Der Holocaust in Griechenland, Teil 2

Die Vernachlässigung der eigenen Geschichte

Judenstern in einer Ausstellung ueber die Geschichte der Juden in Griechenland in der nordgrichischen Provinzhauptstadt Thessaloniki. Auf 18 Tafeln werden unter anderem Abschnitte ueber die Deutsche Besatzung, die Deportationen und die Befreiung gezeigt.
Judenstern in einer Ausstellung über die Geschichte der Juden in Griechenland. Die Kollaboration der Griechen zur Zeit der deutschen Besatzung ist bis heute ein Tabuthema in der Aufarbeitung des Holocausts. © Imago / Christian Ditsch
Von Jens Rosbach  · 31.08.2018
Die meisten Juden in Griechenland wurden während der deutschen Besatzungszeit deportiert und ermordet. Daran waren aber nicht nur Deutsche, sondern auch Griechen beteiligt. Eine Perspektive, die in griechischen Geschichtsbüchern nahezu fehlt.
Nachdem die Deutschen 1941 Griechenland besetzten, begannen sie, die einheimischen Juden zu registrieren, zu enteignen und in Gettos einzusperren. Vor allem in Thessaloniki, dem "Jerusalem des Balkans". Doch einige Griechen leisteten Widerstand und beschützten ihre Mitbürger. Der Berliner Historiker Tobias Blümel hat das recherchiert.
"Auf der Insel Zakynthos konnten zum Beispiel alle 275 Juden überleben, dank des Bürgermeisters Loukas Carrere und des Erzbischofs Christostomos, die aufgefordert worden waren von der deutschen Besatzungsmacht, eine Liste aller Juden zu übergeben – und sie übergaben dann auch eine Liste. Aber auf dieser Liste standen nur zwei Namen: ihre."
Kathedrale Mariä Verkündigung, Sitz des Erzbischofs von Athen. Ein Denkmal erinnert an das Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Kirche während der deutschen Besatzung, Erzbischof Damaskinos.
Denkmal des Erzbischofs Damaskinos vor der Kathedrale Mariä Verkündigung in Athen. Das Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Kirche forderte falsche Identitätskarten und Taufscheine für Juden.© Imago / Manngold
Die beiden orthodoxen Christen hatten – aus Protest – sich selbst auf die Verhaftungsliste gesetzt. "Das ist heroisch", meint Blümel. Auch in der Hauptstadt gab es Widerstand. So ließ der Erzbischof von Athen, Metropolit Damaskinos, den Polizeipräsidenten der Stadt zu sich rufen. Damaskinos gab dem Ordnungshüter, der Kontakt zur griechischen Exilregierung unterhielt, folgende Order:
"Ich habe zu Gott gebetet und mein Gewissen sagt mir, was wir tun müssen. Die Kirche wird jedem Juden, der das möchte, falsche Taufscheine ausstellen – und Sie werden falsche Identitätskarten ausstellen!"

Hilfsaktionen für jüdische Mitbürger waren Ausnahmen

Auf diese Weise wurde Hunderten Juden eine "griechische christliche Identität" bescheinigt, sodass sie Kontrollen und Razzien überstanden. Zudem unterstützten linksgerichtete Partisanen die Verfolgten. Allerdings wissen Experten heute: Hilfsaktionen der orthodoxen Griechen für ihre jüdischen Mitbürger waren Ausnahmen.

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Im Großen und Ganzen konnten die Nationalsozialisten ungestört über 80 Prozent der 70.000 bis 80.000 Juden Griechenlands in Konzentrationslager deportieren, vor allem nach Auschwitz. So wurden im März 1944 in der nordgriechischen Stadt Ioannina 1700 Juden mit Lastwagen der Wehrmacht abtransportiert, während die Bevölkerung schwieg. "In Ioannina sagte eine von den wenigen Überlebenden: Es bewegte sich nicht ein Vorhang, während wir deportiert wurden", so Blümel.

Die Kollaboration als Tabuthema

Trotz Auslöschung der griechischen Juden, trotz Schweigen und sogar Kollaboration der Bevölkerung zeichnete die offizielle griechische Geschichtsschreibung jahrzehntelang ein verzerrtes Bild der Besatzungszeit. Das berichtet Gabriella Etmektsoglou, griechische Historikerin und Leiterin der New York University Berlin. "Jeder Grieche war ein tapferer, heroischer Kämpfer gegen die deutsche Besatzung – aber über Juden wurde überhaupt nichts bekannt, als ob es nicht passiert ist. Und man hat auch nie über die Kollaboration gesprochen. Das war ein Tabuthema. Und zum Teil ist es auch heute ein Tabuthema in Griechenland."
Etmektsoglou klagt, ihre Nation sei nach dem Zweiten Weltkrieg erst mit einem Bürgerkrieg beschäftigt gewesen, und anschließend hätten rechtskonservative Regierungen eine Aufarbeitung verhindert. Genauso wie die Militärdiktatur von 1967 bis 1974: "Ich verstehe Bürgerkrieg, ich verstehe Diktatur – aber seit '74 hatten wir als Nation eine sehr, sehr lange Zeit, um ein bisschen zu überlegen: Was ist unser Antisemitismus? Der kam nicht mit den Deutschen oder mit dem Panzer."
Nach Angaben der Expertin sah es auch in der Folgezeit nicht besser aus: In den 70er- bis 90er-Jahren sei es den Griechen eher um einen wirtschaftlichen Aufschwung gegangen als um eine historische Aufklärung. Bis heute verstehe man sich als Land, das von den Nazis ausgeplündert und bei Widerstandsaktionen mit Vergeltungsschlägen bestraft wurde. Wie beim berüchtigten SS-Massaker im Bergdorf Distomo. So zeigten viele Griechen heute lieber mit dem Finger auf die Deutschen, die zuerst einmal Reparationen zahlen sollten.
"Das ist irgendwie eine Kultur, die eine Opferidentität – also eine nützliche Identität – ausgewählt hat, wo man nicht selbstkritisch auch als Täter dargestellt wird. Oft ist die Schuld auch woanders, aber oft ist sie auch bei einer Gesellschaft", stellt Etmektsoglou fest.

