Der getäuschte Patient
In dieser Aufsatzsammlung kommen Missstände der Medizin zur Sprache: Es geht um schlampig geplante Forschungsprojekte, um Ärzte, die perfekt operieren, aber nicht wissen, wann ein Eingriff sinnvoll ist oder darum, wie aufgebauscht die Medien über Gesundheitsstudien berichten.
Brustkrebs ist die häufigste Krebsart, an der Frauen in den Industrieländern erkranken. Mit dieser Begründung wurde in Deutschland vor sieben Jahren ein flächendeckendes Früherkennungsprogramm mit speziellen Röntgenuntersuchungen eingeführt. Radiologie-Zentren, die dieses sogenannte Screening durchführen, werben dafür mit Aussagen wie dieser:
Die Senkung der Brustkrebssterblichkeit mit Screening liegt bei etwa 25 Prozent.
Viele Frauen verstehen eine solche Aussage so wie diese 51-jährige es tut:
Also so wie es da steht, würde ich es so interpretieren, dass dann von 1000 Leuten, die dort hingegangen sind, 25 Prozent nicht sterben.
Diese Einschätzung ist aber falsch. Tatsächlich ist so, dass von 1000 Frauen, die nicht zum Screening gehen, in einem bestimmten Zeitraum im Schnitt vier an Brustkrebs sterben. Von denen, die das Screening-Angebot wahrnehmen, sind es drei. Die Senkung von vier auf drei wird in verschiedenen Veröffentlichungen in 25 Prozent umgerechnet. Manchmal ist auch von einer Senkung um 20 Prozent die Rede. So oder so komme bei fast allen Patientinnen eine völlig falsche Botschaft an, meint Gerd Gigerenzer. Die Botschaft, dass 1000 Frauen untersucht werden müssen, damit bei einer Brustkrebs entdeckt und erfolgreich behandelt wird:
Die meisten Frauen verstehen es falsch - und denken, dass von 1000 Frauen 200 das Leben gerettet wird. Und um das geht es. Und ich halte das für unethisch in einer Demokratie, den Frauen die Information so zu verdrehen, dass sie es missverstehen.
Und zu einer nicht verdrehten Information würde noch viel mehr gehören, erklärt Gigerenzer in dem Buch "Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin", das er gemeinsam mit dem britischen Gesundheitswissenschaftler J.A. Muir Gray herausgegeben hat. Patienten müssten darüber aufgeklärt werden, dass etwa Früherkennungsuntersuchungen oftmals auch einen Schaden mit sich bringen können, fordern die Autoren. So wird von den Frauen, die am Brustkrebsscreening teilnehmen, fast jede Dritte durch einen falschen Alarm aufgeschreckt – also durch einen sogenannten falsch-positiven Befund:
Viele von diesen Frauen haben einen Schock, den sie fürs Leben haben. Denn es hat ihnen nie jemand erklärt, wenn sie regelmäßig zum Brustkrebs-Screening gehen, dann müssen sie damit rechnen, dass sie irgendwann einmal so einen falschen Alarm bekommen.
Und rund die Hälfte der Frauen glaubt, sie könnten durch die Röntgenuntersuchung einer Krebserkrankung vorbeugen – dabei kann die Mammographie genau das nicht. Sie kann nur einen bereits entstandenen Tumor zeigen. Gute Information für Patienten ist nach Einschätzung der Buchautoren aber der Dreh- und Angelpunkt für ein besseres Gesundheitswesen:
Der getäuschte Patient ist das Opfer einer Kette verzerrter Informationen. Ein derartiges Gesundheitssystem vergeudet das Geld der Steuerzahler und die Zeit der Ärzte und führt dazu, dass die Gesundheit von Patienten womöglich Schaden nimmt.
"Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin" ist ein Sammelband wissenschaftlicher Aufsätze, die sich mit verschiedenen Themenfeldern beschäftigen – etwa mit der Frage, wie viel Rationalität in der medizinischen Forschung steckt. Die Antwort ist niederschmetternd:
Forschung wird durchgeführt, ohne dass vor Beginn eine systematische Recherche durchgeführt wurde. Forschung wird mangelhaft geplant. Forschung wird mangelhaft durchgeführt. Über die Forschung wird nicht vollständig und sorgfältig berichtet.
Die Senkung der Brustkrebssterblichkeit mit Screening liegt bei etwa 25 Prozent.
Viele Frauen verstehen eine solche Aussage so wie diese 51-jährige es tut:
Also so wie es da steht, würde ich es so interpretieren, dass dann von 1000 Leuten, die dort hingegangen sind, 25 Prozent nicht sterben.
