Der Holocaust in Griechenland, Teil 3

Deportation, Kollaboration – und Verdrängung

Judenstern in einer Ausstellung ueber die Geschichte der Juden in Griechenland in der nordgrichischen Provinzhauptstadt Thessaloniki. Auf 18 Tafeln werden unter anderem Abschnitte ueber die Deutsche Besatzung, die Deportationen und die Befreiung gezeigt.
Die Kollaboration der Griechen zur Zeit der deutschen Besatzung ist bis heute ein Tabuthema in der Aufarbeitung des Holocausts. © Imago / Christian Ditsch
Von Jens Rosbach · 07.09.2018
Rund 85 Prozent der 70.000 bis 80.000 griechischen Juden ermordeten die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg. Die eigene Verstrickung aufzuarbeiten, fällt in Griechenland bis heute schwer. Viele sehen sich gegenüber Deutschland in der Opferrolle.
Wochenschau, 1941. Die Deutschen erobern Griechenland. Die Bilanz, drei Jahre später: Zehntausende ermordete Zivilisten, Hunderttausende Hungertote, ausgeraubte Städte, beschlagnahmte Bodenschätze, eine geplünderte Staatskasse und: ausgelöschte jüdische Gemeinden. Rund 85 Prozent der 70.000 bis 80.000 griechischen Juden haben die Besatzer ermordet.
"Der Holocaust der Juden von Europa, der Holocaust unserer Juden hier, stößt an die Grenzen jeder Vernunft. Und die einzige Möglichkeit, uns damit auseinanderzusetzen ist, zu akzeptieren, dass dies auch ein Teil unserer eigenen Existenz ist, als Salonikianer, Griechen und Europäer: eine Wahrheit, die auf ihre Entzifferung wartet!"
Es war eine Brandrede, die der Oberbürgermeister von Thessaloniki, Jannis Boutáris, im Januar 2018, hielt – anlässlich der Grundsteinlegung des Holocaust-Museums der nordgriechischen Stadt. So viel Klartext hatte noch kein Offizieller gesprochen über das Schicksal der griechischen Juden, das jahrzehntelang totgeschwiegenen worden ist.

Schändung des Holocaustmahnmals

Boutáris betonte, das Gedenken an die Juden von Thessaloniki sei heute – wenn auch verspätet – immens wichtig.
"Die Schändung unseres Holocaustmahnmals gerade erst am vergangenen Sonntag und die Brandlegung an der historischen Wohnstätte einer jüdischen und einer muslimischen Salonikianerin genügen wohl als Antwort!"

Über Antisemitismus in Griechenland hat Miron Tenenberg mit dem Historiker Tobias Blümel gesprochen. Das Interview können Sie hier nachhören: Audio Player

Doch viele Griechen blicken lieber auf ein anderes Erbe des Zweiten Weltkrieges. Angesichts von Staatsschulden und Wirtschaftskrise klagen sie heute gern, die Deutschen hätten für die NS-Verbrechen niemals Reparationen gezahlt.
Umfrage: "Sie haben Schulden – und zwar große! Im Zweiten Weltkrieg sind sie nach Griechenland gekommen und haben alles zerstört. Ohne jeden Anlass!"
So typische Stimmen im ARD-Fernsehen.
Umfrage: "Wir verlangen keine Almosen und wir betteln auch nicht. Wir verlangen das, was uns zusteht!" – "Der Schaden ist eine Tatsache, egal wie viele Jahre, diese Wunden bleiben offen!"