Mangelnde Aufarbeitung auch in Deutschland

Nicht nur die Hellenen, auch die Deutschen haben den Holocaust in Griechenland kaum beleuchtet. So analysiert Nicolas Apostolopoulos, griechischer Professor an der Freien Universität Berlin, dass die Judenverfolgung in Thessaloniki, Athen und auf den griechischen Inseln mit "nur" 60.000 bis 70.000 Opfern seit jeher im Schatten der millionenfachen Judenvernichtung in Osteuropa stand.
"Deutschland hatte sicherlich viel mehr zu tun mit Juden aus Polen, aus Russland, aus Weissrussland, aus Ukraine – und Griechenland wurde möglicherweise vernachlässigt. Aber insgesamt glaube ich, dass die Okkupation Griechenlands in Deutschland nicht besonders aufgearbeitet wurde, ganz zu schweigen dann auch von dem Judentum", resümiert Apostolopoulos.
Das Verschweigen der Judenvernichtung in Griechenland begann unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ganze 10.000 Juden hatten die NS-Verfolgung in Verstecken überlebt, keine 2.000 waren aus den Lagern zurückgekommen. Lazarios Zefiha, Vize-Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Thessaloniki, spricht heute von einem Schweigen, das sich über das einstige "Jerusalem des Balkans" gelegt hatte: "Die wenigen, die aus den Vernichtungslagern zurückgekehrt sind, wollten nicht von den eigenen Erfahrungen berichten, auch nicht gegenüber den eigenen Leuten. Sie wollten keine Wunden aufreißen. Die Rückkehr war für sie auch besonders schwierig: ohne Familien, ohne Kinder. Und: viele hatten auch Schuldgefühle, dass sie die einzigen Überlebenden waren."

Die Heimkehr der Juden wurde erschwert

Zudem hätten viele Griechen die jüdischen Heimkehrer spüren lassen, dass sie nicht erwünscht seien, denn zahlreiche Kollaborateure hatten sich während der NS-Besatzung am jüdischen Eigentum bereichert, an Wohnungen und Geschäften, weiß Historiker und Antisemitismusexperte Tobias Blümel.
"Als ein Teil der zurückkehrenden Juden ihr Recht wieder einforderte auf Besitznahme ihrer Läden, dann formte sich auf einmal massiver Widerstand in Form einer richtigen Lobby. Bisweilen gab es diese Restitutionen – Griechenland war eines der ersten Länder, die ein Gesetz zur Restitution verabschiedete, aber das konnte gar nicht durchgesetzt werden."
"Was ich sehr interessant finde ist, dass nach dem Krieg die Überlebenden einen Prozess gegen die Verräter, ihre eigenen Verräter – 55 Personen – angefangen haben und nicht gegen die Griechen, die noch schlimmere Sachen verursacht haben", meint Gabriella Etmektsoglou.
Die jüdischen Verräter hatten zum Beispiel andere Juden an die Nazis ausgeliefert oder im Getto bestohlen. Etmektsoglou berichtet, die griechische Justiz habe die jüdischen Straftäter allzu bereitwillig verurteilt: "Und die orthodoxen Griechen haben das auch benutzt. Denn das war sehr hilfreich, wenn die Juden mit Juden irgendwie eine Diskussion haben und die Kollaborateure dann in Ruhe lassen."

Oberflächliche Darstellung des Holocaust

Griechenland nach dem Zweiten Weltkrieg: Die jüdische Gemeinschaft war traumatisiert und hatte keine politische Lobby. Von den rund 12.000 Überlebenden wanderte etwa rund die Hälfte nach Palästina aus. Es folgten Bürgerkrieg, rechtskonservative Regierungen, Militärdiktatur und europäische Integration. Ähnlich wie seine griechische Kollegin klagt auch der Berliner Historiker Tobias Blümel, dass Griechenland jahrzehntelang die eigene Geschichte vernachlässigt habe. Erst 2005 sei der Holocaust in die griechischen Schulbücher aufgenommen worden – und dann auch nur geschönt:

"Es geht halt darum, mehr oder weniger darzustellen, dass das griechische Volk sich unter Einsatz seines eigenen Lebens dafür geopfert hat, die Juden vor der Deportation und der Vernichtung zu beschützen. Das ist das Narrativ der Geschichte, der griechischen Geschichte, zur Schoah."
Nach Angaben der Experten wird in den griechischen Geschichtsbüchern bis heute der Holocaust nur oberflächlich dargestellt und das brisante Thema Kollaboration mit den deutschen Besatzern kaum behandelt.

Noch bis zum 9. September widmet sich jetzt das Berliner Museum Europäischer Kulturen dem Thema Thessaloniki im Rahmen der Europäischen Kulturtage.

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