Bürgermeister Yiannis Boutaris

Ein neues Gesicht für Thessaloniki

Yiannis Boutaris, Bürgermeister der StadtThessaloniki, Griechenland.
Yiannis Boutaris, Bürgermeister der griechischen Stadt Thessaloniki © imago / Yiannis Kourtoglou
Die Fragen stellt Panajotis Gavrilis · 14.11.2015
Yiannis Boutaris, der Bürgermeister von Thessaloniki, modernisiert seine Stadt. Er kämpft auf kommunaler Ebene gegen zentrale Vorgaben aus Athen und genießt dabei hohe Akzeptanz bei den meisten Bewohnern.
Panajotis Gavrilis: Er gilt als Kultbürgermeister, er provoziert, polarisiert, wählt ehrliche Worte, ist tätowiert und trockener Alkoholiker. Yiannis Boutaris war Unternehmer, erfolgreicher Winzer, studiert hat er Chemie. 2010 trat er bei den Kommunalwahlen an und versprach: "Ich räume den Laden hier auf!" Das glauben ihm die Leute und so regiert der 73-Jährige nun Thessaloniki. Willkommen hier bei Tacheles Herr Boutaris.
Yiannis Boutaris: Guten Tag, Herr Gavrilis.
Panajotis Gavrilis: Sie wurden wiedergewählt im vergangenen Jahr, sind bis 2019, also noch vier Jahre Bürgermeister der zweitgrößten Stadt Griechenlands – Thessaloniki mit über 320.000 Einwohnern. Sie sind vom Hause aus Winzer. Warum wollten Sie Bürgermeister von Thessaloniki werden?
Yiannis Boutaris: Es ist eigentlich ziemlich einfach. Unser Familienunternehmen wurde zu Lebzeiten meines Opas 1879 gegründet. Ich habe mich immer während meines ganzen Berufslebens und als Vorsitzender von Winzer-Organisationen für öffentliche Belange interessiert. Ich muss sagen, die Meinung meiner Frau war immer sehr wichtig, sie ist aber leider gestorben. Eines Tages habe ich mit meiner Frau eben entschieden: Ich höre auf und überlasse das Geschäft meinen Kindern und das habe ich nie bereut. Weil die Kinder haben alles übernommen und sie haben die Größe des Unternehmens innerhalb von fünf bis sechs Jahren verdreifacht. Also das ist mehr als ausreichend für mich.
Panajotis Gavrilis: Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in der Stadt rund 40 Synagogen und über 50.000 Juden lebten dort. Es war eine der größten jüdischen Gemeinden Europas. Sie hatten von Anfang an das Ziel, die jüdische Geschichte der Stadt wieder aufleben zu lassen. Sie planen zum Beispiel ein Holocaust-Museum. Warum?
Yiannis Boutaris: Das Holocaust-Museum, das wir in Thessaloniki bauen werden, wird nicht bloß ein Museum sein, ein Vorzeige-Museum. Es wird auch eins sein gegen Totalitarismus. Parallel wird es eine Art Bildungszentrum sein, ein Ausbildungszentrum im Balkanraum, in dem wir zeigen, wie schlecht, wie böse der Faschismus, der Totalitarismus ist, der Hass des Einen gegen den Anderen. Das ist unser Ehrgeiz, unser Wunsch. Thessaloniki ist nicht nur die Stadt der deportierten 50.000 Juden. Sie ist eine Stadt, die ihre Seele dadurch verloren hat. Die meisten Bewohner waren früher jüdisch geprägt und der Verlust hat große Probleme im Stadtleben verursacht.
Panajotis Gavrilis: Sie sind kein Freund der in Griechenland sehr einflussreichen griechisch-orthodoxen Kirche, diese ist auch kein Freund von Ihnen, weil Sie sich zum Beispiel für Einäscherungen einsetzen und die Gay-Pride in Thessaloniki unterstützen oder auch nichts gegen einen Moscheebau hätten. Was muss sich denn bei der Kirche und in der doch zum Teil sehr konservativen Gesellschaft verändern?
