Der Mensch als Technikbremse

Rezensiert von Cora Stephan |
Bücher, die ohne Papier auskommen, Kühlschränke, die Lebensmittel ordern, Autos, die sich vollautomatisch fortbewegen. - Doch nicht alles, was technisch machbar ist, wird auch unseren künftigen Alltag bestimmen. Der Zukunfts- und Trendforscher Matthias Horx zeigt in seinem Buch "Technolution", dass eine Umsetzung technischer Innovationen oft an der archaischen Seite des Menschen scheitert.
Man muss wohl schon mehr als ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel haben, um sich an eine Welt zu erinnern, in der die Zukunft nicht Angst machte, sondern ein Reich unendlich vieler Möglichkeiten verhieß – eine Zukunft, in der menschliches Zutun nicht Weltuntergang und Klimakatastrophe auslöste, sondern Großes und Wundersames bewirkte, vom Mondtourismus bis hin zu Städten unter der Meeresoberfläche. Wer auf dem Dachboden eine Schachtel "Birkel-Zukunftsbilder" findet, wird in eine Wunderwelt der Technik entführt, die sich indes auf den zweiten Blick als Albtraumwelt einer "Kontroll- und Manipulations-Fantasie" entpuppt, als

"... eine Welt von futuristischem Spießertum. Die Zukunft ist zu einer automatisierten Hölle verkommen", gegen die "die Hirschgeweih- und Pantoffel-Idyllen unserer Ur-Urgroßeltern noch im hohen Maße spannend und fortschrittlich" waren. "Unsere technologischen Zukunftsträume sind in Wirklichkeit Kleine-Hans-Visionen."

Und das sagt Matthias Horx, einer der bekanntesten und interessantesten Zukunftsforscher: Technikträume sind damals, bevor die Birkel-Zukunftsbilder auf den Dachboden wanderten, Träume von der großen Mutti gewesen, vom Schlaraffenland, in dem uns die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Und, in der Tat: Wer will das schon.

Das neue Buch von Matthias Horx, "Technolution", ist denn auch alles andere als das Hohelied auf die vollautomatisierte Welt. Horx beginnt mit der Geschichte jener großen technischen Entwürfe, die scheiterten – sie zeigen am besten, welchen technischen Fortschritt wir uns wünschen und warum. Da ist der Zeppelin, eine wunderbare Fortbewegungsweise in einer Art aristokratisch-bürgerlichem Salon – also: nicht massentauglich. Schon deshalb hat sich das Flugzeug durchgesetzt, das eher einer Sklavengaleere als einem Salon ähnelt. Wieso aber verfügen wir in der Luft nicht über Individualverkehr, etwa im Flugauto? Das ist der technische Urtraum schlechthin – und genau deshalb Quelle archaischer Angst. Gut, aber warum gibt es dann nicht wenigstens das vollautomatische Auto, dessen Nutzen uns sofort einleuchtet? Auch hier, argumentiert Horx, walten archaische Bedürfnisse:

"Das Auto ist ein Artefakt, mittels dessen eine große Zahl von Menschen die unmittelbare Macht über erhebliche kinetische Energien erfahren kann. Man tritt auf einen Hebel, und schon werden Kräfte entfesselt, die weit jenseits der eigenen physischen Möglichkeiten liegen. Deshalb ist Autofahren ‚erotisch’ und ‚faszinierend’, ‚sexy’: Es vermittelt uns ein unmittelbares Macht- und Kontrollgefühl."

Kurz: wer des Menschen archaische Seite ignoriert, scheitert – wie es dem Bildtelefon ergangen ist, obwohl Menschen davon schon im 19. Jahrhundert träumten.

Matthias Horx fährt die großen technischen Träume herunter: Weder werden wir künftig auf das Buch verzichten müssen, noch wird sich Lernen irgendwann einmal vollautomatisch abspielen, der "intelligente" Kühlschrank hat keine Chance, weil wir auch weiterhin unseren spontanen Wünschen nachgeben und deshalb lieber einkaufen gehen werden.

Horx gibt vielen angeblich zukunftsweisenden Erfindungen keine Chance – auch nicht den Human-Robotern, von denen es früher in der Science-Fiction-Welt nur so wimmelte, ebenso wenig der ferngesteuerten Chirurgie oder den Megacities unter Wasser. Technische Evolution ist nur dann erfolgreich, wenn sie am Menschen Maß nimmt.

Schon dieses ersten Teils wegen lohnt sich Horxens Buch, zumal er für die Illustrationen sein Archiv geplündert zu haben scheint, in dem er Fundstücke schon aus dem 19. Jahrhundert aufgetan hat: Nichts illustriert die männliche Hybris besser als jene Zeichnungen aus den fünfziger Jahren, in denen die Hausfrau am Cockpit ihrer Küche sämtliche mit der Zubereitung von Speisen verbundenen Prozesse steuerte.

Horx versucht nicht weniger als eine anthropologische Grundlegung der technischen Evolution, und entzaubert sie damit:

"Technik ist Notwehr, und wenn daraus ein kultureller Prozess wird, entsteht Technologie – und irgendwann der Prozess des technischen Fortschritts."

Der Autor taucht tief in die menschliche Geschichte ein und findet viele erhellende Beispiele. Der Vergleich der Technik-Mentalitäten in England und Deutschland etwa macht deutlich, wie stark Technik, ihre Entwicklung und ihre Nutzung weniger von ihren abstrakten Gesetzen als von ihrer kulturellen Umgebung abhängt: die britische Elektroindustrie sei auf dem Stand der mosambikischen, schreibt Horx, der sich in England gut auskennt, die heroische Aura des Technischen in den USA oder vor allem in Deutschland gehe den Engländern ab, die das ganze eben einfach sportlich nehmen:

"Man muss nicht unbedingt gewinnen, Hauptsache, es ist fair!"

Das erklärt vieles, nicht zuletzt den Hang der Briten zu Wackelkontakten und vorsintflutlichen Badezimmern.

Macht und Kontrolle, Status und Zufall – all das und noch mehr spielt im Prozess der technischen Evolution eine Rolle. Was sich durchsetzt, misst sich stets am menschlichen Maß, weshalb Angst vor und Hybris der technischen Entwicklung einander ergänzen: Nichts ist so gefährlich oder so großartig wie die einen fürchten und die anderen wünschen. Und deshalb ersetzt keine Hightech-Medizin den sorgsamen Umgang mit dem eigenen Körper, wird das E-Book das Buch nicht abschaffen, leidet die Liebe nicht unter der E-Mail, werden wir aufs Autofahren nicht verzichten wollen.

Nun, Matthias Horx wäre nicht Matthias Horx, wenn er es beim geschichtlichen Überblick und bei der theoretischen Erfassung beließe. Das Buch mündet, wie es sich für einen Zukunfts- und Trendforscher gehört, in mehr als einen Ausblick auf die Zukunft. Womit wir rechnen können: mit einer Rückkehr zum Einfachen, zu Autonomie, zu Selbsttätigkeit – und genau das wünschte man sich weit mehr als die Versprechen auf Unsterblichkeit und ewige Schönheit.

Man muss dem Autor nicht auf allen Wegen folgen, um sein Buch zu schätzen, das gelehrt, spannend und witzig geschrieben ist, anschaulich, ohne kindisch zu sein, und erwachsen, ohne überlegen zu tun. Für alle, die frische Ideen lieben: Dies ist das richtige Buch.

Matthias Horx:: Technolution - Wie unsere Zukunft sich entwickelt
Campus Verlag, Frankfurt am Main
Matthias Horx:: Technolution
Matthias Horx:: Technolution© Campus Verlag