Der Lügner und sein Publikum

Albert Speers bemerkenswerte Nachkriegskarriere

Der Architekt und Politiker Albert Speer in einer zeitgenössischen Aufnahme. Am 31. März 1937 wurde er zum Generalbauinspektor der Reichshauptstadt Berlin berufen. Als Reichsminister war er seit Anfang der 40er Jahre für Bewaffnung, Munition, Rüstung und Kriegsproduktion zuständig. Daneben fungierte er als Generalinspekteur für das Straßenwesen, Wasser und Energie. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß wurde Speer zu 20 Jahren Haft verurteilt. Er wurde am 19. März 1905 in Mannheim geboren und ist am 1. September 1981 in London gestorben.
Der Architekt und Politiker Albert Speer: In der Nachkriegszeit gelang es ihm, seine Beteiligung an nationalsozialistischen Verbrechen erfolgreich zu verdrängen. © picture alliance / dpa
Von Jochen Stöckmann · 23.11.2016
Er war Hitlers Architekt und Rüstungsminister: Albert Speer trug Verantwortung dafür, dass sich unzählige Menschen in Konzentrationslagern zu Tode arbeiteten. Vor 50 Jahren endetet seine Haft - und Speer war alsbald einer der Hofierten der bundesdeutschen Gesellschaft. Wie konnte das geschehen?
1969, drei Jahre nach seiner Haftentlassung, erschienen Speers "Erinnerungen". Hunderte Seiten über sein Verhältnis zu Hitler, auf denen der Vorzugsarchitekt des "Führers" weder den Bau der Konzentrationslager noch den von ihm verantworteten Zwangsarbeitereinsatz mit einer Zeile erwähnt. Trotzdem – oder vermutlich gerade deshalb – stand das Buch bald in jedem bürgerlichen Haushalt. Die Springer-Zeitung "Die Welt" hatte 600.000 D-Mark für den Vorabdruck bezahlt. Die junge Historikerin Isabell Trommer stieß eher zufällig darauf, durch einen Sammelband mit Rezensionen und Stimmen zu Speers 1969 erschienenem Buch:
Isabell Trommer: "Da kam ich erst einmal aus dem Staunen nicht heraus. Im Großen und Ganzen war ich völlig überrascht von der positiven Berichterstattung. Und das geht ja wirklich durch die meisten Medien."

Sogar Zeitschriften wie der linksliberale "Spiegel" ließen Speer in Interviews zu Wort kommen, unwidersprochen. Vor allem aber waren Männer vom Fach, Historiker, an dieser aus heutiger Sicht sehr verzerrten Darstellung, einer Art apologetischer "Sittengeschichte" des Dritten Reichs, beteiligt.
Isabell Trommer: "Bei Speer ist interessant, dass in der Rezeption viele Historiker mitgeschrieben haben. Zum Beispiel hat Professor Jäckel eine große Rezension im 'Spiegel' verfasst. Ich würde schon sagen, dass teilweise Historiker an diesem Bild beteiligt waren. Man kann nicht sagen, dass es rein journalistisch war."

Reumütig, ohne sich schuldig zu bekennen

Dieses "Bild", die Speer-Rezeption mit Buch-Rezensionen und öffentliche Reaktionen hat Isabell Trommer untersucht. Ihr geht es um die Frage des Umgangs mit der NS-Geschichte in den Nachkriegsjahrzehnten, um die Übernahme subtiler Verdrängungsmechanismen, die Albert Speer für sich bereits als Angeklagter im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess erprobt hatte. Schon in Nürnberg hatte sich Speer reumütig gezeigt, ohne sich persönlich schuldig zu bekennen, über 20 Jahre später folgten selbstkritische Rezensenten diesem Argumentationsmuster.

Isabell Trommer: "Der Historiker Golo Mann schreibt dann beispielsweise: Er wusste Bescheid, genauer: Er ahnte und er hätte Bescheid wissen können und müssen. Die Reihenfolge ist aufschlussreich. Der Historiker schwächt die erste Formulierung ab – und am Ende sagt er dann das, was Speer die ganze Nachkriegszeit immer wiederholt hat: Ich hätte es wissen können.

Aufschlussreich sind vor allem die von Speer in seinen Memoiren angelegten Muster der Verdrängung: Regelrechte Rollenmodelle für all jene, die in irgendeiner Weise am NS-Terrorregime beteiligt waren.

