Der Mann fürs Grobe

Volker Kauder, so könnte man nun denken, ist ein mächtiger Mann, denn er führt die Mehrheitsfraktion im Bundestag, dem Herz der deutschen Demokratie. Doch Volker Kauder ist ein Diener. Seine Hauptaufgabe besteht darin, der Kanzlerin den Rücken frei zu halten.
Zwei Tage nach der Bundestagswahl wurde Volker Kauder von der CDU/CSU-Fraktion als Vorsitzender bestätigt. 226 Abgeordnete stimmten für, nur acht gegen ihn. Volker Kauder, so könnte man nun denken, ist ein mächtiger Mann, denn er führt die Mehrheitsfraktion im Bundestag, dem Herz der deutschen Demokratie. Doch Volker Kauder ist ein Diener. Seine Hauptaufgabe besteht darin, der Kanzlerin den Rücken frei zu halten. Nur dazu soll er seine Macht einsetzen. So beschreibt Hans-Peter Schwarz jedenfalls die Bestimmung der Unions-Fraktion:

"In der Kanzlerdemokratie besteht die vorrangige Aufgabe der Kanzlerfraktion darin, den jeweiligen Bundeskanzler loyal an der Macht zu erhalten."

Liest man den von Schwarz herausgegebenen kurzen Abriss der Geschichte der CDU/CSU-Fraktionen im Bundestag, wird deutlich, dass Kauder in einer langen Tradition steht: Ihm kommt dieselbe Rolle zu wie die von Heinrich Krone unter Adenauer, von Rainer Barzel unter Kiesinger, von Alfred Dregger und Wolfgang Schäuble unter Kohl. Sie und ihre Fraktionen haben ihren Kanzlern den Rücken freigehalten, Kanzlerschaften gesichert und damit das parlamentarische System stabilisiert. Kauder hat in der vergangenen Legislaturperiode umgesetzt, was Angela Merkel wollte - und auch deshalb durfte er sein Amt behalten.

In den Darstellungen der einzelnen Unionsfraktionen seit 1949 legen Schwarz und seine Mit-Autoren dar, dass diese dienende Rolle der Fraktion, die vor allem im Vergleich mit Westminster-Demokratien merkwürdig angepasst scheint, kein neues Phänomen ist; dass aber gerade bei den Unionsfraktionen der Mut zur Eigenständigkeit stetig abgenommen hat. Konrad Adenauer, der den Gang zur Fraktion als sein privates Fegefeuer bezeichnete, wurde noch von ihr aus dem Amt gedrängt, ebenso wie drei Jahre später sein Nachfolger Ludwig Erhard - danach war es mit solch eigenmächtigem Handeln vorbei. Besonders eklatant war das Versagen der Fraktion und ihres Vorsitzenden Wolfgang Schäuble am Ende der Kohl-Ära, als sie nicht die Kraft aufbrachte, den ausgebrannten Kanzler zum Rücktritt zu bewegen und einen Neuanfang zu beginnen.

"Tatsächlich aber war der Fraktionschef, den viele noch im Herbst 1994 bereits auf dem Weg ins Bundeskanzleramt gesehen hatten, an den widrigen Umständen aufgelaufen: keine hinlänglich breite Kanzlermehrheit, Zögern Helmut Kohls, Misstrauen in den Reihen der CSU, periodischer Ärger mit der FDP, doch auch Blockadepolitik Lafontaines gegen eine große Steuerreform, sodass auch die Option einer Großen Koalition unter Schäuble zusehends zweifelhafter wurde."

Die berühmte Krise von Wildbad Kreuth, die Wolfgang Jäger in seinem Beitrag im Detail beschreibt, wurde zwar vom Beschluss der CSU-Landesgruppe ausgelöst, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU zu beenden. Doch die Entscheidung war, ebenso wie die Drohung der CSU, als vierte Partei in ganz Deutschland anzutreten, in erster Linie eine Folge des Machtkampfes zwischen Strauß und Kohl. Aus Sicht von Strauß war Kohl als Kanzlerkandidat "total unfähig". Ihm fehlen "die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles dafür", urteilte Strauß, und auch den Rest der CDU hielt er für "politische Pygmäen". Bei Kreuth ging es auch um die politische Haltung der beiden konservativen Fraktionen - vor allem aber um einen politischen Konkurrenzkampf, für den die Bruder-Fraktionen instrumentalisiert wurden. Kein Wunder also, dass knapp vier Wochen nach Kreuth - Kohl hatte den Machtkampf inzwischen gewonnen - die Fraktionen schon wieder vereint waren.