Yiannis Boutaris: Das Thema der Einäscherungen ist kein Thema mehr, zumindest wir in Thessaloniki sind dabei vorangekommen. Der Staat hat endlich die Notwendigkeit von Krematorien erkannt. Ich will dazu nur sagen: Früher war man zehn Jahre begraben. Heute wird man schon nach drei Jahren exhumiert. Leider, weil drei Jahre einfach viel zu kurz sind. Ein Krematorium wird die Dinge also wesentlich erleichtern und es gibt mittlerweile viele Menschen – ich habe ein Brief mit 10.000 Unterschriften – die uns bitten, den Bau eines Krematoriums zu beschleunigen. Auch der Streit mit der Kirche ist eigentlich überwunden.
Panajotis Gavrilis: Sie bekommen keinen Gegenwind?
Yiannis Boutaris: Reaktionen, ja, es gibt Reaktionen. Aber es gibt sie nicht nur von der Kirche. Es gibt überall Reaktionen, da wir in einem demokratischen Land leben. Egal was du sagst, wird es immer Leute mit einer anderen Meinung geben. Was die Moschee angeht: Wir haben nie gesagt, dass wir eine Moschee, ein "Tzamí" bauen werden. Momentan üben Muslime ihren Glauben in gemieteten Räumen aus. Das ist wunderbar, sie sollen tun, was sie möchten. Wenn sie Lust hätten und das Geld finden, eine Moschee zu bauen, dann wollen wir das unterstützen. Das heißt, wir werden bei den Genehmigungen helfen, alles was sie brauchen – aber kein Geld natürlich. Und das, weil wir in einem Land leben, in dem die Religionsfreiheit auch in der Verfassung verankert ist. Egal ob Muslime oder Anhänger einer Zehn-oder-Zwölf-Götter-Bewegung wie in der Antike: Das ist toll für sie – wenn es ihnen gefällt, sollen sie es machen.
Eine von Dönme gebaute Moschee – Dönme sind in den Islam konvertierte Juden – geben wir den Muslimen für ihr Bayram oder Ramadan, damit sie ihrem Glauben nachkommen können. Das funktioniert gut und ist besser als die Verschwörungstheorie, die mir oft entgegen schlägt: "Du machst eine Moschee!' – Nein, überhaupt nicht. Ich baue keine! Warum sollte ich?"
Panajotis Gavrilis: Blicken wir auf ein Problem, das Ihre Stadt betrifft, aber vor allem auch ganz Griechenland. Die Arbeitslosigkeit. Weiterhin sehr hoch. Sie liegt immer noch um die 26 Prozent, fast jeder Zweite der 15- bis 24-Jährigen ist ohne Job. Und viele junge Griechen kommen nach Deutschland, nach Berlin für eine bessere Zukunft. Was muss sich denn ändern, um besonders junge Menschen im Land zu behalten, um ihnen dort eine Perspektive zu bieten?
Yiannis Boutaris: Das Thema ist zu groß für eine Stadtgemeinde, um damit alleine fertig zu werden. Bei uns gibt es junge und alte Arbeitslose. Es ist nicht so einfach, es ist komplex. Wir haben in Griechenland die festgefahrene Auffassung: Mein Kind muss in die Universität gehen, um ein Papier zu bekommen, um es dann an die Wand zu kleben. Punkte sammeln, um dann im öffentlichen Dienst zu arbeiten. Das ist eine falsche Auffassung. Das größte Problem in Griechenland: Wir haben nicht genug ausgebildetes Personal, systematisch ausgebildet für Industriebetriebe, die es heute allerdings auch nicht mehr gibt. Thessaloniki war eine zentrale Stadt für die Textilbranche. Das ist alles nach Bulgarien umgezogen, weil es Steuervorteile gibt und bürokratisch geht es dort schneller und einfacher zu als in Griechenland. Hier muss ich betonen, was alle sagen: Griechenland ist Unternehmer-feindlich. Wenn sich nicht die Akzeptanz verbessert, dann kommt hier auch kein Investor her. Er wird nicht herkommen und Streiks mitmachen, sich mit dem Widerstand der Arbeitnehmer auseinandersetzen. Vorausgesetzt alles ist legal, was er macht. Und das muss der Staat unterstützen.
