Der Mensch lebt nicht von Brot allein

Vorgestellt von Florian Felix Weyh |
Für eine der Gesellschaft dienende Wirtschaft, sogar für die Verstaatlichung einiger Betriebe, trat der 1885 geborene Alexander Rüstow ein. Und doch gilt der Wirtschaftswissenschaftler heute als einer der Hauptvertreter und Mitbegründer des Neoliberalismus. Die in dem neu erschienenen Brevier "Herrschaft oder Freiheit" gesammelten Zitate vermitteln einen Eindruck von der Fülle seines Denkens.
Sein Großonkel ging 1848 als preußischer Offizier auf die Barrikaden, sein Vater tilgte diesen Makel, indem er sich zum kaiserlichen General hochdiente. Er selbst, Alexander Rüstow, Jahrgang 1885, brach zunächst mit der Familientradition, indem er nach breit gefächertem Studium als Altphilologe wirkte. Der Erste Weltkrieg machte ihn dann doch zum Offizier, nach 1918 wanderte er aber in die Wirtschaftswissenschaften ab. Vor den Schergen des Dritten Reichs floh der aufgeklärte Humanist ins türkische Exil, und seine einflussreichste Zeit fällt erst in die späten eigenen Berufs-, doch frühen Kinderjahre der Bundesrepublik. Er ist einer der Väter der "sozialen Marktwirtschaft", dennoch kennt kaum jemand diesen unorthodoxen Preußen mit gleichrangiger Vorliebe für Pflicht und Freiheit:

"Was wir hier brauchen, das ist eine Freiheitspflicht, eine Pflicht zur Freiheit, die jeden Menschen verpflichtet, seine eigene Freiheit zu wahren, und die solidarischerweise jeden Menschen verpflichtet, jedem anderen Menschen, der seine Freiheit verloren hat, nach Kräften zur Wiedererlangung dieser verlorenen Freiheit zu verhelfen."

Man ist geneigt, Alexander Rüstow einen Urliberalen zu nennen, doch in dessen eigenem Sprachuniversum existiert der Begriff nicht. Die frühen Freiheitspolitiker mit ihrer Laisser-faire-Ideologie taufte er selbst "Paläoliberale", während er sich und seine geistigen Mitstreiter als Neoliberale bezeichnete. Genau da liegt der Grund, warum seine Werke heute vergessen sind. Die neutrale Silbe neo und das grundpositive Wort liberal haben es dank einer gedankenlosen öffentlichen Meinung geschafft, zur Invektive im politischen Kampf zu werden. Doch wie hört sich ein echter Neoliberaler an, nämlich jener, der diesen Terminus prägte?

"Es ist an der Zeit, die Wirtschaft, trotz ihrer selbstverständlichen Unentbehrlichkeit, wieder in die ihr gebührende untergeordnete und dienende Stellung zurückzuverweisen, die sie auch, außer im 19. Jahrhundert, stets eingenommen hat. Der Mensch lebt nicht von Brot allein. Dabei gilt es zu erkennen, dass auch innerhalb der Wirtschaft selber das unwägbar Vitale und Anthropologische wichtiger ist als das eigentlich Wirtschaftliche, in Mengenzahlen messbare."

Nein, der Wolf hat keine Kreide gefressen - er ist einfach gar kein Wolf:

"Die Wirtschaftspolitik untersteht der Forderung der Moral, und alle wirtschaftspolitischen Fehler, die leider in reichem Maße gemacht werden, lassen sich gleichzeitig als Verstöße gegen die Moral auffassen."

Im Rüstow-Brevier "Herrschaft oder Freiheit", herausgegeben von Michael von Prollius, lässt sich ein anregender Geschichts- und Kulturphilosoph neu entdecken, ein umfassend gebildeter Wirtschaftsdenker vom Formate Max Webers. Die Lektüre widerlegt, dass ursprünglich neoliberales Gedankengut etwas mit jener Raubtierideologie zu tun hätte, die ihr staatsgläubige Schalmeienbläser böswillig unterstellen. Im Gegenteil, Rüstows liberales Konzept vom "starken Minimalstaat" duldet zwar wenige Eingriffe ins Wirtschaftsleben, fordert aber zugleich absolute Unnachgiebigkeit bei der Verletzung vitaler Spielregeln - eine Unnachgiebigkeit, von der heutige Politik mit ihren Interessenverquickungen weit entfernt ist. Blind gegenüber den verzerrenden Kräften des Marktes ist Rüstow beileibe nicht. Sarkastisch konstatiert der Anti-Marxist - der Marx durchaus positive Erkenntnismomente zubilligt - dass multinationale Konzerne kaum etwas anderes verdienen, als in letzter Konsequenz verstaatlicht zu werden. Denn:

"Je bürokratischer und staatsähnlicher ihre Verwaltung wird, desto schwächer werden die Argumente, die man ihrer Verstaatlichung entgegenstellen kann."

Gewiss, die Vorstellungen von harmonischer Wirtschaft sind irgendwo im 19. Jahrhundert angesiedelt, bei Klein- und Mittelbetrieben, und bis in seine Sprachbilder hinein bleibt Alexander Rüstow eine Art Romantiker. Andererseits erweist er sich als vorzüglicher Antikenkenner, der die diktatorischen Gefahren platonischer Philosophie ebenso brandmarkt, wie er sich mit praktikablen Demokratieverfahren jenseits utopischer Verblendungen beschäftigt. Der Mann muss wieder gelesen werden, weil er Horizonte eröffnet, die schon lange aus unserem Blickfeld geraten sind. Manches klingt dabei verträumt grün, wenn Rüstow etwa den Garten als Keimzelle des häuslichen Glücks preist, manches rückwärtsgewandt, doch vieles verblüffend anarchisch. Etwa die für seine Zeit höchst ketzerischen Ansichten zum deutschen Untertanengeist, der für den alten Preußen Rüstow im Luthertum wurzelt; wobei Priester generell von "Herrschaftsrenten" leben und darum stets unberechtigt Macht okkupieren, andere Religionsrichtungen sind da nicht freigesprochen. Sprachlich liegt die Brevierauswahl weit über dem Niveau heutiger Sozialwissenschaften, Rüstows Metaphorik hat Witz und Verstand. Den Wohlfahrtsstaat kennzeichnet er als "kompliziertes Röhrensystem, teils aus Saugröhren, teils aus Druckröhren", und jede zweite Subvention ist für ihn ein Pflaster auf ein Wehwehchen, allerdings:

"Ein Pflaster, das letzten Endes aus unserer Haut geschnitten werden muss, man verzeihe das etwas grausame, aber leider zutreffende Bild."

Schon verziehen. Denn, wer zum Denken angeregt werden will, nimmt Sticheleien und Knüffe in Kauf: Sie machen wach.

Alexander Rüstow: Herrschaft oder Freiheit - Ein Alexander-Rüstow-Brevier
Ott Verlag, Bern 2007
Alexander Rüstow: Herrschaft oder Freiheit
Alexander Rüstow: Herrschaft oder Freiheit© Ott Verlag