Der Lieblingsschüler auf dem Fahndungsfoto

30.07.2013
Auch in diesem Roman folgt der Österreicher Norbert Gstrein seiner favorisierten Erzähl-Strategie der Verunsicherung. Seine Verschleierungsprosa kreist virtuos um Andeutungen über die zentrale Leerstelle im Text: Ist der Schüler Daniel in extremistische Kreise abgedriftet?
In seinem jüngsten Roman scheint Norbert Gstrein seine Themenkreise miteinander kurzzuschließen: Heimat und Vernebelung der Wahrheit durch die Spekulationen von Zwischenträgern – bis die tatsächlichen Geschehnisse völlig unerkennbar werden.

Es geht um die prekären Einflüsse von Erzieherfiguren auf einen begabten Jüngling in der Provinz, der vielleicht in den Terrorismus abgedriftet ist, sowie um die Unmöglichkeit, hinter all den Mutmaßungen und Unterstellungen Unbeteiligter und den Selbstzweifeln und falschen Erinnerungen Beteiligter die Wahrheit herauszufinden.

Der Ich-Erzähler, ein Lehrer, glaubt auf einem Fahndungsfoto seinen ehemaligen Lieblingsschüler Daniel zu erkennen. Dieser soll auf dem kleinen Provinzbahnhof des Ortes eine Bombe und zwei Bombendrohungen mit biblischen Anspielungen deponiert haben.

Ist sein Schüler Daniel in extremistische Kreise abgedriftet? Ein Terrorist geworden? Warum? Daniels ehemaliger Lehrer zermartert sich das Hirn, fühlt sich schuldig, ohne dass er – genauso wie der Leser - jemals erfahren würde, was mit dem Teenager tatsächlich passiert ist.

Dieser Verdacht setzt bei dem Lehrer eine schmerzhafte Selbstbefragung in Gang. Er erinnert sich vor allem an die Sommerwochen vor zehn Jahren, die Daniel mit ihm in seiner Waldhütte am Fluss verbrachte – «ein unglaubliches Geschenk, ganz und gar herausgefallen aus der Zeit».

Daniel war ein begabter, schwärmerischer Junge auf Sinnsuche, pathologisch schüchtern, in eine Mitschülerin unglücklich verliebt und spirituellen Einflüssen zugänglich. Der Lehrer spekuliert über den möglichen Einfluss eines amerikanischen Endzeit-Predigers, der Daniel mit apokalyptischen Visionen zusetzte und dem der Junge auf eine Israel-Reise folgte. Der Lehrer grübelt aber auch über seinen eigenen Anteil an Daniels möglicher Fehlentwicklung. Hatte er eingangs noch behauptet: «Ich kann meiner Erinnerung trauen», so muss er später feststellen: «Ich hatte allen Grund, an der Zuverlässigkeit meiner Erinnerung zu zweifeln.»

Pathologisch schüchtern und unglücklich verliebt
Hat er Daniel auf falsche Gedanken gebracht? Hat er ihm mit falschen Büchern den Kopf verdreht und falsche Ideale eingepflanzt? Ist Daniel ein Geschöpf des Lehrers? Oder verdankt er dem Sektenprediger ein Erweckungserlebnis? Wandelte er sich in Israel unter dem Einfluss messianischer Prophezeiungen zum radikalen religiösen Fundamentalisten? Ist er als Terrorist überhaupt denkbar?

Je mehr der Leser erfährt, desto mehr verschwimmen Daniels Motive und Entwicklungen im Undeutlichen. Das Gerede im Ort und in der Lehrerschaft an der Schule tut ein Übriges, um die Vorgänge weiter zu vernebeln. Gerüchte unterstellen dem Lehrer Homosexualität oder Wehrsportübungen mit Schülern im Wald. Am Ende misstraut der Lehrer allen Versionen und beginnt sich zu fragen, ob nicht er selbst für die Bombendrohungen infrage käme.

Nobert Gstrein folgt auch in diesem Roman seiner favorisierten Erzähl-Strategie der Verunsicherung. Seine Verschleierungsprosa kreist virtuos um Andeutungen über die zentrale Leerstelle im Text. Und diese Leerstelle heißt Daniel: Wer war er? Was hat er gedacht und getan? Wenn ein christlicher Terrorist aus ihm geworden ist, wie war dann sein Werdegang? Was könnte ihn radikalisiert haben? Sichere Antworten auf solche Fragen sind in Gstreins Erzählkosmos weder möglich noch vorgesehen.

Besprochen von Sigrid Löffler

Norbert Gstrein: Eine Ahnung vom Anfang
Verlag Carl Hanser, München 2013
352 Seiten, 21,90 Euro

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Gestus gehässiger Abrechnung- Norbert Gstreins: "Die ganze Wahrheit"