Panajotis Gavrilis: Sie sind Bürgermeister während der Krise geworden, ab 2011 in Thessaloniki. Wie zeigt sich die Krise dort, mit was für Problemen haben Sie hauptsächlich zu kämpfen?
Yiannis Boutaris: Ein Riesenproblem ist es, mit den Leuten umzugehen, die zu dir kommen und Arbeit verlangen. Wir können die Menschen nicht beschäftigen als Stadt. Einstellungen sind verboten. Wir haben auch keine Möglichkeit, neue Arbeitsplätze zu finanzieren. Das müssten Programme vom Staat seien oder von der EU finanziert. Die Antwort auf die Frage der Arbeitslosigkeit... Es geht nichts. Alles ist blockiert. Nichts geht voran. Und das ist eine Long-Term-Voraussetzung, dass sich das Klima ändert in Griechenland. Wir werden nicht so leicht diesem Schlamassel entkommen. Wer soll denn hierher kommen? Jemand investiert, nicht weil er uns liebt. Sondern weil er daraus Kapital schlagen möchte. Wenn es Probleme gibt, dann wird er nichts gewinnen, dann geht er sogar unter.
Panajotis Gavrilis: Lassen Sie uns über das zentrale Thema sprechen, das Europa beschäftigt: Nämlich der Umgang mit Flüchtlingen. Knapp 300.000 sind die letzten zwei Monate in Griechenland angekommen, die EU-Kommission spricht von 600.000 seit Anfang des Jahres. Wir kennen die Bilder der schrumpeligen Schlauchboote, viele ertrinken bei der gefährlichen Überfahrt von der Türkei übers Mittelmeer auf eine der naheliegenden Inseln wie Lesbos. Was würden Sie tun, wenn Sie Bürgermeister von Lesbos wären?
Yiannis Boutaris: Die Stadtgemeinde kann da nicht sehr viel machen. Aus ganz einfachen Gründe: Es gibt weder Personal, mit solchen Situationen umzugehen, noch gibt es Geld für Essen, Bedarfsartikel für die Flüchtlinge. Die wohnen da ja irgendwo, die müssen sich ja auch waschen, auf Toilette gehen, die müssen schlafen, sich aufwärmen, zum Arzt gehen. Leider ist die Zahl der Flüchtlinge so hoch, die täglich kommen. Das muss schon in der Türkei aufhören, wenn es keine humanere Situation gibt. Ich frage mich: Warum fahren keine Boote, keine Schiffe, um sie von dort abzuholen? Die wissen doch alle, von wo sie kommen und wo sie reinkommen.
Panajotis Gavrilis: Sie haben es gerade angesprochen, die Türkei soll eine größere Rolle spielen.
Yiannis Boutaris: Die Schutzsuchenden meiden die naheliegende Grenze im Festland über die Türkei mittlerweile, weil am Grenzfluss Evros im Norden des Landes seit Jahren schon ein Stacheldrahtzaun die Menschen am Grenzübertritt hindert, noch bevor Ungarn seinen Zaun erst gebaut hat diesen Sommer.
Panajotis Gavrilis: Ist das auch Ihr Europa, mit geschlossenen Grenzen?
Yiannis Boutaris: Nein. Meiner Meinung nach kann Europa aber ein eingegrenztes Gebiet sein, drumherum. Aber im Inneren kann es keine geschlossenen Grenzen geben. Das ist unmöglich. Mit dieser Logik muss es seine Grenzen immer schützen. Aber Europa muss auch dafür sorgen, dass nicht die Länder die Zeche zahlen müssen, die die ersten Wellen empfangen wie Italien und Griechenland. Griechenland hat eine große Zahl an Flüchtlingen aufgenommen, mehr als es verkraftet. Und natürlich ist das größte Problem: Die Bedingungen beim Schengen-Abkommen, Dublin 1 und Dublin 2. Die Flüchtlinge müssen demnach in dem Einreiseland bleiben. Es ist unmöglich, dass Griechenland mit diesem Problem umgehen kann. Europa muss etwas tun.
