Literatur zur Nachwendezeit in Ost und West

Die Gewalt kommt zwischen den Buchdeckeln hoch

12:38 Minuten
Männer mit Glatzen und in Bomberjacken sind von hinten auf einer Demonstration zu sehen.
Zuerst befassten sich ostdeutsche Autorinnen und Autor mit der Gewalt in den Nachwendejahren. Nun stoßen Stimmen von Menschen mit Migrationsgeschichte aus dem Westen hinzu. © imago / photothek / Ute Grabowsky
Elke Schlinsog im Gespräch mit Frank Meyer · 09.03.2022
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Es hat gedauert, bis die Gewalt der Nachwendezeit sich in der deutschen Literatur niedergeschlagen hat. Den Anfang machte Clemens Meyer, nun melden sich gleich mehrere Stimmen zu Wort und schreiben über die Baseballschlägerjahre – im Osten und Westen.
Vor kurzem war Daniel Schulz mit seinem ersten Roman „Wir waren wie Brüder“ zu Gast bei Deutschlandfunk Kultur, ein Buch, das von einer Jugend in Ostdeutschland in den 90er-Jahren erzählt und von Gewalt in unserer Gesellschaft. Daniel Schulz sagte dabei, er sehe solche Geschichten voller Gewalt in dieser Zeit gerade in mehreren Büchern, sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen, dort etwa von Fatma Aydemir oder Hengameh Yaghoobifarah.
Lesart-Redakteurin Elke Schlinsog beschäftigt sich schon länger mit dem Erzählen aus dieser Zeit. Für den Osten hat sich der Begriff "Baseballschlägerjahre" in Anlehnung an eine Wortschöpfung von "Zeit"-Autor Christan Bangel eingebürgert, im Westen gibt es einen solchen Begriff (noch) nicht.
Schlinsog hebt hervor, dass es anscheinend lange Zeit brauchte, um diese Art von Erfahrung auszudrücken und dafür eine Sprache zu finden: Angefangen habe es unter anderem mit Clemens Meyer, es folgten Manja Präkels und Lukas Rietzschel: "Das sind ja allesamt starke, mutige Bücher, die uns schon vorher erzählt haben, wie es ist, in der ostdeutschen Provinz inmitten von Glatzen groß zu werden", sagt sie.
Mit der neuen Welle stehen diese Bücher längst nicht mehr solitär und sie zeigt, dass diese Fragen die Menschen weiter beschäftigen. Zugleich wird deutlich, neu in der Literatur, dass es im Westen analoge Entwicklungen gab. Hier kommen nun Menschen zu Wort, die Migrationsperspektiven einbringen. Es ist auch eine Selbstermächtigung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern.

Daniel Schulz: „Wir waren wie Brüder“
Hanser, Berlin 2022
288 Seiten, 23 Euro

Daniel Schulz beginnt sein feinfühliges Kindheitsporträt mit Geschichten über skurrile Dorf- und Familienfeste, bis sich dann, ganz leise und unmerklich, das Narrativ des Schreckens in die Erzählung drängt. Es ist eine Szene an der Bushaltestelle, als der Protagonist überlegt, ob da Glatzen stehen und ob er da überhaupt stehen bleiben kann als junger Kerl oder ob es ratsamer ist, lieber zu Fuß nach Hause zu gehen.
Schulz beschreibt eine karge Kindheit in einem kargen Brandenburg und zeigt, wie dieser Teenager, eigentlich ein ganz angepasster, sich mehr und mehr dem rechten Freundeskreis zuwendet. "Was ich am eindringlichsten fand: dass wir merken, dass die Gewalt nach und nach die Charaktere dieser Figuren formt", sagt Elke Schlinsog: "Nicht nur des Helden, auch die seiner Freunde, und dass die Gewalt die einzige Möglichkeit ist, um überhaupt noch Grenzen zu spüren."
Eltern und Polizei sind abwesend, es gibt kein Korrektiv. "Diese Spurensuche hat mir dafür die Augen geöffnet, dass es eigentlich schon damals eine spezifische ostdeutsche Identität gab, die nicht zuletzt gegen den Westen gerichtet war. In Abgrenzung zum Westen entwickelte sich hier eine neue Identitätserfahrung, und das ist schauerlich zu lesen, weil sie bis heute reicht."