Diese Einschätzung ist aber falsch. Tatsächlich ist so, dass von 1000 Frauen, die nicht zum Screening gehen, in einem bestimmten Zeitraum im Schnitt vier an Brustkrebs sterben. Von denen, die das Screening-Angebot wahrnehmen, sind es drei. Die Senkung von vier auf drei wird in verschiedenen Veröffentlichungen in 25 Prozent umgerechnet. Manchmal ist auch von einer Senkung um 20 Prozent die Rede. So oder so komme bei fast allen Patientinnen eine völlig falsche Botschaft an, meint Gerd Gigerenzer. Die Botschaft, dass 1000 Frauen untersucht werden müssen, damit bei einer Brustkrebs entdeckt und erfolgreich behandelt wird:
Die meisten Frauen verstehen es falsch - und denken, dass von 1000 Frauen 200 das Leben gerettet wird. Und um das geht es. Und ich halte das für unethisch in einer Demokratie, den Frauen die Information so zu verdrehen, dass sie es missverstehen.
Und zu einer nicht verdrehten Information würde noch viel mehr gehören, erklärt Gigerenzer in dem Buch "Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin", das er gemeinsam mit dem britischen Gesundheitswissenschaftler J.A. Muir Gray herausgegeben hat. Patienten müssten darüber aufgeklärt werden, dass etwa Früherkennungsuntersuchungen oftmals auch einen Schaden mit sich bringen können, fordern die Autoren. So wird von den Frauen, die am Brustkrebsscreening teilnehmen, fast jede Dritte durch einen falschen Alarm aufgeschreckt – also durch einen sogenannten falsch-positiven Befund:
Viele von diesen Frauen haben einen Schock, den sie fürs Leben haben. Denn es hat ihnen nie jemand erklärt, wenn sie regelmäßig zum Brustkrebs-Screening gehen, dann müssen sie damit rechnen, dass sie irgendwann einmal so einen falschen Alarm bekommen.
Und rund die Hälfte der Frauen glaubt, sie könnten durch die Röntgenuntersuchung einer Krebserkrankung vorbeugen – dabei kann die Mammographie genau das nicht. Sie kann nur einen bereits entstandenen Tumor zeigen. Gute Information für Patienten ist nach Einschätzung der Buchautoren aber der Dreh- und Angelpunkt für ein besseres Gesundheitswesen:
Der getäuschte Patient ist das Opfer einer Kette verzerrter Informationen. Ein derartiges Gesundheitssystem vergeudet das Geld der Steuerzahler und die Zeit der Ärzte und führt dazu, dass die Gesundheit von Patienten womöglich Schaden nimmt.
"Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin" ist ein Sammelband wissenschaftlicher Aufsätze, die sich mit verschiedenen Themenfeldern beschäftigen – etwa mit der Frage, wie viel Rationalität in der medizinischen Forschung steckt. Die Antwort ist niederschmetternd:
Forschung wird durchgeführt, ohne dass vor Beginn eine systematische Recherche durchgeführt wurde. Forschung wird mangelhaft geplant. Forschung wird mangelhaft durchgeführt. Über die Forschung wird nicht vollständig und sorgfältig berichtet.
Wie können Patienten besser informiert werden?
Den Autoren geht es aber nicht nur um eine Nabelschau innerhalb des Medizinbetriebes. Es geht immer wieder um die Frage, wie Patienten besser informiert werden können. Da sie ihre Informationen zum großen Teil über die Medien beziehen, werden auch diese beleuchtet – ebenfalls mit einem ernüchternden Ergebnis:
In Medienberichten werden die Folgen von Erkenntnissen zu Gesundheit und Medizin, die von statistischen Analysen abhängen, regelmäßig falsch dargestellt und aufgebauscht. Noch beunruhigender ist, dass unklar ist, ob sich überhaupt irgendwer in der journalistischen Kommandostruktur für die korrekte Entschlüsselung der tatsächlichen Bedeutung von Gesundheitsstudien interessiert. Medienberichte mit kühnen, beängstigenden Behauptungen über medizinische Behandlungen übertrumpfen regelmäßig die nüchterne Analyse.
Der Autor und Mitherausgeber Gerd Gigerenzer sieht aber nicht nur bei den medizinischen Laien Defizite – sondern auch und gerade bei den Medizinern selbst:
Es ist leider so, dass die Mehrzahl der Ärzte in Deutschland – nach unseren Untersuchungen – einen wissenschaftlichen Artikel im eigenen Fach nicht kritisch bewerten kann.