Panajotis Gavrilis: Es gibt in ganz Europa nationalistische Strömungen, in Deutschland gibt es neben den vielen Helfern und den Menschen, die Flüchtlinge willkommen heißen, auch viel Unmut über die Flüchtlingspolitik. Es gibt Übergriffe, Flüchtlingsunterkünfte werden angezündet. Kriegen Sie das eigentlich mit?
Yiannis Boutaris: Ja, ich verfolge das. So sehr ich kann durch Zeitungen und in den Nachrichten. Das ist aber ein auftretendes Phänomen bei Krisenzeiten. Ganz schlaue Nationalisten tauchen dann auf, die ganz niedrige Gefühle der Menschen ausnutzen und Ängste schüren gegen den Fremden – egal welchen Fremden.
Panajotis Gavrilis: Wie geht denn die Stadt mit Flüchtlingen um?
Yiannis Boutaris: Zurzeit haben wir kein großes Problem. Warum? Weil die Flüchtlinge auf den Inseln ankommen, sie kommen nicht mehr über die griechisch-türkische Grenze wegen des Zauns. Sie fahren von den Inseln nach Kavala – einer Stadt im Norden. Dort steigen sie in einen Bus oder ein Taxi und reisen weiter, an Thessaloniki vorbei. Das Gleiche passiert in Athen. Die Leute nehmen den Zug oder was sie eben finden können, um weiter zu kommen über den Balkan. Von den hunderttausenden Flüchtlingen, die bis heute in Griechenland angekommen sind, haben wir in Thessaloniki aber vergleichsweise wenig mitbekommen. Und wir hatten nur zwei kleine Vorfälle.
Panajotis Gavrilis: Was ist da passiert?
Yiannis Boutaris: Es ging um Gewalt gegen Fremde. Unabhängig ihrer Herkunft, unabhängig davon, was sie für eine Sprache sprechen, welche Religion sie ausüben. Getreu dem Motto: "Bist du fremd, ersteche ich dich!" Das ist ein sehr schlechtes, böses – sagen wir System.
Panajotis Gavrilis: Wie reagieren denn die Leute bei Ihnen in der Stadt auf das Thema Flüchtlinge?
Yiannis Boutaris: Thessaloniki hat ein Charakteristikum: Es ist eine Stadt – wohl eher eine konservative Stadt – ein großer Teil zumindest. Ich nenne hierfür ein Beispiel: Wir haben Räume in der Stadt, das waren früher Ställe. Die Stadt hat diese früher für Tiere und Karren genutzt. Danach stand das Gebäude leer, war verlassen. Die Stadt hat entschieden, es zu einem "Ort des Empfangs" zu machen für Flüchtlingsfamilien. Sie kommen dahin und stellen ihre Asylanträge, wir behalten sie dort für eine bestimmte Zeit und dann werden sie weiterverteilt. Wir hatten großen Widerstand von der Nachbarschaft. Sie sagten: ‚Ihr bringt uns Diebe, Drogenabhängige!'. Wir erklärten ihnen und erklärten mehrmals, dass das gut für ihre Nachbarschaft ist und es sowieso eine humanistische Tat ist. Und wir haben sie daran erinnert und das betone ich: Wie gut haben sich die Deutschen und die Amerikaner am Anfang des 20. Jahrhunderts und in den 1960er-Jahren benommen, als die Griechen in diese Länder auswanderten? Meine Opas, auch von meiner Frau, waren Auswanderer. Mit 14 sind sie weggegangen, nach Deutschland, nach Frankreich. Die Griechen waren immer ein Auswanderer-Volk. Warum? Weil das Land arm ist. Es produziert nicht solche Dinge, die dazu ausreichen, dass es von alleine leben kann. Es gibt keine Energiequellen. Aber egal wie die Reaktionen aussehen, wir schaffen es, sie davon zu überzeugen. Wir haben darüber hinaus auch die Nicht-Regierungs-Organisationen, die immer mehr an Einfluss gewinnen bei den Menschen. Sie sind gegen Rassismus und dafür, Flüchtlingen zu helfen.
