"Der historische Kontext geht verloren"

Moderation: Dieter Kassel · 31.08.2007
Der ehemalige Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul, Adolf Hoffmann, hat die geplante Flutung der historischen türkischen Stadt Hasankeyf kritisiert. Die Stadt habe ihr mittelalterliches Aussehen über die Jahrhunderte weitgehend bewahren können, sagte Hoffmann. Selbst wenn einige wichtige Gebäude versetzt würden, ginge der historische Kontext verloren.
Dieter Kassel: Hasankeyf, eine Stadt, die es wohl bald nicht mehr geben wird. Der Bau des Staudamms, in dessen Verlauf diese Stadt zusammen mit den Dörfern darum herum geflutet werden soll, hat sogar schon begonnen. Damit ist möglicherweise ein Kampf verloren, den neben den Einwohnern von Hasankeyf und der umliegenden Gebiete auch weltweit viele Archäologen geführt haben, denn gerade von archäologischer Bedeutung ist diese Stadt in besonderem Maße. Bei mir im Studio begrüße ich jetzt den langjährigen Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul, inzwischen ist er pensioniert und lebt jetzt wieder in Berlin, Adolf Hoffmann. Schönen guten Morgen, Herr Hoffmann.

Adolf Hoffmann: Guten Morgen.

Kassel: Sie waren ja in Hasankeyf, haben diese Stadt gesehen. Wir haben nun gerade in dem Beitrag wieder diese ganz berühmten, alles dominierenden Gebäude wieder erwähnt, die eigentliche Felsenburg, nach der die Stadt benannt ist, die Brücke aus dem 12. Jahrhundert, aber es ist ja mehr. Wenn diese Flutung stattfindet – wie viele, aus Ihrer Sicht, archäologisch bedeutsame Gebäude würden denn ungefähr verschwinden?

Hoffmann: Das lässt sich so auf Anhieb gar nicht unbedingt beantworten, aber was meiner Meinung nach viel wichtiger ist, ist das, was der Bürgermeister bereits erwähnt hat, dass der historische Kontext der Bauten, wenn sie denn tatsächlich versetzt werden sollten, verloren geht. Als ich von Hasankeyf vor 25 Jahren etwa zum ersten Mal gehört habe in einem Vortrag von Olus Arik, der sich sehr für die Erforschung und Erhaltung der Stadt eingesetzt hat und langjährig dort Ausgrabungen durchgeführt hat, bin ich fasziniert gewesen von der Situation dieser Stadt und vom Erhaltungszustand der historischen Monumente, die – und das ist etwas ganz Besonderes – nicht durch moderne Gebäude bedrängt sind, oder nur in sehr geringem Maße. Ganz im Gegensatz zu allen anderen türkischen Städten hat diese Stadt ihr mittelalterliches Aussehen weitgehend bewahren können, und das ist etwas, was es, glaube ich, sonst nicht wieder gibt. Allein das ist etwas, was meiner Meinung nach erhaltenswert wäre. Daneben gibt es aber dann eben eine ganze Reihe von prominenten Gebäuden, allen voran die schon vielfach genannte Brücke, die im Verlauf der Seidenstraße aus dem Orient nach Anatolien eine wichtige Rolle gespielt hat und den Fluss Tigris, der mit wechselndem Wasserstand eine erhebliche Barriere gebildet hat, leicht passierbar gemacht hat,und in der Folgezeit ist die Stadt aufgeblüht und von der ehemaligen Oberstadt in die Nähe der Brücke gewandert und hat dort eine neue Unterstadt gebildet, die mit großen, prächtigen, monumentalen Gebäuden, Moscheen vor allen Dingen und Bädern und allem, was zum öffentlichen Leben dazugehört, ausgestattet worden ist. Und diese Gebäude sind zum großen Teil erhalten, zum kleineren Teil in jüngster Zeit von türkischer Seite aus ausgegraben worden, aber da gibt es natürlich noch unendliches zu tun, weil das Stadtgebiet groß und die bisher untersuchten Flächen noch sehr klein sind.

Kassel: Sie haben sich sehr vorsichtig gerade – zum einen im Konjunktiv zum anderen kritisch – über die Möglichkeit geäußert, zumindest einen Teil der Gebäude zu versetzen. Diese Idee gibt es ja. Das ist ja nicht ohne Beispiel, das wäre nicht das erste Mal. Ich meine, es kommt einem – weil es auch da der Bau eines Staudamms war, der das erforderlich gemacht hat – der Ramsestempel von Abu Simbel in Ägypten in den Kopf, das war, glaube ich, 1964 oder Anfang der 60er Jahre, der ist versetzt worden. Ist trotzdem für Sie als Archäologe das im Prinzip nicht sinnvoll machbar, Gebäude zu erhalten, indem man sie ab- und woanders wieder aufbaut?

Hoffmann: Für ganz unmöglich halte ich das nicht, nur die Gebäude in Hasankeyf sind etwas völlig anderes als die Statuen von Abu Simbel, die in große Blöcke zersägt worden sind und wieder zusammengesetzt werden konnten, während die Gebäude von Hasankeyf aus kleinsteinigem Material bestehen, mit Stuck oder auch mit glasierten Ziegeln verkleidet sind, also mit sehr kleinteiligen Elementen, die nur schwer auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt werden können. Das will ich nicht für völlig unmöglich halten, aber der authentische Reiz eines historischen Gebäudes würde damit zu einem ganz großen Teil verloren gehen. Was aber am meisten zählt aus meiner Sicht, ist der schon viel genannte Kontext, der in einer Rekonstruktion jedenfalls nicht wieder hergestellt werden kann, schon gar nicht für die Brücke, die auch meiner Meinung nach nur in Teilen demontabel und wieder zusammenzusetzen wäre. Ein künstlicher Ruinencharakter – das könnte man vielleicht gerade noch erreichen, aber eben doch nicht mehr verdeutlichen, welchen Sinn die Brücke an diesem Ort gehabt hat.