Die Schuld wird woanders gesucht

Gabriella Etmektsoglou ist Historikerin und leitet die New York University Berlin.
Die griechische Wissenschaftlerin kritisiert den Umgang ihrer Landsleute mit der Kriegsvergangenheit.
"Das ist, was mir Sorgen macht für die Zukunft von Griechenland – diese Opferidentität, die nützlich sein kann, wenn man über so eine lange Zeit immer die Schuld woanders sucht. Dieser ganze Ärger mit Deutschland – vieles ist berechtigt, aber zugleich muss man auch sagen, was ist in Griechenland gelaufen oder nicht gelaufen."
Als die Deutschen Griechenland besetzten, deportierten sie die meisten Juden in KZs, vor allem nach Auschwitz. Forscher wissen heute: Hilfsaktionen der orthodoxen Griechen für ihre jüdische Mitbürger waren selten. Im Gegenteil: Viele Griechen kollaborierten mit den Nationalsozialisten und bereicherten sich am konfiszierten jüdischen Eigentum. Ein dunkles Kapitel, das nach Ansicht von Experten bis heute nicht aufgearbeitet ist – auch weil nach 1945 Bürgerkrieg und rechtskonservative Regierungen dies verhinderten. Mitte/Ende der 50er-Jahre ließ Athen sogar deutsche Kriegsverbrecher ungeschoren davonkommen.
"Die haben tatsächlich Nazi-Verbrecher verkauft, an Deutschland für Gelder. Deutsche Kriegsverbrecher, die in Gefängnis saßen."

Kollaboration bei der Straffreiheit für NS-Täter

"Die griechische Seite brauchte Geld. Das Land war ja nun zerstört. Erst dank der Besatzung und dann auch durch den Bürgerkrieg."
Tobias Blümel ist assoziierter Historiker am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Nach seinen Recherchen hat das Nachkriegs-Westdeutschland Kredite und Wirtschaftsprojekte mit Griechenland an die Straffreiheit von NS-Tätern geknüpft. Und Athen spielte mit, schließlich wollte man in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aufgenommen werden. So wurde der verhaftete Kriegsverbrecher Max Merten, der maßgeblich für die Enteignung der Juden von Thessaloniki verantwortlich war, nach Deutschland überstellt und hierzulande sogar für seine Zeit im griechischen Gefängnis entschädigt.
"Also das Ganze ist nicht nur skurril, sondern eigentlich abscheulich."
1960 schlossen die Bundesrepublik und Griechenland ein sogenanntes Globalabkommen, das 115 Millionen D-Mark zur Entschädigung von NS-Opfern vorsah, die wegen ihrer Religion, Weltanschauung oder Rasse verfolgt worden waren. Die Zahlung, die keine Reparation für die Kriegsfolgen darstellte, erreichte aber offenbar nicht alle betroffenen Juden bzw. Kommunisten. Das hat die Historikerin Etmektsoglou herausgefunden.
"Ich habe in dem Archiv ASKI, das ist ein Archiv der linken Partei EDA in Griechenland gewesen, gibt’s immer noch, viel Korrespondenz gefunden, Mitte der 60er-Jahre, wo Politiker, auch Parlamentarier, sagen: Das kann nicht sein, wo ist das Geld? Die Leute sind nicht zu ihrem Geld gekommen."

Regierungsparteien und ihr "Pakt des Schweigens"

Nicht nur der griechische Bürgerkrieg und rechtskonservative Regierungen sowie die folgende Militärdiktatur behinderten eine Geschichtsaufarbeitung und Wiedergutmachung. Als 1981 die erste Linksregierung unter Andreas Papandreou an die Macht kam, gab es zwar offene Debatten über die NS-Zeit. Expertin Etmektsoglou klagt allerdings, dass schon ab 1988, als eine Koalition von Linken und Konservativen gebildet wurde, die Themen Judenvernichtung und Kollaboration wieder von der Tagesordnung verschwanden. 1989 hätten die Regierungsparteien ihren "Pakt des Schweigens" sogar öffentlich zelebriert.
"Als einen symbolischen Akt von Verständigung haben die Archivmaterial verbrannt. Und dann haben die entschieden: Wir schauen nicht zurück. Und viele Historiker, Archivisten, waren auf der Straße haben wir das versucht zu stoppen, aber das war nicht zu stoppen."
Die Geschichtswissenschaftler wurden auch in den Folgejahren enttäuscht. So beriet Etmektsoglou 1997 die griechische Regierung bei der sogenannten Nazigold-Konferenz in Washington, die geraubtes jüdisches Vermögen aufspüren sollte. Doch kurz darauf gab die Historikerin ihre Arbeit frustriert auf.
"Das habe ich selber entschieden, nicht weiter die Regierung zu beraten. Weil die zum Beispiel kein Interesse hatten, aktiv Konten zu suchen – jüdische Konten zu suchen, wo wir vermutet haben, dass einige existieren, Versicherungen zu suchen. Das war dieses Grundverständnis: Wir in Griechenland während der Besatzungszeit konnten nichts Schlechtes gemacht haben, wieso sollten wir jetzt neugierig sein oder verantwortlich sein und aktiv suchen?"