Hendrik Bolz: „Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften“
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022
336 Seiten, 20 Euro

Bolz sitzt auf den ersten Seiten im Auto und nähert sich buchstäblich auf der Überholspur seiner Vergangenheit in der Großwohnsiedlung am Rande Stralsunds. Es ist ein ganz anderer Sound, im Rhythmus eines Rapsongs. Er lässt uns in die Köpfe der Figuren schauen, zum Beispiel, wenn sein Held in Schlägermanier über die Straße geht, breitbeinig, bereit, wirklich jeden ohne Grund einfach niederzuschlagen. Seite für Seite wird spürbar, wie hier Rechts sein zur Normalität gehört.
Bolz ist es ein großes Anliegen, die soziologischen Ursachen zu thematisieren: Er beschreibt die Symptome und die Spuren der Zeit, um sich selbst zu erklären, dass es eben nicht normal war, dass alle um ihn herum arbeitslos waren, dass es nicht normal war, dass dann Rechtsradikale den Ton angaben und niemand die Polizei rief. Mit dieser Deutlichkeit und der Radikalität, mit der er seine Geschichte schreibt, könnte eine literarische Aufarbeitung dieser Zeit begonnen haben, so Schlinsog. Angetrieben haben ihn die Pegida-Demonstration 2015, die eine Art mediale Kollektivschmähung in Gang brachte. Er wollte seiner Identität und diesem öffentlichen Image Ostdeutschlands nachgehen.

Fatma Aydemir: „Dschinns“
Hanser, München 2022
367 Seiten, 24 Euro

Auch Fatma Aydemirs Roman „Dschinns“ beschreibt eine Gewalt, die in dieser Zeit präsent war, auch Westdeutschland, in ganz andere Richtungen und Milieus. Aydemir erzählt die Geschichte einer kurdischen Familie, die nach Deutschland emigriert und versucht, in Hessen eine neue Heimat zu finden. Auch hier ist das Schweigen zentral: Wir lesen, wie dieses Schweigen aufgebrochen wird und die Dschinns, also die Geister der Vergangenheit, sichtbar werden. Es ist letztlich auch ein Buch, über das Nicht-Ankommen-Können. Die Gewalt, die Fatma Aydemir in dieser Zeit beschreibt, ist ähnlich der, die die genannten Bücher für Ostdeutschland beschrieben haben. Sogar manche Fragen der Helden sind ähnlich: Wie viel bin ich bereit, von meiner eigenen Identität aufzugeben? Was bin ich dann noch? Es fällt auf: Es hat lange gebraucht, um über rassistisch motivierte Brandanschläge, Überlebenslügen oder Unausgesprochenes zu reden.

Gregor Sander: "Lenin auf Schalke"
Penguin, München 2022
192 Seiten, 20 Euro

Mit Gregor Sander* wechselt ein ostdeutscher Autor die Perspektive. Er nimmt uns mit auf eine Mission nach Gelsenkirchen und erlebt dort Ähnliches, was er Anfang der 90er-Jahre in seiner Heimatstadt Stralsund erlebt hat: Dass auch der Westen arm dran ist, dass es fast einem Horrorfilm gleicht, wie viele Geschäfte und Trinkhallen da geschlossen sind. Er hat eine Antenne für diese verschwundenen Dinge und fragt zurecht, ob sich der Westen seiner Armut schämt, und ob deshalb davon so wenig zu hören und zu sehen ist. Es ist eine launige, trotzige Antwort darauf, dass der Osten 30 Jahre lang durch den Westen beschrieben wurde.
„Das thematisiert Gregor Sander großartig“, sagt Schlinsog: Der Osten sei gedreht und gewendet worden wie die Schnitzel in der Pfanne und eigentlich immer noch nicht so richtig begriffen worden. Jetzt werde es mal Zeit zurückzuschreiben, so Gregor Sander. Und er macht einen Vorschlag: Wenn Ostdeutsche mal wieder nach dem Mauerfall gefragt werden, dann solle man lieber fragen: Wo warst du, als in Gelsenkirchen die Lichter ausgingen. Auf die jahrzehntelange Erzählforderung "Erklär uns mal den Osten!" folgt nun selbstbewusst "Erklär uns mal den Westen!", so Schlinsog.
* Transparenzhinweis: Gregor Sander ist Mitarbeiter des Deutschlandradios

Weitere Bücher:

Frank Goosen: „Kein Wunder“
Kienpenheuer & Witsch, Köln 2019
352 Seiten, 20 Euro

Jakob Hein: „Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken“
Galiani, Berlin 2022
208 Seiten, 20 Euro

Manja Präkels: „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“
Verbrecherverlag, Berlin 2017
232 Seiten, 20 Euro

Lukas Rietzschel: „Mit der Faust in die Welt schlagen“
Ullstein, Berlin 2018,
320 Seiten, 16 Euro

Julia Schoch: „Das Vorkommnis“
dtv, München 2022,
192 Seiten, 20 Euro
(mfu)
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