Kassel: In welchem Zustand ist diese berühmte Brücke eigentlich jetzt? Sie ist ja immerhin auch schon, ja, 900 bis 1000 Jahre alt.

Hoffmann: Ja, sie ist 1140 etwa errichtet worden, hat bis zum 16. Jahrhundert existiert, es ist eine Ziegelbrücke, von der einige Pylone erhalten sind, auch ein Bogen ist erhalten, aber vieles ist eben in ruinösem Zustand und so etwas zu demontieren und wieder aufzubauen, das halte ich für außerordentlich schwierig.

Kassel: Sie haben vorhin bei der Beschreibung der vielen, archäologisch interessanten Stätten in Hasankeyf gesagt, dass noch lange nicht alles erforscht, ausgegraben, rekonstruiert ist. Für wie groß halten Sie den Anteil der Gebäude oder vermuteten Gebäude, die wirklich durch eine solche Flutung dem archäologischen Forschungszugriff völlig entzogen würden?

Hoffmann: Also, das, was bisher ausgegraben worden ist, das ist vielleicht, weiß ich nicht, fünf Prozent.

Kassel: So wenig? Ich dachte vielleicht, dass noch ein Drittel fehlt, das hieße ja, über 90 Prozent fehlen quasi noch.

Hoffmann: Nein, das ist eine ganz winzige Fläche im Verhältnis zum gesamten Stadtgebiet. Also, da wäre Unendliches noch zu tun, und die jüngsten Grabungen haben auch gezeigt, dass es tatsächlich sehr interessante Ergebnisse bringen könnte, weiter auszugraben, nicht nur, dass man die einzelnen Gebäude in der Stadt wiedergewinnen könnte – zumindest in ihren Grundrissen –, sondern auch die Funktionen innerhalb der Stadt näher bestimmen könnte. So ist in letzter Zeit ein Töpferviertel ausgegraben worden. Man kann auf diese Art und Weise sich besser vorstellen, was in dieser Stadt eigentlich passiert ist und was zu welchen Zeiten einen bestimmten Stellenwert, auch ökonomisch, in dieser Stadt gehabt hat. All diese Dinge sind bisher weitgehend unbekannt.

Kassel: Wie ist es denn vom Zeitrahmen? Der Bau des Staudamms hat begonnen, aber selbst wenn die Flutung stattfindet, das wird ja noch einige Jahre dauern. Hat man denn die Chance, in dieser kurzen Zeit in einer gewissen Hektik noch weiterzukommen mit der Erforschung?

Hoffmann: Die Ausgrabungsaktivitäten sind in den letzten Jahren erheblich intensiviert worden, was aber auch zur Folge hat, dass, ja, manches vielleicht etwas holterdiepolter ausgegraben wird und mögliche Beobachtungen, die doch sehr viel Zeit und Geduld brauchen, etwas vernachlässigt werden, und wenn man, also, Hasankeyf in größerem Maßstab ausgraben wollte, brauchte man noch sehr, sehr viele Jahre und sehr viel Zeit, das lässt sich nicht von heute auf morgen machen und auch sicher nicht in der Zeit, die noch bis zur Flutung zur Verfügung steht.

Kassel: Zum Schluss – wir haben wenig über Bewertung geredet. Eins möchte ich doch noch erwähnen, das Deutsche Archäologische Institut schickt auch einige Experten in eine Kommission, die dazu beitragen soll, dass die Versetzung – so sie denn stattfindet – einiger der historischen Gebäude von Hasankeyf in eine Art Touristenpark möglichst sinnvoll und möglichst sensibel geschieht. Das klingt zunächst mal logisch und positiv, aber ist es nicht auch eine Aktion, die auch mit dazu beiträgt, der türkischen Regierung dieses Feigenblatt zu geben, doch alles archäologisch kompatibel zu machen?

Hoffmann: Das hat wohl eine gewisse Berechtigung, derartig zu argumentieren, auf der anderen Seite, glaube ich, sind die Entscheidungen unumkehrbar und wenn man dann als Experte sein Wissen zur Verfügung stellt, um wenigstens dort, wo noch etwas zu retten ist, hilfreich zu sein, dann halte ich das nicht für verkehrt.

Kassel: Jenseits aller Wissenschaft, Herr Hoffmann – die Vorstellung, dass diese Stadt, die sie so oft gesehen und durchschritten haben, bald weg ist, überflutet, macht Sie das traurig?

Hoffmann: Allerdings, denn, ich hatte das schon eingangs gesagt, ich denke, es ist eine der türkischen Städte, die am ehesten etwas von ihrem historischen Werdeprozess, von ihrer historischen Substanz uneingeschränkt durch moderne Bebauung sichtbar werden lassen.

Kassel: Danke schön, dass Sie zu uns gekommen sind. Adolf Hoffmann war das, der ehemalige Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul, über das wohl kaum noch zu verhindernde Verschwinden der historischen, türkischen Stadt Hasankeyf.
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