Panajotis Gavrilis: Sie hören die Sendung "Tacheles" auf Deutschlandradio Kultur. Heute mit Yiannis Boutaris, dem Bürgermeister von Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt Griechenlands. Er sagt selbst über sich, dass er nicht mit Computern umgehen kann. Früher war er kurz in der kommunistischen Partei, kandidierte später aber als Parteiloser und gründete dann seine eigene Partei. Im Amt in Thessaloniki verschlankte er als Bürgermeister die Verwaltung und versteht sich als unkonventioneller Reformer, setzt sich für die griechisch-türkische Beziehungen ein.
Herr Boutaris, Sie haben eine Annäherung ans Nachbarland Türkei forciert, die Grenze ist keine 400 Kilometer entfernt, der Republik-Gründer Kemal Attatürk wurde in Thessaloniki geboren. Sein Haus wurde renoviert, Sie haben sich für Direktflüge zwischen Istanbul und ihrer Stadt eingesetzt, um türkische Touristen anzulocken, um – das haben Sie auch ganz offen auch gesagt – das Geld der Touristen zu bekommen. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Yiannis Boutaris: Schauen Sie, die Beziehungen sowohl mit der Türkei als auch mit jüdischen Persönlichkeiten Thessalonikis sind sehr zentral. Ich sage: Du kannst deine Zukunft nicht aufbauen, wenn du nicht deine Vergangenheit kennst. Das heißt nicht, dass wir die Vergangenheit kopieren müssen, sondern wir müssen daraus lernen. Abgesehen von der Zeit von Alexander dem Großen und während des Römischen Reichs oder Byzanz, ist die Vergangenheit, die Geschichte seit 1450 von osmanischem und jüdischem Einfluss und von anderen Kulturen geprägt. Thessaloniki war immer eine wichtige Hafenstadt und lag damals am Rand des Osmanischen Reichs. Sie war also die Verbindung zwischen Ost und West. Das hat der Stadt eine Identität gegeben. Deswegen ist die Antwort auch viel komplexer, warum Thessaloniki so wichtig ist für die Türken statt einfach erstaunt zu sagen: "Ja, es sind jetzt 100.000 türkische Touristen nach Thessaloniki gekommen."
Panajotis Gavrilis: Es gibt aber auch ein klares wirtschaftliches Interessen.
Yiannis Boutaris: Genau. Es gibt ein wirtschaftliches Interesse, ein sehr großes. Mittlerweile. Weil 100.000 Besucher aus der Türkei – das ist keine übliche Geschichte. Die kommen für zwei, drei, fünf Tage. Sie lassen Geld hier, sie schauen sich die Häuser ihrer Vorfahren an. So wie wir das Gleiche in der Türkei tun, so machen sie es auch.
Panajotis Gavrilis: In der Türkei hat die AKP von Recip Tayyip Erdogan die absolute Mehrheit bekommen, die EU überlegt, die Türkei zu einem sicheren Herkunftsland zu machen, in der Flüchtlingsfrage will sie auf die Türkei setzen, trotz aller Kritik ein unverzichtbarer Partner, findet die Europäische Union. Finden Sie das auch?
Yiannis Boutaris: Die Türkei ist ein sehr großes Land und hat wirtschaftlich viel Macht. Vergessen wir nicht, dass das berühmte G20-Treffen dieses Jahr in der Türkei stattfindet. Zudem liegt sie geografisch an einem der kritischsten Plätze und das zu einer sehr schwierigen Phase, die wir alle durchmachen. Sie hat Erdöl und kontrolliert die Zu- und Ausfuhren. Da ist es doch klar, dass Europa und die USA sich gut stellen möchten mit den Türken. Und die Türken sind Spitzen-Diplomaten, das wissen sie und das versuchen sie, so gut es geht, auszunutzen.