Gründe für dieses Defizit gibt es nach Gigerenzers Einschätzung einige. Den wichtigsten sieht er in der Verantwortung der Universitäten:
Das Problem ist, dass in den medizinischen Fakultäten das Verständnis von Evidenz, und die ist fast immer Statistik, nicht richtig gelehrt wird.
Die Universitäten entlassen Ärztinnen und Ärzte in den Beruf, die zwar gut geschult sind, mit einem Skalpell umzugehen oder auch darin, eine einzelne Röntgenaufnahme zu deuten. Doch die Frage, wann ein bestimmter Eingriff sinnvoll ist, werde an den Medizinfakultäten viel zu wenig diskutiert, meint Gigerenzer – oder ebenso wenig wie die Frage, ob es sich lohnt, bestimmte Röntgenaufnahmen millionenfach vorzunehmen. Und im Laufe des Berufslebens würden viele Ärzte die kritische Suche nach Informationen auch nicht mehr nachholen:
Und warum nehmen viele Ärzte das nicht zur Kenntnis? Weil sie Interessenskonflikte haben. Weil man etwas daran verdient. Oder weil man nicht wissen möchte oder noch nicht im Zeitalter der Aufklärung ist.
Im Zeitalter der Aufklärung zu sein – gerade für den Bereich der Medizin heißt das in den Augen der Buchautoren Gigerenzer und Gray anzuerkennen, dass es keine absoluten Gewissheiten gibt. Die Autoren sind zwar fest überzeugt, dass Forschung über die Wirksamkeit von Diagnosemethoden und Therapien große Chancen bietet – nämlich die Chance, Medizin effizienter und besser zu machen. Doch zu Verbesserung gehöre immer auch der Zweifel:
Ein grundlegendes Missverständnis besteht darin, dass alles sicher sein muss, was in Zahlen ausgedrückt wird. Ärzte haben oft das Gefühl, das Vertrauen der Patienten zu verlieren, wenn sie Unsicherheit zugeben.
Der Aufsatz-Sammelband "Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin" will ein Manifest sein für den Aufbruch in ein Zeitalter einer anderen Gesundheitsversorgung. Die Verantwortung dafür sehen die Buchautoren aber nicht nur im Medizinsystem – sondern vor allem im Bildungssystem. Sie plädieren für die Vermittlung entsprechender Kenntnisse schon in der Grundschule:
Frühe Gesundheitskompetenz könnte die Grundlage sein, auf der Erwachsene während ihres ganzen Lebens bessere Entscheidungen zu ihrem Lebenswandel treffen.
Wobei Gerd Gigerenzer klar macht: Es geht ihm nicht darum, dass Kinder Tabellen auswendig lernen, in denen etwa steht, welche Lebensmittel – tatsächlich oder vermeintlich – gut sind für die Gesundheit. Vielmehr sollen sie kritisch hinterfragen können, was es bedeutet, wenn beispielsweise in der Zeitung steht, dass schon der Verzehr eines einzelnen Würstchen pro Tag die Sterblichkeit um 18 Prozent steigere, weil Fleisch schlecht fürs Herz sei und die Entstehung von Krebs begünstige – so wie es beispielsweise schon in der Süddeutschen Zeitung zu lesen war. Gerd Gigerenzer geht es um etwas anderes:
Dass man den jungen Menschen nicht Wissen vermittelt, sondern sie kompetent macht. Ihnen beibringt, Fragen zu stellen.
Das Buch "Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin" ist in vielerlei Hinsicht sperrig. Weil es eine Aufsatzsammlung ist, wiederholen sich einige Themen und Argumente mehrfach. Und die verschiedenen Autoren legen unterschiedlich viel Wert darauf, dass ihre Erklärungen allgemeinverständlich sind. Wer aber bereit ist, etwas Energie zu investieren, um Antworten auf die Frage zu bekommen, was grundsätzlich besser werden könnte in der Gesundheitsversorgung der westlichen Industriestaaten, der wird in diesem Buch einiges finden.
In Medienberichten werden die Folgen von Erkenntnissen zu Gesundheit und Medizin, die von statistischen Analysen abhängen, regelmäßig falsch dargestellt und aufgebauscht. Noch beunruhigender ist, dass unklar ist, ob sich überhaupt irgendwer in der journalistischen Kommandostruktur für die korrekte Entschlüsselung der tatsächlichen Bedeutung von Gesundheitsstudien interessiert. Medienberichte mit kühnen, beängstigenden Behauptungen über medizinische Behandlungen übertrumpfen regelmäßig die nüchterne Analyse.