In Wahrheit besteht das Parlament nicht aus einzelnen Abgeordneten, mögen sie ihre Wahlkreise noch so eindrucksvoll gewonnen haben, sondern aus Fraktionen; die sind, zitiert Schwarz den Staatsrechtler Rudolf Smend, "die Herren des parlamentarischen Lebens".

Die Gründe dafür sind aus Sicht von Hans-Peter Schwarz vielfältig: Die Fraktionen sind in Deutschland strukturell und personell eng verzahnt mit den Parteien, in Oppositionszeiten liegen Partei- und Fraktionsvorsitz oft in einer Hand, in Regierungszeiten wird das Kabinett vornehmlich mit Abgeordneten bestückt. Das schränkt die Unabhängigkeit der Fraktion ein. Zudem hat sich der Charakter des Parlaments historisch gewandelt: Der Bundestag sei kein "Redeparlament" mehr, sondern ein "Arbeitsparlament". Der moderne Parlamentarier sitzt in Ausschüssen, nicht an großen Politikentwürfen. Zudem sind die Fraktionen in Deutschland historisch ausgesprochen hierarchisch geprägt.

Dass die Fraktionen selten eine starke, einheitliche politische Identität entwickeln, hängt aber vor allem damit zusammen, dass sie zwangsläufig bunt zusammengewürfelte, uneinheitliche Gruppen sind:

"Die Parteianhänger richten zwar an die Fraktionen vielfach die illusionäre Erwartung, diese sollten sich wie Urgestein aus Granit verhalten, auf das sich fest bauen lässt. Zyniker sehen in ihnen eher lockeren Treibsand, der vom jeweils vorherrschenden Zeitgeist hin und her geblasen wird. Fraktionen sind aber in erster Linie Vereinigungen von zumeist nüchtern kalkulierenden Berufspolitikern, die im Regelfall zwar gemeinsame Ziele uns Interessen herausstellen, aber sich ihrer internen Gegensätze sehr wohl bewusst sind, zu deren Überkleisterung Kompromisse gesucht und gefunden werden müssen. Scharfkantige Fraktionsprofile sind somit eher selten zu erwarten – je weiter es mit der Geschichte der Bundesrepublik vorangeht, umso weniger."

Deutsche Fraktionen, vor allem die der Union, zeichnen sich auch deshalb durch Diszipliniertheit aus, weil sie angesichts ihrer Vielfalt sonst kaum handlungsfähig wären. Das bewertet Hans-Peter Schwarz gerade im Vergleich mit anderen demokratischen Parlamenten ausgesprochen positiv. Die Fraktionen gehören zu den "Stabilitätsfaktoren" der deutschen Demokratie, dass es in 60 Jahren Bundesrepublik nur acht Kanzler gegeben hat, sei auch ein Verdienst der Fraktionen. Dass in Deutschland der grundlegende Gegensatz nicht zwischen Exekutive und Legislative verläuft, sondern zwischen der Koalitionsregierung und ihren Fraktionen einerseits und den Oppositionsparteien andererseits, beschreibt Schwarz ausschließlich als Erfolgsgeschichte.

Man kann die Geschichte aber auch als Entmachtung lesen, als Prozess der Aushöhlung einer der zentralen Institutionen der Demokratie. Dieser bedenkliche Bedeutungsverlust der Fraktionen wird in dem Buch, das die Rolle der SPD-Fraktion sonst nur streift, besonders deutlich, als es um einen SPD-Mann geht: "Frank-Walter Steinmeier, der Kanzlerkandidat für 2009, ist alles, nur kein Mann aus der Fraktion", schreibt Schwarz noch vor der Wahl. Jetzt wird die zweitstärkste Fraktion des Bundestags von einem unerfahrenen Neu-Abgeordneten geführt. Die Partei hatte es so entschieden, und die SPD-Fraktion hat sich dagegen nicht gewehrt. Sie wählte den Wahlverlierer Steinmeier zwei Tage nach der Bundestagswahl ohne Widerstand zu ihrem Vorsitzenden.

Besprochen von Moritz Schuller