Panajotis Gavrilis: Einige sprechen davon: Einerseits kritisiert die EU die Türkei für fehlende Menschenrechte und Pressefreiheit, aber die Flüchtlinge Europa "vom Hals" zu halten sei völlig in Ordnung. Als Gegenzug gibt's dafür Visa-Erleichterungen. Ist das keine Doppelmoral Europas für Sie?
Yiannis Boutaris: Die Türken verletzen nicht nur Menschenrechte in der Türkei, wie es Zeitungen schreiben. Wir haben immer noch den Fall Zypern. Sie haben ihren Fuß darauf gesetzt und das ist immer noch ein Problem. Das sind aber zwei unterschiedliche Dinge. Türken einfacher ein Visum auszustellen, ist glaube ich besser. Je schneller du ihnen die Tür öffnest und sie in eine andere Umgebung bringst, je besser. Zum Beispiel nach Griechenland, ein großer Unterschied zu dem, was sie leben. Das wird dann aber meiner Einschätzung nach dazu führen, dass die Bewegung gegen das halb-totalitäre, halb-diktatorische Regime, das es in der Türkei gibt, geschwächt wird. Insgesamt aber werden mehr Visaerleichterungen und mehr Türken, die vor allem nach Griechenland kommen, glaube ich sehr helfen.
Panajotis Gavrilis: Griechenland hat ein turbulentes Jahr hinter sich. Die Menschen haben drei Mal abgestimmt, eine Wahl im Januar, dann das Referendum im Sommer, dann die Wahl Ende September. Sind Sie zufrieden mit dem Jahr?
Yiannis Boutaris: Ich kann nicht sagen, dass ich zufrieden bin, wenn ein Land innerhalb von zehn Monaten drei Wahlen hat. Das Referendum war ja im Prinzip nichts anderes als eine Wahl. Auf der anderen Seite zeigt es, das war ein notwendiger Versuch für diese doch eher linke Regierung, um auf den Boden der Tatsachen zu gelangen. Und das ist die Wirklichkeit: Egal wie viel Geld aufs Land regnet, wir werden es auffressen – ausgeben. Solange sich nicht das Klima ändert, damit Unternehmer sich trauen zu investieren.
Panajotis Gavrilis: Sie waren beim Referendum im Juli für die NAI-Fraktion, also für ein JA und somit gegen die Position von Alexis Tsipras. Sie sind also kein Fan seiner Syriza-Partei, nehme ich an.
Yiannis Boutaris: Nein, ich bin kein Fan von Syriza. Obwohl sie ein paar gute Ansichten haben, aber auch von Ihren Ideen besessen sind. Trotzdem glaube ich, dass Tsipras und seiner Partei eine Chance gegeben wird. Wenn sie diese vernünftig nutzt, dann werden die Dinge besser laufen.
Panajotis Gavrilis: "Die sind alle verrückt!", sagten Sie einmal über die Syriza-Politiker. Verrückt, weil sie so mit der Krise im Land umgehen. Aber dennoch stützen Sie die Regierung. Warum?
Yiannis Boutaris: Weil ich keine andere Wahl habe. Die Opposition hat ihre Identität, ihre Ideologie verloren. Sie schlägt keine Alternativen vor. Sie war in der Regierung und sie hat selbst nichts Besseres getan, obwohl sie es hätte tun können. Wir hätten also gar nicht erst zum dritten Memorandum kommen müssen. Also ist Tsipras die Pflicht-Lösung. Wir sehen auch, dass die Tsipras-Lösung mittlerweile sowohl die Amerikaner als auch die Deutschen unterstützen und ich hoffe, dass diese schlechte Situation im Land nicht mehr lange anhält.
Panajotis Gavrilis: Tsipras hat die Wahl bekanntermaßen gewonnen. Aber wenn wir uns anschauen, dass die neofaschistische Goldene Morgenröte auf 18 Sitze im Parlament kommt mit knapp 7 Prozent, muss das alarmieren. Denn hier handelt es sich nicht mehr um Protestwähler oder um eine Protestpartei. Es gibt einen festen Wählerkreis, der diese offen rassistische, antisemitische, homophobe Partei bewusst wählt. Macht Ihnen das nicht Angst?
