Der Mensch strebt nach Lust

Rezensiert von Annette Rollmann |
Bernulf Kanitscheider beschäftigt sich in seinem Buch mit einem Thema, das die Menschen ständig umtreibt, sie in ihrer Vernunft unterläuft und in ihrem Handeln verführt: der Lust.
Anspielend auf Karl Marx, der mit seinem Kommunistischen Manifest die Welt verändern und die entrechteten Menschen befreien wollte, will Kanitscheider uns ebenfalls aus der Unterjochung des vernunft- und pflichtgetriebenen Daseins führen.

Er prangert die Moral des Mittelalters, der Kirche und in Teilen auch der Gegenwart an und führt uns in seinem 300 Seiten starken Buch in die Gärten Edens, die Verführung, Leidenschaft und Selbstbestimmtheit heißen. Er schafft eine Ethik, in der er einlädt, individuell, entgrenzt, selbstbestimmt und ohne schlechtes Gewissen zu leben - selbst wenn wir uns der Lust hingeben, auch außerhalb der ehelichen Heimstätte. Betörend liest sich das alles, zumindest auf den ersten Blick.

Kanitscheider, bis 2007 Professor für Philosophie der Naturwissenschaften mit den Schwerpunkten Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie und Kosmologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, bezieht sich bei der Aufstellung der moralischen Kategorien in seinem Manifest nicht nur auf die Neuzeit, die analytische Philosophie von Bertrand Russell, die Logik, die Mathematik und auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Er beruft sich vor allem auf die Antike.
Kanitscheider tritt grundsätzlich für die Freiheit des Individuums ein. Er bedient sich bei Aristipp, dem "Begründer" des Hedonismus, der vermutlich etwa von 435 bis 355 vor Christus lebte. So fragt Aristipp Diogenes:

"Ist es unbotmäßig, in einem Haus zu wohnen, in dem andere schon gelebt haben?
Eigentlich nicht, antwortet Diogenes.
Und mit einem Schiff zur See zu fahren, das schon viele benützt haben?
Auch dagegen gibt es nichts einzuwenden.
Dann gibt es auch keinen Grund, mit einer Frau nicht zu verkehren, die schon viele andere erfreut hat."


Aristipp fordere nicht, dass ein Mensch einem anderen sexuell treu sein muss, ihn gar eifersüchtig bewachen soll. Kanitscheider führt im Sinn Aristipps aus: Der Mensch strebt von Natur aus nach Lust. Und er macht deutlich, dass es bei der Bewältigung von konfliktträchtigen zwischenmenschlichen Situationen in der Liebe nicht darum gehen könnte, "unumstößliche Vernunftprinzipien", wie Platon sie postuliert hat, zum Gesetz des Denken und Fühlens zu machen. Sondern er fordere ein Handeln, das sich nach den jeweiligen Gegebenheiten richtet. Über Aristipp sagt Kanitscheider:

"Diese Gewandtheit in der Bewältigung von konfliktträchtigen Situationen ist charakteristisch für den Begründer der hedonistischen Philosophie. Daraus spricht ein Pragmatismus, der mit undogmatischer Gelassenheit eine Optimierung der Möglichkeiten des Lebens anstrebt und sich jedenfalls nicht aus prinzipienethischen Überlegungen selbst Stolpersteine in den Weg legt."

Der Hedonismus war laut Kanitscheider zu keiner Zeit den staatlichen Organen besonders willkommen und konnte sich in der Philosophiegeschichte nicht nachhaltig durchsetzen, da die Betonung der Interessen des Individuums immer vor denen des Staates steht.
Oft habe sich in der Geschichte die Staatsidee zum Schaden des Individuums verselbständigt. Herrschende haben ihre Macht missbraucht, um ihren eigenen Reichtum und den des Reiches zu mehren, Hegemonie auszuüben, Nationalismus zu schüren. Eine Pflichtethik, in der sich der Mensch an das Geziemende hält, ist für jeden Staat und seine Staatsräson einfacher zu handhaben, argumentiert Kanitscheider. Der Autor betont immer wieder, dass der Militärdienst, bei dem sich das Individuum versklavt, dem Hedonismus zuwiderläuft.

Auch Platon habe in seiner harschen Abwertung der gewöhnlichen Sinnlichkeit, die er "schmutzige Lust" nannte, nachhaltig die Sicht der christlich-abendländischen Lustfeindlichkeit geprägt. Und im Buch Koholet im Alten Testament heißt es:

"Alle, die zu Jesus Christus gehören, haben das Fleisch und damit Leidenschaften und Begierden gekreuzigt."

