Der Gerichtssaal als Theater und Kampfarena

09.09.2011
Was geschieht vor Gericht, wenn dort nicht mehr nur gesprochen, sondern geschrieben, fotografiert, gefilmt, gesendet, simultanübersetzt wird? Diese Fragen stellt die 2010 verstorbene Medienwissenschaftlerin Cornelia Vismann in ihrem posthum herausgegebenen Opus Magnum.
Was vor Gericht passiert, darüber glauben die Juristen am besten Bescheid zu wissen: Dort wird Recht gesprochen, und das Recht ist ihr Metier. Weit weniger kompetent ist die Juristerei aber, über den anderen Teil des Rechtsprechens Auskunft zu geben: Recht wird gesprochen. Was passiert da? Und warum? Was, wenn vor Gericht nicht mehr nur gesprochen, sondern geschrieben, fotografiert, gefilmt, gesendet, simultanübersetzt wird?

Diese Fragen stellt die 2010 verstorbene Weimarer Medienwissenschaftlerin Cornelia Vismann in ihrem kurz vor ihrem Tod fertiggestellten und jetzt von Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski posthum herausgegebenen Opus Magnum "Medien der Rechtsprechung". Was sie dabei zu Tage fördert an Erkenntnissen über das Rechtsprechen, dessen Entwicklung, seine Funktionsbedingungen und seine Zukunftsperspektiven, dürfte noch den abgebrühtesten Prozessrechtsexperten zum Staunen bringen.

Im Mittelpunkt des Buches steht die Unterscheidung zwischen zwei sogenannten "Dispositiven", die bei der Entstehung der Gerichtsverhandlung in der Antike Modell standen und ihre Gestalt bis heute prägen: Theater und Kampfarena. Auf der einen Seite geht es beim Gerichthalten darum, die unsägliche Tat zur Sprache zu bringen, das Drama des Verbrechens auf der Bühne des Gerichtssaals zu inszenieren, gemäß den Ritualregeln des Prozessrechts, mit dem Ziel, herauszufinden, was sich zugetragen hat. Auf der anderen Seite geht es um das Urteilen, um Sieg oder Niederlage, um Anklage und Verteidigung, um den öffentlich geführten Kampf darum, wer seine Sicht der Dinge als Wahrheit durchsetzen kann. Im einen Fall handelt es sich um ein Gericht im uns geläufigen Sinn, im anderen um ein Tribunal.

Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Dispositiven, so Cornelia Vismann, bewegt sich die Justiz bis heute. Und hier kommen die Medien ins Spiel: Das theatrale Dispositiv hängt davon ab, dass auf der Bühne des Gerichts gesprochen wird. Die erlösende Aufführung des Verbrechens findet unter Anwesenden statt, unter der Regie des Richters, der bestimmt, was gezeigt wird und was nicht. In dem Maß, in dem technische Medien Dinge in den Gerichtssaal hinein oder aus ihm heraus transportieren, verliert die Regie die Kontrolle und das Kammerspiel seine Geschlossenheit. Übrig bleibt ein spannender Kampf im Stadionrund der Öffentlichkeit.

In dieser medienwissenschaftlichen Betrachtungsweise, und das gehört zu den besonderen Stärken dieses bemerkenswerten Buches, treten plötzlich scheinbare Details ins Blickfeld, die kein Jurist jemals bemerken würde, und eröffnen die überraschendsten Schlussfolgerungen: der Tisch beispielsweise. In jedem Gerichtssaal steht einer, fest installiert, unverrückbar. Hinter ihm sitzen die Richter, vor ihm die Prozessbeteiligten, auf ihm liegen die Beweismittel, Akten usw. Was hat es auf sich mit diesem Möbel? Er schafft den Zwischenraum, der den Richter von den Parteien trennt und so aus ihrem antagonistischen Gegenüber eine Dreieckskonstellation von Rechtssuchenden und -gewährenden macht – und aus einem Tribunal ein Gericht.

Die Unterscheidung zwischen theatraler und agonaler (also Kampf-)Disposition hat aber auch handfeste rechtspolitische Folgen. Besonders eindrucksvoll demonstriert Cornelia Vismann dies anhand des Internationalen Jugoslawien-Tribunals. Dieses sei, anders als der Name vermuten lasse, als "Gericht" und nicht als "Tribunal" konzipiert: Es soll herausfinden, ob und welche Schuld ein individueller Angeklagter auf sich geladen hat. Die Medien, deren es sich bedient, seien aber die des Tribunals: Alles wird live übertragen, die ganze Welt schaut zu beim Kampf des neuen und des alten Regimes darum, wer seine Wahrheitsversion in der Öffentlichkeit etablieren kann. "Ein Tribunal, das keines sein will (...), und ein Gericht, das keines ist (....)": Selten wurde das Dilemma der neuen internationalen Strafjustiz so klug und präzise formuliert.

Besprochen von Maximilian Steinbeis

Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung
Herausgegeben von Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
456 Seiten, 22,95 Euro
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