Nicht die wahre Justiz

Von Rüdiger Warnstädt · 06.06.2011
Gern wird vergessen: Die Justiz hat genügend Öffentlichkeit. Sie führt die meisten Prozesse öffentlich durch, was, denke ich manchmal, viel zu wenig bekannt ist. Wer also wirklich interessiert ist an "echten" Verhandlungen, der kann kommen und sehen und hören und staunen, und das alles kostenlos.
Und wem das nicht möglich oder zu beschwerlich ist, der kann Zeitungen lesen und Radio hören, dort berichten Gerichtsberichterstatter, die meist ganz ausgezeichnete Justizkenner sind und daher nicht nur klipp und klar und auch verständlich berichten können, sondern gleich auch noch zutreffend einordnen und kommentieren. Das genügt völlig an Öffentlichkeit, mehr ist absolut nicht nötig.

Gerichtsverhandlungen eignen sich nicht für Übertragungen durch Radio und Fernsehen, weil eine Gerichtsverhandlung ein empfindliches und zerbrechliches Unternehmen ist, für alle Beteiligten geistig und menschlich schwierig zu bewältigen.

Gibt es Publikum, wird es noch schwieriger, ich bin da Kenner, ich hatte nämlich zu meiner Freude immer besonders viel Publikum, weil meine Hauptverhandlungen, wie eine große Zeitung einmal schrieb, etwas Theatralisches hatten, wobei es aber eigentlich nur so war, dass meine Hauptverhandlungen lebendiger als üblich waren, weil ich in ihnen den Menschen, nicht den Akten, die absoluten Hauptrollen zuwies.

Ich mag also Publikum, aber ich weiß auch, Publikum übt allein durch seine Anwesenheit auf alle Verfahrensbeteiligten Einfluss aus. Nicht umsonst gibt es Situationen, in denen es ausgeschlossen werden kann und muss. Publikum macht Schüchterne noch schüchterner, Eitle noch aufdringlicher, vor Publikum wirken falsche Worte und schiefe Formulierungen noch falscher und noch schiefer und sind unangenehme oder verfängliche Situationen noch peinlicher oder beschämender. Da muss auf der Stelle heilend eingegriffen werden, was aber nur möglich ist, wenn alle, anwesendes Publikum eingeschlossen, alles und alle im Auge haben oder wenigstens haben können, wenn man also im überschaubaren Gerichtssaal sozusagen unter sich ist.

Durch Mikrofone und Kameras würde nun ein riesiges Publikum in den Gerichtssaal hineinschwappen, es ist zwar unsichtbar, aber gerade diese Unsichtbarkeit ist es, durch die die notwendige intime Stimmung flöten ginge. Im Gerichtssaal muss auch innegehalten, geschwiegen werden können, um ganz in Ruhe nachzudenken. Und man muss auch die Augen schließen dürfen, um entweder ganz in sein Inneres oder ganz in die Weite blicken zu können. Das alles erschließt sich nicht über Mikrofon und Kamera und weil die Mitwirkenden das natürlich spüren, werden sie das Nachdenken unterlassen und sich verpflichtet fühlen, den Rundfunkhörern und den Fernsehzuschauern unentwegt etwas vorzumachen oder vorzuplappern, womit die Verhandlung endgültig zu einem jener Massenereignisse hinuntergekocht würde, wo nicht Hirn und Geist, sondern die Quote regiert.


Rüdiger Warnstädt, Jurist, Autor, geboren 1938 in Berlin, Jura-Studium in Hamburg und an der Freien Universität, fünf Jahre Staatsanwalt in Berlin, Arbeit im Bonner Justizministerium, Justizsprecher und Justizpressestelle in Berlin, danach für 25 Jahre Strafrichter im Kriminalgericht Berlin-Moabit, veröffentlichte mehrere Bücher, u.a. die Urteilssammlung "Recht so", seine Lebens- und Berufserinnerungen "Herr Richter, was spricht er?" und die justizpolitischen Reisebetrachtungen "Ortstermine".