Der neue Rhythmus der Stadt

Von Alexandra Mangel |
Das Folkwang Museum in Essen hat sich den Wandel der Metropole Paris im 19. Jahrhundert vorgenommen und dafür 80 Gemälde der Impressionisten versammelt, darunter spektakuläre Leihgaben aus aller Welt.
Pont de l´Europe, von der Brücke blickt man auf das Gleisgewirr des Pariser Gare St. Lazare. Hartwig Fischer, Leiter des Museum Folkwang steht genau da, wo Edouard Manet 1873 seine Staffelei aufgebaut hatte. Er hält eine Reproduktion des Gemäldes "Die Eisenbahn" hoch:

"Diese beiden hier, das ist ja wahrscheinlich eine Gouvernante und ihr Schützling, ein junges Mädchen. Die stehen an den Gittern und schauen raus auf die Gleise. Und dass ist das, was Zola sagte, als er die Bilder von Monet sah aus der Gare St. Lazare: Wenn man die Bilder sieht, hört man den Lärm der Züge, man riecht die Züge!"

Manets Gemälde, heute in der National Gallery in Washington, bildet das Zentrum der Essener Schau. Wer dort vor ihm steht, muss sich nur einmal um sich selbst drehen, um Gustave Caillebottes "Regentag", seinen "Pont de l´Europe" und Renoirs "Tanz im Moulin de la Galette" zu sehen. Viel berühmter geht's nicht, die Schau ist ein sicherer Publikumserfolg, aber Hartwig Fischer will mehr aufrufen als die Aura hundertfach reproduzierter Meisterwerke:

"Dieses Gefühl dafür, dass das keine geleckten Salonschinken sind, sondern Bilder, die in der Stadt entstanden sind und die Stadt zum Thema haben!"

Denn da gab es Einiges zu sehen. Präfekt Haussmann hatte im Auftrag des Kaisers ganze Viertel niederreißen, neue Straßenzüge, Sichtachsen und Prachtboulevards durchs enge Straßengewirr schlagen lassen. Paris sollte schöner, sauberer und sicherer werden - zumindest für die, die nicht am Bau von Barrikaden in den engen Gassen interessiert waren. Das weiß man zwar, die Schau macht aber neue Entdeckungen, indem sie den Gemälden Fotografien zur Seite stellt. Françoise Reynaud vom Pariser Musée Carnavalet hat Schätze aus ihrem Bestand geholt. So die Aufnahmen des alten Paris von Charles Marville:

"Er war von den Behörden beauftragt, die Orte zu fotografieren, die zerstört werden würden. Für neue Prachtstraßen, neue Plätze. Heute sind das Kunstwerke, aber es sind eben auch Dokumente. Man hat die Straßennamen, die Perspektive ist perfekt! Mit der neuen digitalen 3D-Technik könnte man wahrscheinlich aus seinen Aufnahmen das alte Paris rekonstruieren und durch die Straßen dieser Zeit laufen."

Tatsächlich werfen Marvilles menschenleere Fotos neues Licht auf ein Gemälde wie den "Pariser Regentag" von Gustave Caillebotte - das Prunkstück des Art Institute of Chicago. Und das nicht nur, weil das Großbürgertum vor der Pflasterung der Straßen gar nicht die Möglichkeit hatte, im Regen durch den Schlamm zu flanieren. Caillebotte lässt seine kühlen Spaziergänger auf den Betrachter los, als wollten sie ihn gleich auf dem Trottoir anrempeln! Ein Augenblick, den er aber nicht von den Fotos seiner Zeit kennen konnte!

"Denn", so Hartwig Fischer, "es gibt ja praktisch keine Fotografie der Stadt, auf der man Menschen sieht, vor den 90er-Jahren. Weil die Belichtungszeiten so lang waren, dass sich, wenn überhaupt, die Menschen nur als Schatten und Phantome abzeichneten. Das, was wir sehr leicht mit der Fotografie assoziieren: Der Augenblick, der Schnappschuss, der entscheidende Moment - das ist ein Phänomen, das es in der Fotografie nur in einem einzigen Genre gab, und das ist die stereoskopische Fotografie."

Und auch die zeigt die Schau. Apparate, die die Aufnahmen dreidimensional erscheinen lassen, sind in die Wände eingelassen. Man blickt hindurch wie durch ein Fernrohr, beobachtet die Pariser Passanten, bewundert die im Schwung des Moments eingefrorenen Röcke der Damen und vergleicht die Szene mit den geisterhaft verlassenen Ladenzeilen des Fotografen Eugène Atget, die die Surrealisten so liebten, mit den gigantischen Baustellen, die der Fotograf Durandelle zum Ruhme des Kaiserreichs aufnimmt. Man fühlt sich ein in verschiedene Wahrnehmungen eines neuen Rhythmus der Stadt:

"Und da gibt es auch unter den Impressionisten sehr große Unterschiede. Monet ist mit seinen Bildern der Gare St. Lazare auf der durchaus enthusiastischen Seite. Caillebotte zeigt auch die Kälte und Härte der neuen Gebäude, der neuen Straßen, der neuen Brücken. Und Manet ist jemand, der zwar ein Großstadtmensch durch und durch gewesen ist, aber auch gezeigt hat die Entfremdung und Vereinsamung, die damit einhergeht."

Maler wie Fotografen haben eins gemeinsam, auch das zeigt die Schau: Sie schaffen das Bild der Metropole, das Paris zur Hauptstadt des globalen Tourismus macht. Wenige Fotografen interessieren sich für die Quartiere der Arbeiter, die durch den Umbau in die Vorstädte verdrängt werden. Das muss man aber wissen, die Schau spart hier mit Text. Nur dann kann man Renoirs Vergnügungstreiben im Moulin de la Galette neue Erkenntnisse abgewinnen - ein Werk, so betont man im Musée d´Orsay:

"... que "Le bal du Moulin de la Galette" qui est une des plus grandes icônes du musée d´Orsay n´est jamais sortie de ce musée pendant trente ans."

Die Ikone des Musée d´Orsay hat das Haus also seit 1986 nicht verlassen. Nach Essen geholt hat sie Hartwig Fischer, indem er geschickt Françoise Cachin, Gründungsdirektorin des Musée d´Orsay, als Kuratorin für Essen gewonnen hat. Außerdem werden Spitzenwerke der Sammlung Folkwang in den nächsten Jahren im Gegenzug auf Reisen gehen. Und auch ohne den Großsponsor Eon wäre das Ganze nicht gegangen, der sich natürlich gern mit einer Prachtparade der Meisterwerke schmückt. Und trotzdem: Nur der flüchtige Flaneur wird diese Schau als reine Feier des Fortschritts lesen.

Die Ausstellung "Bilder einer Metropole. Die Impressionisten in Paris" ist bis zum 30. Januar 2011 im Museum Folkwang in Essen zu sehen.
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