also vor allem Dichter …
Scholl: Das heißt, in der Lyrik, in Gedichten.
Kocziszky: In der Lyrik. Also Klopstock, Hölderlin und dann natürlich auch Cavafis, den ich auch besonders gerne lese oder auch bei Rainer Maria Rilke. Jetzt in meinem Buch habe ich es mit behandelt. Auch bei Yvan Goll, also die Liebesgedichte sind zumeist aus einer Situation geschrieben, wenn die Geliebte schläft und der Wachende rätselt darüber, was sie träumen könnte.
Scholl: Sie haben auch einen zeitgenössischen Dichter näher in den Blick genommen, Durs Grünbein. Wie geht er denn mit dem Schlaf um?
Kocziszky: Grünbein ist eine große Ausnahme in meiner Betrachtung und repräsentiert wirklich den zeitgenössischen Dichter. Dichter wurden einmal in zwei Kategorien eingeteilt: Es gibt Dichter des Schlafes, und es gibt Dichter des wachen Zustandes. Die Dichter des Schlafes, die schreiben wie in einem Schlafzustand; und es gibt die Dichter, die dann nur wach mit ihrem ständig arbeitenden Gehirn den lyrischen Text zustande bringen. Und Grünbein ist natürlich ein hervorragendes Beispiel für dieses Letztere: Er ist derjenige, dessen Gehirn ständig arbeitet und Worte wie Lava-Ausbrüche aus sich herauswirft.

Paradigma des schlaflosen Helden

Scholl: Stichwort ständig arbeiten, Eva Kocziszky, wir leben ja heute in einem Zeitalter der Schlaflosigkeit, könnte man sagen: Großstädte, die nicht schlafen; Arbeit zu allen Tages- und Nachtzeiten sind möglich; die digitale Welt kennt überhaupt keine Uhrzeiten oder keine Ruhezonen mehr; das Bedürfnis, immer up to date zu sein, die Angst, etwas zu verpassen, während man schläft. Spiegelt sich das auch in der modernen Literatur?
Kocziszky: Ja, es gibt zahlreiche Romane, die auch dieses alte Paradigma, das wir auch schon aus der Aufklärungszeit kennen – dass der Held eigentlich nicht schlafen kann, überhaupt nicht vermag zu schlafen, weil er sich selbst für lächerlich hält, wenn er schläft. Da kommen diese zahlreichen Vorurteile gegenüber dem Schlaf als Amoralität, als Asozialität, ein Faulpelz zu sein, zur Geltung. Ich denke, dass es zu unserer Sozialisation gehört, auf den Schlaf negativ zu schauen und zu denken, dass es wirklich nur eine verlorene Zeit wäre.
Scholl: Eingangs unseres Gesprächs haben Sie gesagt, Eva Kocziszky, dass es doch verhältnismäßig wenig literaturwissenschaftliche Studien zu diesem Thema gibt. Was, würden Sie denn sagen, ist das Interessanteste, was Sie während Ihrer Recherche entdeckt haben?
Kocziszky: Mich hat einerseits verblüfft, wie viele unterschiedliche Metaphern zum Schlaf sich gesellten. Also neben dem Tod auch, dass er der archaische Mensch ist, derjenige, der schläft. Im Goldenen Zeitalter der Menschheit, da war der Schlaf eigentlich der Glückszustand, aber heutzutage ist das Gegenteil gültig. Oder dass dann der alte Mensch schläft; oder dass nur die Frau darf schlafend dargestellt wird, der Mann nicht, weil die Frau ist ein seelisches Wesen, ein Gefühlswesen, und sie verliert nichts an ihrem Reiz, wenn sie schläft – aber der Mann, der würde ganz lächerlich sein, wenn er schlafend dargestellt wäre.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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