Noch schlimmer kommt es beim Kirchenvater Augustinus. Der verbinde das Geschlechtliche mit der Erbsünde. Der Lust wohne demnach immer der Makel der Sünde inne. Kanitscheider hält dagegen:

"Wenn man heute Augustinus Rekonstruktion der Ursituation mit gegenwärtigen hedonistischen Maßstäben bemisst, kommt man zu einer paradoxen Konsequenz: Nach unserer Wertung wäre die freudlose, erregungsfreie Betätigung der Geschlechtsorgane eine Antivorstellung, ein Zerrbild des sexuellen Geschehens, ein Zustand absoluter partnerschaftlicher Langeweile. Nur die Antizipation von Lust treibt die Partner zueinander. Durch Evas schöpferischen Einfall, die göttliche Norm zu übertreten, wurde das sexuelle Vergnügen in den lustlosen Alltag der Urzeit gebracht."

Aus Sicht der Kirchenväter liest sich die Geschichte von Adam und Eva vollkommen anders: Die Kirche lastet der Frau das gesamte Übel der Menschheit an, von der Vertreibung aus dem Paradies bis zu seiner Sterblichkeit. Im Mittelalter mündete diese Haltung in der Hexenverbrennung, in der beginnenden Neuzeit in der Inquisition, prangert Kanitscheider an. Bis heute bleibe in der christlichen Theologie das Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft angespannt. Sexualität sei bis in die Gegenwart nur erlaubt, wenn sie sich innerhalb der Ehe vollzieht und der Fortpflanzung dient. Deshalb ist auch das Verhältnis der Kirche zur Homosexualität nach wie vor sehr schwierig, wie Kanitscheider ausführt.

Doch wie veränderbar Moralvorstellungen und auch angebliche kirchliche Dogmen sind, wird an den Stellen deutlich, wo Kanitscheider über die Renaissance schreibt: Freiheit, Selbstbestimmung und Lebensbejahung kennzeichnen die innere Haltung des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert. Und diese Bejahung einer fröhlichen Sinnlichkeit findet sich für einen kurzen Zeitraum der Philosophiegeschichte auch auf allerhöchster kirchlicher Ebene wieder. Der spätere Papst Pius II, der von 1405 bis 1465 lebte, schrieb an seinen Vater:

"Die Wahrheit zu sagen, Du hast, als Du noch im Fleische warst, keinen Sohn aus Marmor und Erz gezeugt. Du weißt gar wohl, was für ein Hahn Du warst. Und was mich betrifft, bin ich kein Eunuch und zähle mich nicht unter die Kalten. Ich sehe nicht ein, weshalb die Praktik der Liebe also verdammt sein soll, wo doch die sich nie irrende Natur den Geschöpfen diesen Appetit eingesenkt hat, um das Menschengeschlecht fortzusetzen."

Diese frohlockende Vorstellung von Freiheit galt laut Kanitscheider bis zur Gegenreformation und beendet die kurze Phase des Auflebens des antiken Geistes, den die Renaissance wesentlich charakterisiert. Erst mit dem Beginn der Aufklärung durch Immanuel Kant und einer insgesamt stärker naturalistischen Sicht begann sich dann tatsächlich der Gedanke der Freiheit des Individuums stärker und grundsätzlich durchzusetzen – allerdings nicht immer getrieben von einer besonderen Lustfreundlichkeit, wie man an den Aussagen Kants studieren könne. Denn Glück ist nach Kant ein Stück Zufälligkeit im Leben.

Kanitscheider schneidet viele philosophische Denkrichtungen an und kommt im letzten Drittel des Buches zur Gegenwart. Er plädiert für die völlige Freiheit des Individuums, so lange sie dem Nächsten nicht schadet, hinterfragt jedes moralische Diktum, dem wir unterliegen, plaudert auf das Amüsanteste über die Ehe und nennt sie mit Leibniz eine Monade, die nach außen hin keine Fenster hat.

Das Buch liefert eine Geschichte der Lust in der Philosophie. Ob es den Menschen, die in der Gegenwart der westlichen Welt sich eher in ihrer Freiheit und zunehmenden Beziehungslosigkeit zu verlieren drohen, tatsächlich eine Anleitung zum Leben sein kann, darf bezweifelt werden. Denn oft wird Freiheit mit Beliebigkeit und Egoismus verwechselt. Aspekte, denen der Autor durchaus mehr Raum hätte widmen können.

Bisweilen mutet das Buch des 72-jährigen Kanitscheider an, als ob er die Fragen seiner Jugend, des Zeitgeistes der 68er, noch einmal zum Thema machen wollte. Damals galt es, die miefige Moral der 50-er Jahre anzuprangern und zu brechen. Heute fragt man sich: Worüber regt sich Kanitscheider auf? Wer in unserer Gesellschaft frei sein will und sich kirchlichen Dogmen nicht unterwirft, der stößt auf wenig Widerstand. Gerade in Dingen der Lust ist viel erlaubt und fast alles möglich.

Bernulf Kanitscheider: Das hedonistische Manifest
S. Hirzel Verlag, 2011
Cover - Bernulf Kanitscheider: "Das hedonistische Manifest"
Cover - Bernulf Kanitscheider: "Das hedonistische Manifest"© Hirzel Verlag