Auffallend große Zustimmung zu antisemitischen Meinungen

Fachleute bilanzieren, dass die jahrzehntelange Geschichtsverdrängung bis heute Folgen hat. So sei zu erklären, dass auffallend viele Griechen antisemitischen Meinungen zustimmen – rund 67 Prozent, weit mehr als in Deutschland oder Frankreich. Immer wieder kommt es in Athen oder Thessaloniki zu Anschlägen auf Synagogen und zu Hakenkreuzschmierereien. Aber es gibt auch positive Ansätze. So wird heute in Thessaloniki ein Holocaust-Museum gebaut, mit deutscher Hilfe. Zudem gibt es ein neues deutsch-griechisches Erinnerungsprojekt, das Zeitzeugen-Videos im Internet präsentiert.
"Im Allgemeinen war das Leben im Thessaloniki der Nachkriegszeit ein hartes Leben, weil man alles wieder neu aufbauen musste."
Erzählt etwa der griechische Auschwitz-Überlebende Heinz Kounio, 91 Jahre alt, in einem Online-Interview.
"Und die größte Freude für uns, die wir allein zurückgekehrt waren, war es, zu heiraten. Deshalb heiratete auch ich bald ein Mädel. Den Deutschen zum Trotz gründeten wir eine dreißigköpfige Familie, kurz gesagt."

Verzerrtes Bild von Juden in griechischen Medien

Rund 90 Zeitzeugen-Gespräche zur NS-Zeit, darunter 13 mit Bezug zum Holocaust, haben die Forscher kürzlich veröffentlicht – samt deutscher Übersetzung. Video-Projektleiter Nicolas Apostolopoulos von der Freien Universität Berlin musste allerdings bei vielen griechischen Interviewpartnern Vorbehalte bekämpfen.
"Ich glaube, es war eine Sorge, dass es im Grunde genommen ein sogenanntes gekauftes Projekt ist, würde man auf Griechisch sagen. Das heißt, die Deutschen geben da ein bisschen Geld aus – und damit ist die Frage der Reparationen vom Tisch. Die Zeitzeugen konnten nicht glauben, dass wir das Projekt für die beiden Völker und für die Geschichte machen und haben es assoziiert mit Vernachlässigung der anderen Pflichten Deutschlands."
Der Berliner Professor möchte mit dem neuen Material vor allem Schüler ansprechen, und zwar in beiden Ländern.
"Die Mischung zwischen Geschichtslehrer, Geschichtsbuch und insbesondere das Video mit den Zeitzeugen ist eine ideale Kombination, um aus den etwas trockenen Büchern mit reinem Text etwas Lebendiges zu machen, damit die Geschichte auch haften bleibt."
Die Forscher sehen Nachholbedarf, da bis 2005 die Judenverfolgung in den griechischen Schulbüchern überhaupt nicht erwähnt wurde. Und nach wie vor wird die Kollaboration mit den Besatzern weitgehend verschwiegen. Zudem, klagen Experten, zeichnen die griechischen Medien bis heute ein verzerrtes Bild von Juden.
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