Der Autor und Mitherausgeber Gerd Gigerenzer sieht aber nicht nur bei den medizinischen Laien Defizite – sondern auch und gerade bei den Medizinern selbst:
Es ist leider so, dass die Mehrzahl der Ärzte in Deutschland – nach unseren Untersuchungen – einen wissenschaftlichen Artikel im eigenen Fach nicht kritisch bewerten kann.
Gründe für dieses Defizit gibt es nach Gigerenzers Einschätzung einige. Den wichtigsten sieht er in der Verantwortung der Universitäten:
Das Problem ist, dass in den medizinischen Fakultäten das Verständnis von Evidenz, und die ist fast immer Statistik, nicht richtig gelehrt wird.
Die Universitäten entlassen Ärztinnen und Ärzte in den Beruf, die zwar gut geschult sind, mit einem Skalpell umzugehen oder auch darin, eine einzelne Röntgenaufnahme zu deuten. Doch die Frage, wann ein bestimmter Eingriff sinnvoll ist, werde an den Medizinfakultäten viel zu wenig diskutiert, meint Gigerenzer – oder ebenso wenig wie die Frage, ob es sich lohnt, bestimmte Röntgenaufnahmen millionenfach vorzunehmen. Und im Laufe des Berufslebens würden viele Ärzte die kritische Suche nach Informationen auch nicht mehr nachholen:
Und warum nehmen viele Ärzte das nicht zur Kenntnis? Weil sie Interessenskonflikte haben. Weil man etwas daran verdient. Oder weil man nicht wissen möchte oder noch nicht im Zeitalter der Aufklärung ist.
Im Zeitalter der Aufklärung zu sein – gerade für den Bereich der Medizin heißt das in den Augen der Buchautoren Gigerenzer und Gray anzuerkennen, dass es keine absoluten Gewissheiten gibt. Die Autoren sind zwar fest überzeugt, dass Forschung über die Wirksamkeit von Diagnosemethoden und Therapien große Chancen bietet – nämlich die Chance, Medizin effizienter und besser zu machen. Doch zu Verbesserung gehöre immer auch der Zweifel:
Ein grundlegendes Missverständnis besteht darin, dass alles sicher sein muss, was in Zahlen ausgedrückt wird. Ärzte haben oft das Gefühl, das Vertrauen der Patienten zu verlieren, wenn sie Unsicherheit zugeben.
Der Aufsatz-Sammelband "Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin" will ein Manifest sein für den Aufbruch in ein Zeitalter einer anderen Gesundheitsversorgung. Die Verantwortung dafür sehen die Buchautoren aber nicht nur im Medizinsystem – sondern vor allem im Bildungssystem. Sie plädieren für die Vermittlung entsprechender Kenntnisse schon in der Grundschule:
Frühe Gesundheitskompetenz könnte die Grundlage sein, auf der Erwachsene während ihres ganzen Lebens bessere Entscheidungen zu ihrem Lebenswandel treffen.
Wobei Gerd Gigerenzer klar macht: Es geht ihm nicht darum, dass Kinder Tabellen auswendig lernen, in denen etwa steht, welche Lebensmittel – tatsächlich oder vermeintlich – gut sind für die Gesundheit. Vielmehr sollen sie kritisch hinterfragen können, was es bedeutet, wenn beispielsweise in der Zeitung steht, dass schon der Verzehr eines einzelnen Würstchen pro Tag die Sterblichkeit um 18 Prozent steigere, weil Fleisch schlecht fürs Herz sei und die Entstehung von Krebs begünstige – so wie es beispielsweise schon in der Süddeutschen Zeitung zu lesen war. Gerd Gigerenzer geht es um etwas anderes:
Dass man den jungen Menschen nicht Wissen vermittelt, sondern sie kompetent macht. Ihnen beibringt, Fragen zu stellen.
Das Buch "Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin" ist in vielerlei Hinsicht sperrig. Weil es eine Aufsatzsammlung ist, wiederholen sich einige Themen und Argumente mehrfach. Und die verschiedenen Autoren legen unterschiedlich viel Wert darauf, dass ihre Erklärungen allgemeinverständlich sind. Wer aber bereit ist, etwas Energie zu investieren, um Antworten auf die Frage zu bekommen, was grundsätzlich besser werden könnte in der Gesundheitsversorgung der westlichen Industriestaaten, der wird in diesem Buch einiges finden.
Gerd Gigerenzer, J.A. Muir Gray (Hg.): Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin - Aufbruch in ein transparentes Gesundheitswesen
MWV, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
402 Seiten, 39,95 Euro
MWV, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
402 Seiten, 39,95 Euro