Verhaltensforschung

Lemuren singen mit menschlichem Sinn für Rhythmus

07:27 Minuten
Ein Indri sitzt im Baum und isst Blätter.
Der Indri ernährt sich von einem bestimmten Blättermix. In Gefangenschaft kann er daher nicht überleben. © Deutschlandradio / Nadine Querfurth
Von Nadine Querfurth  · 30.12.2021
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Babakoto, übersetzt Waldgeist, heißt der Indri in der Sprache der Madagassen. Der Gesang des Primaten gilt als betörend und gleicht – das haben Forscher nun herausgefunden – in einigen Elementen der Musik von Menschen.
Eine Reise in den Nationalpark Perinet im Osten Madagaskars ist abenteuerlich. Erst Zug, dann Taxi Brousse, eine Art Buschtaxi, dann ein Fußmarsch. Das alles unter dem Lebensmotto der Madagassen: „Mora Mora“ – immer mit der Ruhe.
Mit etwas Glück allerdings sieht man ihn dann, im dichten Regenwald, oben in den Wipfeln, umgeben von Nebelschwaden: einen schwarz-weißen Teddybären, mit Knopfaugen und roten Lippen: den Indri.
„Der Indri ist eine Mischung aus einem Teddybären und einem langbeinigen Gespenstertier“, beschreibt der Human- und Evolutionsbiologe Carsten Niemitz. „Zum einen ist er unheimlich wollig und dann hat er unglaublich lange Gliedmaßen, vor allem lange Beine. Sie springen rückwärts und dann mit so riesigen Sprüngen. Diese Füße und langen Beine sind etwas, was einen anrührt, als könnte es dieses Tier auf der Welt gar nicht geben.“
Es gibt ihn doch – aber Indris sind extrem selten. Den genauen Bestand kennt keiner, Schätzungen zufolge leben noch mehrere Tausend Tiere in einem sehr schmalen Regenwaldstreifen im Osten der Insel Madagaskar. Nachdem die Insel vor 160 Millionen Jahren vom afrikanischen Festland abdriftete, entwickelten sich dort circa 100 Arten der Lemuren isoliert.

Der betörende Gesang der Indris

Heute gibt es den Indri, der wie alle Lemuren zu einer Untergruppe der Feuchtnasenaffen gehört, nur noch auf Madagaskar und den Komoren. Als Laubdachbewohner hält er sich fast ausschließlich in Baumkronen auf.
Und tatsächlich ist es eine echte Herausforderung, die Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum zu finden und singen zu hören. Gelingt es allerdings, ist es betörend und überwältigend: Klare, langgezogene Töne, ähnlich wie Walgesang, nur höher, scheinbar klagend. Ein Erlebnis, das in Erinnerung bleibt.
Solche prägnanten Gesänge haben im Tierreich allgemein eine wichtige Funktion, sagt Kurt Hammerschmidt. Er hat sich sein gesamtes Forscherleben mit Gesängen und Lautäußerungen von Tieren, insbesondere Affen, beschäftigt – lange Zeit als Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe kognitive Ethologie am Leibniz-Institut für Primatenforschung in Göttingen.
Fast immer sei es verbunden mit Revierverteidigung, Paarbindung oder dem Finden von Partnern. Das sei eigentlich immer die Essenz dahinter. „Zusätzlich kann es auch dazu führen, dass der Gesang die Bindung stärkt. Das ist also praktisch der Grund, weshalb gesungen wird.“