Yiannis Boutaris: Ja, das stört mich ungemein. Es macht mir keine Angst, aber es stört mich wirklich sehr. Wir haben im Grunde genommen eine faschistische Partei, die im Parlament drittstärkste Kraft ist. Das stört mich sehr.
Panajotis Gavrilis: Auch in Thessaloniki konnte die Neo-Nazi-Partei Erfolge verbuchen, sie sitzt mit zwei Abgeordneten im Rat. "Na los, zeig mich doch an, ist mir doch egal, ich werde dich weiterhin provozieren!", haben Sie zu einem der Abgeordneten mal gesagt. Was war die Reaktion?
Yiannis Boutaris: Solange sie auf legalem Weg gewählt wurden, solange ihre Partei vom Verfassungsgericht anerkannt bleibt, haben wir keinen Grund, sie daran zu hindern, ihre Pflichten zu tun. Sie provozieren mit ihren Positionen, sie sind immer gegen das, was der Stadtrat sagt. Ihre Anwesenheit stört mich, sie stört mich, weil sie sich nicht mit etwas Gutem beteiligen. Sie sind ständig negativ, das bringt aber nichts. Es bleibt also eine unangenehme Situation in Griechenland.
Panajotis Gavrilis: Haben Sie trotzdem keine Angst vor einer Partei, deren Mitglieder in dem zurzeit größten Prozess in Griechenland wegen Mordes, Bildung einer kriminellen Organisation und illegalen Waffenbesitzes vor Gericht stehen?
Yiannis Boutaris: In Thessaloniki haben wir zwar zwei Stadträte der Goldenen Morgenröte, zudem haben wir einen Parlamentarier aus Thessaloniki, der bei der Stadt angestellt ist. Wir haben aber keine Gewaltübergriffe, wie wir es aus Athen kennen. Vielleicht liegt es daran, dass wir nicht genug Migranten haben, die häufig auch eine andere Hautfarbe haben. Aber egal aus welchen Gründen: Ich werde immer gegen jedes ihrer Vergehen sein. Aber abgesehen davon, können wir nicht viel dagegen tun.
Panajotis Gavrilis: Lassen Sie uns zum Schluss in die Zukunft blicken, Herr Boutaris. Sie sagten einmal: "Mir ist es egal, dass ich sterbe. Ich will nur, dass es mir gut geht, bis ich sterbe." Was planen Sie noch, damit es Ihnen gut geht?
Yiannis Boutaris: Das was mich am meisten interessiert, das was mich anregt, wenn Sie so wollen, damit es mir gut geht, ist die Leistung meiner Arbeit. Ich muss ein guter Bürgermeister sein, der Stadt dienen. Das Zweite ist ausschließlich auf privater Ebene. Mir gefällt die Ruhe. Ich bummle gerne herum, lese ein Buch oder gehe im Wald spazieren. Ich bin eher ein Mensch der Berge und nicht des Meeres. Ruhe, das ist es, wenn ich sage: Mir geht es gut.
Panajotis Gavrilis: Sie sagten auch: Die Angst hat zwei Töchter: Απραξίαund Δράση. Die Untätigkeit und die Handlung. Wovor haben Sie mehr Angst?
Yiannis Boutaris: Vor der Untätigkeit. Die Untätigkeit ist der Tod. Du wartest, bis er kommt. Aber wenn du eine Handlung übernimmst, auch wenn du Angst hast, dann hast du wenigstens ein Ergebnis, dann kommst du voran. Mit der Untätigkeit: tot.
Panajotis Gavrilis: Vielen Dank für das Gespräch, vielen Dank für Ihre Zeit und Ihnen Alles Gute. Σας ευχαριστούμε για τον χρόνο σας και καλή συνέχεια.

Hören Sie hier Yiannis Boutaris in der griechischen Originalversion des Gesprächs:
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