Isabell Trommer: "Diese acht Leitmotive sind auch exemplarisch für den Umgang der Bundesrepublik mit dem Nationalsozialismus. Das ist zum einen der Zeitzeuge, dann der Verführte, der Technokrat, der Leistungsträger, der Widerständler, der Unwissende, der Bürger und der Büßer."

Für den Bürger war er "der feine Herr Speer"

Wer sich in der Bundesrepublik als Bürger dünkte – im Gegensatz zum Staatsbürger, dem Citoyen – wer also weiter überheblich seinen Status beibehalten wollte, für den war der Kriegsverbrecher "der feine Herr Speer": ein kultivierter Feingeist, der den Nazis, diesen specknackigen Proleten, Paroli bieten wollte, der sich in die Höhle des Löwen begeben hatte. Der allenfalls verführt worden war, allein durch Hitler. "Faust und Mephisto" titelte in diesem Sinne die ZEIT. Schließlich war Speer kein Holocaust-Leugner, er hatte halt damals von "Auschwitz" nie gehört. Die wichtigsten Tatsachen wurden von ihm nicht verfälscht.

Isabell Trommer: "Es gibt so eine allgemeine Verantwortungsübernahme, Teil des Regimes und Teil der Führung gewesen zu sein. Und zugleich: Sobald es um irgendeine Art von konkretem Schuldeingeständnis geht, weicht er aus, spricht von Unkenntnis oder davon, dass er damit gar nichts zu tun gehabt hat."
Allein Jean Amery, selbst ein Opfer der Judenverfolgung, erkannte die Gefahr dieser Sicht auf den Nationalsozialismus. Und forderte in einem Offenen Brief, Speer solle, wenn er wirklich bereue, ganz einfach schweigen. Dem widersprachen Schriftsteller, die wie Amery eigentlich eher für politisch linke Positionen bekannt waren: Eugen Kogon und Erich Fried. Sie forderten Redefreiheit für den Mann, der seine Taten mit einer Gefängnisstrafe abgebüßt habe. Und sie sahen in Speer jemanden, der authentische Erfahrungen aus dem Zentrum der Macht mitteilen könne, in einer Art politischer Bildungsstunde.
Es fiel sogar, zum ersten Mal, der Begriff "Zeitzeuge". Aber eben kein Opferzeuge – deren Berichte wurden als wenig verlässlich, weil zu "emotional" angesehen – stattdessen galt der Täter als wichtiger "Zeuge" in eigener Sache. Dessen individuelle Ausflüchte, Beschönigungen, Verharmlosungen wurden nun, nicht zuletzt durch Speers Bestseller-Erfolge – ins Allgemeine gehoben. Ein kollektiver Verdrängungsprozess, schlimmer noch: man konnte – mentalitätsmäßig – einfach dort weitermachen, wo das Dritte Reich geendet hatte.
Isabell Trommer: "Die Volksgemeinschaft hat sich – wenn man es scharf formulieren möchte – als latente Komplizengemeinschaft fortgesetzt."

Manuskriptentwürfe und Fahnenkorrekturen sind im Siedler Verlag verschollen

Interessant wäre zu erfahren, woran die von Isabell Trommer identifizierten "Leitmotive" der Verdrängung zerbrochen sind – spätestens mit der breiteren, auch zugespitzten Erforschung des Nationalsozialismus durch eine jüngere Historikergeneration. Speer selbst wurde der Lüge überführt, zumindest posthum: Nachgewiesen, in privaten Briefen von ihm selbst bestätigt, ist seine Anwesenheit in Posen, wo Heinrich Himmler vor SS-Führern explizit über Auschwitz und den Massenmord sprach. Interessant wäre eine Rekonstruktion des Zustandekommens von Speers Memoiren, die einen so großen Verkaufserfolg hatten: Manuskriptentwürfe und Fahnenkorrekturen sind im Siedler Verlag anscheinend verschollen. Und auch die Analyse der bemerkenswert positiven Rezeption dieser Fibel für die Kunst der Verdrängung könnte vertieft werden:

Isabell Trommer: "Man weiß jetzt auch nicht immer ganz genau, was ein Rezensent sich dabei gedacht hat. Und ob der sich das in allen Implikationen ausbuchstabiert hat, was das bedeutet.
Isabell Trommers Untersuchung lenkt den Blick auf ein Thema, in dem noch viel Stoff steckt: die erstaunliche Wirkung von Albert Speer in der westdeutschen Gesellschaft der 60er und 70er Jahre.
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