Indri-Gesang gleicht Menschen-Musik

Wissenschaftler um Chiara De Gregorio von der Universität Turin und Andrea Ravignani vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nimwegen konnten über einen Zeitraum von elf Jahren die Gesänge der Indris aufzeichnen. Das internationale Team sammelte über 600 Tonaufnahmen von ausgewachsenen Indri-Lemuren, die im Duett oder in kleinen Gruppen sangen. Die Gesänge verglichen sie mit einem universellen Rhythmus-Element aus der menschlichen Musik.
Allgemein gilt: Ein Rhythmus entsteht, wenn sich ein Ton oder Geräusch in regelmäßigen Abständen mit Stille abwechselt. Die Forscher verglichen den Indri-Gesang mit einem universellen Rhythmus-Element, das Musikwissenschaftler als eine Art Gemeinsamkeit aller Musikkulturen identifizieren. Sie stellten sich die Frage, ob im Indri-Gesang rhythmische Elemente menschlicher Musik zu finden sind.
Ergebnis der Datenanalysen: Die Tonintervalle zeigten teilweise genau die gleiche Länge oder zum Teil eine verdoppelte Länge – also ein Verhältnis 1:1 oder 1:2. Bisher wurde das nur bei Vögeln und beim Menschen nachgewiesen. Der Gesang enthält also tatsächlich ähnliche Rhythmus-Kategorien wie menschliche Musik. Der Indri: Ein Affe mit Rhythmusgefühl?
"Wenn wir jetzt von Tiergesängen reden, haben wir nicht nur den Rhythmus im Ohr, sondern wir gehen immer dann von Gesängen aus, wenn sich irgendwas melodisch verändert, wenn wir also Melodien erkennen. Die Melodie-Anteile haben oft eine hohe Wichtigkeit und der Rhythmus ist der kleinere Anteil“, sagt Kurt Hammerschmidt, der an der Studie zum Indri-Gesang nicht beteiligt war.
Die Rhythmik ist in der Tat bei Tiergesängen eher selten im Fokus der Forschung. Weil die hohe Luftfeuchtigkeit im dichten Regenwald die Weiterleitung des Schalls dämpft, gilt hier eher: je lauter, desto besser. Und tatsächlich gehören die schallenden Gesänge der Indris, der Gibbons und der südamerikanischen Brüllaffen zu den lautesten im Tierreich.

Durch Musik die Gruppe koordinieren

Dennoch: Rhythmus und Rhythmusänderungen in den Gesängen haben eine wichtige kommunikative Bedeutung für Artgenossen. Ein schneller Rhythmus könne zum Beispiel heißen, so Hammerschmidt:
„Das Tier regt sich mehr auf, es ist mehr kampfbereit, als wenn der Rhythmus langsamer ist. Ein Rhythmus ist auch eine Möglichkeit, die Gruppe zu koordinieren.“ Es würden Gemeinsamkeiten erzeugt. „Das ist noch spezifischer, wenn es um Jagdstrategien geht, aber akustisch ist der Rhythmus natürlich eine ganz wichtige Sache.“
Die Tatsache, dass der Indri-Gesang Ähnlichkeiten zu menschlichen Rhythmen zeigt, könnte aber auch einen ganz anderen Grund haben. „Wenn ich diese Elemente produzieren will und die gleich laut produzieren will, muss ich eine sehr rhythmische Atmung haben.“
Der Rhythmus, der dadurch entstehe, würde also unabhängig davon, ob er eine kommunikative Bedeutung hat oder nicht, einfach aufgrund des Systems zustandekommen, nach dem die Lauterzeugung stattfindet. „Und das ist eben doch bei den Landsäugern eigentlich fast generell gleich. Damit erzeuge ich automatisch mit meinen Lautäußerungen einen Rhythmus, der irgendwo dazu führt, dass ich ein Verhältnis 1:1 oder 1:2 bekomme.“

Lebensraum des Indri in Gefahr

Die Wissenschaftler der Studie vermuten, dass auch weitere Tiere mir Rhythmus singen und ermutigen zu mehr Rhythmus-Forschung auch bei anderen Arten. So könnte besser verstanden werden, wie rhythmische Fähigkeiten überhaupt entstanden sind und sich im Laufe der Evolution entwickelt haben.
Aber – ob Rhythmus als Kommunikationsmittel oder aufgrund der Atemtechnik: Soll der Indri weiterhin singen, muss sein Lebensraum geschützt werden. Die Prognosen sind allerdings düster: Auch auf Madagaskar wird der Regenwald in rasantem Tempo abgeholzt, der Indri von den Madagassen gejagt. Und weil die Tiere eine spezielle Blattnahrung aus etwa 70 verschiedenen Arten brauchen, hat bis jetzt auch noch kein Indri in Gefangenschaft überlebt.

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